Verwaltungsrecht

Ein asylverfahrensakzessorisches Aufenthaltsrecht steht einer Auslieferung des Asylbewerbers nicht entgegen.

Aktenzeichen  M 2 E 22.30761

Datum:
31.3.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 9752
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 123

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller trägt die Kosten des Verfahrens.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt, seine bevorstehende Auslieferung in seinen Herkunftsstaat zum Schutz der Durchführung seines Asylverfahrens vorläufig zu untersagen.
Der Antragsteller ist albanischer Staatsangehöriger, der sich in Auslieferungshaft befindet. Sein Heimatstaat hat gegen ihn einen Auslieferungshaftbefehl (Haftbefehl Nr. 45 des Besonderen Gerichts gegen Korruption und organisierte Kriminalität vom 30.6.2021) ausgestellt.
Der Antragsteller beantragte am 29. Juli 2021 förmlich Asyl. Nach Anhörung lehnte das Bundesamt mit Bescheid vom 13. Dezember 2021 die Anträge auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), auf Asylanerkennung (Nr. 2) und auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (Nr. 3) als offensichtlich unbegründet ab und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 Aufenthaltsgesetz (AufenthG) nicht vorliegen (Nr. 4).
Eine Abschiebungsandrohung erging nicht, weil der Antragsteller im Besitz eines Aufenthaltstitels ist.
Gegen den Bescheid erhob der Antragsteller am 3. Januar 2022 Klage beim Bayerischen Verwaltungsgericht München und beantragte, den Bescheid aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, den Antragsteller als Asylberechtigten anzuerkennen, dem Antragsteller die Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen, sowie, ebenfalls hilfsweise, festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 AufenthG vorliegen (M 2 K 22.30007).
Mit Beschluss vom 9. Februar 2022 (1 AR 205/21) ordnete das Oberlandesgericht München die Fortdauer der Auslieferungshaft an (Nr. I) und erklärte die Auslieferung des Antragstellers nach Albanien zur Strafverfolgung wegen des im Haftbefehl vom 30. Juni 2021 niedergelegten Sachverhalts für zulässig (Nr. III).
Nachdem der Antragsteller von einer bevorstehenden Auslieferung (zum 1. April 2022, 9:20 Uhr) erfahren hat, beantragte sein Bevollmächtigter sinngemäß,
im Wege der einstweiligen Verfügung anzuordnen, dass der Antragsteller berechtigt ist, sich bis zum rechtskräftigen Abschluss des Asylverfahrens im Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland aufzuhalten und bis dahin nicht nach Albanien ausgeliefert werden darf.
Die Beklagte erhielt kurzfristig Gelegenheit, sich zum Eilantrag zu äußern. Eine Äußerung erfolgte nicht.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die vorgelegte Behördenakte und die Gerichtsakte Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO ist unbegründet. Der Antragsteller hat keinen Anordnungsanspruch glaubhaft gemacht.
I. Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Der Antragsteller hat demnach sowohl die besondere Eilbedürftigkeit (Anordnungsgrund) als auch das Bestehen eines zu sichernden Rechts (Anordnungsanspruch) glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2, § 294 Zivilprozessordnung – ZPO).
II. Vorliegend hat der Antragsteller nicht glaubhaft gemacht, dass er einen Anspruch auf Verbleib im Hoheitsgebiet der Bundesrepublik Deutschland während seines asylgerichtlichen Verfahrens hat, wenn eine Auslieferung nach den Vorschriften des Gesetzes über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen (IRG) für zulässig erklärt wurde.
Auslieferungsrecht und (asyl-)verfahrensrechtliches Aufenthaltsrecht sind zu unterscheiden und bedingen einander nicht, auch wenn sie normativ teilweise verflochten sind.
1. Eine Auslieferung ist die Überstellung einer Person, die im Ausland einer Straftat verdächtig ist, an einen Drittstaat (vgl. § 2 Abs. 1 IRG; Meyer-Ladewig/ Schuster in Meyer-Ladewig/Nettesheim/von Raumer, EGMR, 4. Auflage 2017, Anhang Art. 8 EMRK, Rn. 4). Sie ist eine Rechtshilfemaßnahme und zielt auf eine Unterstützung der Rechtspflege des Staates, der darum ersucht (vgl. Becker von Mangoldt/Klein/Starck, GG, 7. Aufl. 2018, Art. 16 Rn. 66). Das Asylverfahren ist demgegenüber ein Verwaltungsverfahren, das der Prüfung von Anträgen auf Zuerkennung der in § 1 Abs. 1 AsylG genannten Rechtsstellungen und der Entscheidung über sie dient. Im Rahmen dieses Verwaltungsverfahrens hat der Asylantragsteller grundsätzlich ein verfahrensakzessorisches Aufenthaltsrecht (im herkömmlichen Fall: § 55 Abs. 1 Satz 1 AsylG, vgl. Marx, Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht, 7. Aufl. 2020, § 9 Rn. 27).
2. Verknüpft sind die beiden Regelungsmaterien nicht verfahrensrechtlich, in gewissem Umfang aber materiell. So regelt § 6 Satz 2 AsylG, dass die für die Prüfung des Auslieferungsersuchens zuständigen Behörden und Gerichte nicht an die Entscheidung des Bundesamtes über die Asylentscheidung gebunden sind. Für die Vorbereitung der Entscheidung über die Auslieferung sowie für deren Durchführung ist die Staatsanwaltschaft beim Oberlandesgericht zuständig (§ 13 Abs. 2 IRG). Die gerichtliche Entscheidung über die Auslieferung trifft das Oberlandesgericht (§ 13 Abs. 1 IRG). Dieses hat nach Maßgabe des § 6 Abs. 2 IRG allerdings auch asylrechtlich relevante Verfolgung – als materiellen Maßstab – zu berücksichtigen (vgl. Pelzer in Decker/Bader/Kothe, BeckOK Migrations- und Integrationsrecht, 10. Ed., Stand: 15.01.2022, § 6 Rn. 11).
Das mögliche Spannungsverhältnis der Auslieferung zu aufenthaltsrechtlichen bzw. aufenthaltsbeendenden Maßnahmen wird durch § 60 Abs. 4 AufenthG – temporär – zugunsten des Auslieferungsrechts aufgelöst. Die Norm begründet ein zeitweiliges (formales) Abschiebungsverbot während eines laufenden Auslieferungsverfahrens bis zu seinem Abschluss oder bis zu einer vorherigen Zustimmung der für die Bewilligung der Auslieferung zuständigen Stelle, um den Vorrang einer Auslieferung vor einer Abschiebung abzusichern (vgl. Koch in Kluth/Heusch, BeckOK AuslR, 32. Ed. 1.7.2020, AufenthG, § 60 Rn. 31).
Schon diese grundsätzliche Trennung der Verfahren und ihre (nur) vorübergehende Verknüpfung zugunsten des Auslieferungsrechts spricht dafür, dass eine Auslieferung nicht durch das asylspezifische verfahrensabhängige Aufenthaltsrecht gehindert wird.
3. Auch ein Vergleich der Funktionen der Regelungsbereiche zeigt, dass eine Auslieferung nicht durch das asylverfahrensakzessorische Aufenthaltsrecht gehindert werden kann. Das Recht des Asylantragstellers auf Aufenthalt während des Asylverfahrens dient dazu, dass er seinen behaupteten Asylanspruch ohne unzumutbare Erschwernisse geltend machen und verfolgen können soll (vgl. Marx, Aufenthalts-, Asyl- und Flüchtlingsrecht, 7. Aufl. 2020, § 9 Rn. 27). Es werden also vereitelnde staatliche Maßnahmen ausgeschlossen: es soll nicht möglich sein, denjenigen, der ein Aufenthaltsrecht erstrebt mit dem Hinweis darauf, es liege noch kein Aufenthaltsrecht vor, den vorübergehenden Aufenthalt hier zu verweigern und den Aufenthalt im Verfolgerstaat zu erzwingen.
Mit dieser Funktion konfligiert eine Auslieferung nicht. Die Auslieferung ist keine staatliche Reaktion auf einen „an sich“ nicht zulässigen Aufenthalt, sondern sie ist eine Rechtshilfemaßnahme und zielt auf eine Unterstützung der Rechtspflege eines anderen Staates. Von diesem Ersuchen können – grundsätzlich – alle Menschen, gleich ob es sich um Deutsche (vgl. Art. 16 Abs. 2 Satz 2 GG), um Ausländer mit einem Aufenthaltstitel nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AufenthG, um Asylbewerber oder um Personen, die sich illegal aufhalten, betroffen sein. Folgerichtig führt eine Auslieferung grundsätzlich auch nicht zum Erlöschen eines Aufenthaltstitels wegen nicht nur vorübergehenden Ausreise (vgl. BVerwG, U.v. 17. 1. 2012 − 1 C 1/11).
Asylrechtliches Aufenthaltsrecht und Auslieferung schließen sich daher nicht aus. Vor diesem Hintergrund kann der berechtigte Aufenthalt des Antragstellers im Bundesgebiet durch eine Auslieferung beendet werden, ohne dass er hierdurch in seinen Verfahrensrechten verletzt wäre. Ein Anordnungsanspruch scheidet aus.
III. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
IV. Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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