Verwaltungsrecht

Dublin-Verfahren (Italien)

Aktenzeichen  M 26 S 16.50922

Datum:
9.1.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 29 Abs. 1 S. 1, § 34a Abs. 1 S. 1
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 2 lit. g, Art. 3 Abs. 2 UAbs. 2, Art. 11, Art. 18 Abs. 1 lit. b, Art. 23 Abs. 2, Art. 25 Abs. 2

 

Leitsatz

Wegen der insoweit individualschützenden unionsrechtlichen Vorschrift des Schutzes von Ehe und Familie aus Art. 11 Dublin III-VO bleibt es der Klärung im Hauptsacheverfahren vorbehalten zu entscheiden, ob Italien für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist, weil der Antragsteller einen minderjährigen Sohn hat, der ebenfalls in der Bundesrepublik Deutschland ein Asylverfahren betreibt. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers vom 25. Oktober 2016 (M 26 K 16.50921) gegen die Nr. 3 des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 13. Oktober 2016 wird angeordnet.
II.
Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt vorläufigen Rechtsschutz gegen die ihm drohende Überstellung nach Italien im Rahmen des sogenannten Dublin-Verfahrens.
Der Antragsteller ist laut eigenen Angaben nigerianischer Staatsangehöriger. Bei seiner Erstbefragung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) der Antragsgegnerin am … Juni 2016 gab er an, über Italien im August 2015 in das Bundesgebiet eingereist zu sein und stellte einen Asylerstantrag. Weiter gab er an, zuvor seit ca. 2011 in Italien gelebt und keine Familienangehörigen in Deutschland oder einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union zu haben. Eine durch das Bundesamt am selben Tag durchgeführte Eurodac-Abfrage ergab, dass der Antragsteller in Italien am … September 2009 einen Asylantrag gestellt hat (Eurodac-Nr. …). Am … Juli 2016 wurde der Antragsteller laut Behördenakte zudem gemäß § 25 Asylgesetz – AsylG – und informatorisch bzgl. der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 2 Verwaltungsverfahrensgesetz – VwVfG – angehört. In diesem Rahmen gab der Antragsteller an, dass seine Exfrau und der gemeinsame Sohn … ebenfalls in Deutschland leben würden. Deren Aufenthaltsstatus kenne er aber nicht, weil kein Kontakt bestehen würde. Am … Juli 2016 fand auch die Zweitbefragung anlässlich des Dublinverfahrens statt. Ein vom Bundesamt am … August 2016 an Italien gerichtetes Ersuchen um Übernahme des Asylverfahrens des Antragstellers blieb bisher unbeantwortet.
Mit am … Oktober zugestelltem Bescheid vom 13. Oktober 2016 lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab (Nr. 1 des Bescheides), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 des Aufenthaltsgesetzes – AufenthG – nicht vorliegen würden (Nr. 2), ordnete die Abschiebung des Antragstellers nach Italien an (Nr. 3) und befristete das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gem. § 11 Abs. 1 AufenthG auf a… Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 4).
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass gemäß Art. 18 Abs. 1 lit. b der Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist – Dublin III-VO – Italien für die Bearbeitung des Antrags auf internationalen Schutz zuständig sei. Folglich sei nach § 29 Abs. 1 Nr. 1 AsylG auch der gestellte Asylantrag unzulässig und werde nicht materiell geprüft. Abschiebungsverbote würden nicht greifen. Weder liege ein Verbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i. V. m. Art 3 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutz der Menschenrechte und Grundrechte – EMRK – vor, noch sei eine individuelle, erhebliche und konkrete Gefahr für Leib, Leben und Freiheit durch die Abschiebung gegeben. Außergewöhnliche humanitäre Gründe für die Antragsgegnerin, von ihrem Selbsteintrittsrecht gemäß Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO Gebrauch zu machen, seien nicht ersichtlich. Die Anordnung der Abschiebung basiere auf § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG, die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots auf §§ 75 Nr. 12, 11 Abs. 2 AufenthG, wobei letztere mangels schutzwürdiger Belange gemäß § 11 Abs. 4 AufenthG nicht kürzer auszugestalten gewesen sei.
Am … Oktober 2016 erhoben die Bevollmächtigten des Antragsteller Klage beim Bayerischen Verwaltungsgericht München gegen den Bescheid der Antragsgegnerin vom 13. Oktober 2016 und beantragten
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Zur Begründung wurde angeführt, dass das Asylsystem in Italien an systemischen Mängeln leide. Zudem habe der Kläger mit seiner mittlerweile getrennt lebenden Ehefrau den gemeinsamen 5 ½-jähriges Sohn …, welche bei seiner Mutter ebenfalls in Deutschland (Oberbayern) wohne. Der Antragsteller suche den Umgang mit seinem Kind, was aber von der Mutter bisher verhindert bzw. erschwert worden sei.
Mit Schriftsatz vom 10. November 2016 übermittelte das Bundesamt für die Antragsgegnerin die Behördenakte, stellte aber keinen Sachantrag.
Mit Beschluss vom 27. Dezember 2016 ordnete das zuständige Familiengericht (Amtsgericht A.) auf Antrag des Antragstellers eine Umgangspflegschaft für den Sohn … an.
Wegen weiterer Einzelheiten wird auf die Gerichtsakten in diesem Verfahren und im Hauptsacheverfahren (M 26 K 16.50921) sowie auf die vorgelegte Behördenakte ergänzend Bezug genommen.
II.
Der nach § 34a Abs. 2 Satz 1 und § 75 Abs. 1 AsylG i. V. m. § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3, Abs. 5 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO – zulässige Antrag auf Gewährung einstweiligen Rechtsschutzes, über den nach § 76 Abs. 4 Satz 1 AsylG vorliegend vom Einzelrichter entschieden wird, ist begründet. Der Antragsteller darf aufgrund offener Erfolgsaussichten der Hauptsacheklage und seinem das öffentliche Interesse der Antragsgegnerin an der Rückführung überwiegenden Interesse auf aufschiebende Wirkung derzeit nicht nach Italien abgeschoben werden.
1. Im Rahmen eines Antrags gemäß § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht der Hauptsache die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen, indem es eine eigene Ermessensentscheidung trifft. Es hat dabei abzuwägen zwischen dem sich aus § 75 AsylG ergebenden öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollziehung der Abschiebungsanordnung und dem Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs. Ein gewichtiges Indiz sind dabei die Erfolgsaussichten des Hauptsacheverfahrens. Ergibt die im Rahmen des § 80 Abs. 5 VwGO allein erforderliche summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage, dass die Klage voraussichtlich erfolglos bleiben wird, tritt das Interesse des Antragstellers regelmäßig zurück. Erweist sich dagegen der angefochtene Bescheid schon bei kursorischer Prüfung als rechtswidrig, so besteht kein öffentliches Interesse an dessen sofortiger Vollziehung. Ist der Ausgang des Hauptsacheverfahrens nicht hinreichend absehbar, verbleibt es bei einer allgemeinen Interessenabwägung.
Im vorliegenden Fall sind die Erfolgsaussichten der vom Antragsteller erhobenen Klage offen. Denn es ist fraglich, ob der Bescheid der Antragsgegnerin vom 13. Oktober 2016 nach summarischer Prüfung in Bezug auf die angeordnete Abschiebung nach Italien gemäß § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG rechtmäßig ist (dazu 1.1). Eine allgemeine Interessenabwägung des Gerichts fällt zugunsten des Antragstellers aus (dazu 1.2).
1.1. Die Ablehnung des Asylantrags des Antragstellers als unzulässig (§ 29 AsylG) und folglich auch die erlassene Abschiebungsanordnung nach Italien (§34 AsylG) sind möglicherweise rechtswidrig und verletzen den Antragsteller möglicherweise in subjektiven Rechten. Es steht nicht fest, dass Italien gemäß den Art. 3, 7 ff. Dublin III-VO für die Durchführung des Asylverfahrens des Antragstellers zuständig ist. Denn der Antragsteller hat einen minderjährigen Sohn und damit einen Familienangehörigen i. S. v. Art. 2 lit. g Dublin III-VO in Deutschland. Sofern – was dem Gericht derzeit nicht bekannt und daher Gegenstand des Hauptsacheverfahrens ist – die Asylverfahren der Mutter und des gemeinsamen Sohnes in Deutschland durchgeführt werden, könnte gemäß Art. 11 Dublin III-VO die Antragsgegnerin auch für das Asylverfahren des Antragstellers zuständig sein. Darauf kann sich der Antragsteller auch erfolgreich berufen, weil die einschlägigen Regelungender Dublin III-VO, insbesondere Art. 11 Dublin III-VO, insoweit individualschützenden Charakter aufweisen (vgl. dazu BayVGH, U. v. 3.12.2015 – 13a B 15.50124 – juris).
1.2 Somit verbleibt es bei einer allgemeinen Interessenabwägung durch den erkennenden Einzelrichter. Das Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seiner Klage überwiegt dabei das öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung des streitgegenständlichen Bescheids. Denn würde der Sofortvollzug in Kraft bleiben und auf dieser Basis eine Abschiebung tatsächlich durchgeführt, käme es trotz offener Erfolgsaussichten der Hauptsache rein faktisch wohl zu einem nicht oder nur unter erheblichen Schwierigkeiten revidierbaren Zustand. Ein solches Vorgehen würde den Grundsätzen des effektiven Rechtsschutzes (Art. 19 Abs. 4 Grundgesetz) widersprechen. Das Interesse der Antragsgegnerin am sofortigen Vollzug ihres Bescheides vom 13. Oktober 2016 muss daher zurücktreten.
2. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO; Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG)

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