Verwaltungsrecht

Erfolglose Aufstockungsklage eines syrischen Staatsangehörigen

Aktenzeichen  M 5 K 16.35532

Datum:
14.9.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 23839
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3, § 28 Abs. 1a

 

Leitsatz

1 Die Stellung eines Asylantrags und der Aufenthalt in Deutschland rechtfertigen nicht die Furcht, dass syrische staatliche Stellen den Asylbewerber bei einer Rückkehr in die Arabische Republik Syrien über den Flughafen Damaskus oder eine andere staatliche Kontrollstelle als Oppositionellen betrachten und ihn deshalb wegen einer unterstellten politischen Überzeugung verfolgen würden.  (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
2 Allein der Umstand, dass die reguläre Höchstaltersgrenze für die Einziehung zum Militärdienst in der Praxis möglicherweise vereinzelt nicht beachtet wird, vermag eine beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung wegen Wehrdienstentziehung nicht zu begründen. (Rn. 14 – 20) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte zuvor Sicherheit in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Gründe

Die zulässige Klage ist unbegründet. Der Kläger hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne des § 3 Abs. 4, Abs. 1 des Asylgesetzes (AsylG), § 113 Abs. 5 Satz 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO). Der streitgegenständliche Bescheid ist in Nr. 2 rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.
1. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (BGBl. 1953 II S. 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Nicht entscheidungserheblich ist dabei, ob der Ausländer vorverfolgt aus seinem Herkunftsland ausgereist ist, denn eine begründete Furcht vor Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Schutzsuchende das Herkunftsland verlassen hat (§ 28 Abs. 1a AsylG).
Eine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG liegt vor, wenn dem Kläger bei verständiger (objektiver) Würdigung der gesamten Umstände mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung droht. Der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei zusammenfassender Würdigung des zur Prüfung stehenden Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25/10 – juris Rn. 24; B.v. 7.2.2008 – 10 C 33/07 – juris Rn. 23; U.v. 5.11.1991 – 9 C 118/90 – juris Rn. 17).
2. Gemessen an diesen Kriterien hat der Kläger keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Die Voraussetzungen des § 3 AsylG lagen bei ihm weder zum Zeitpunkt seiner Ausreise vor, noch ergeben sie sich aus nachträglich eingetretenen Umständen.
a) Der Kläger ist unverfolgt aus Syrien ausgereist. Allein die seitens des Klägers vorgetragene einmalige (wohl staatliche) Kontrolle und anschließende körperliche Drangsalierung begründen keine Verfolgungshandlung i.S.d. § 3a AsylG aufgrund eines Verfolgungsgrundes i.S.d § 3b AsylG.
b) Auch ein Nachfluchtgrund besteht nicht allein deshalb, weil der Kläger aus Syrien ausgereist ist, in der Bundesrepublik Deutschland Asyl beantragt und sich seitdem hier aufgehalten hat. Diese Umstände rechtfertigen nicht die begründete Furcht, dass syrische staatliche Stellen den Kläger bei einer Rückkehr in die Arabische Republik Syrien über den Flughafen Damaskus oder eine andere staatliche Kontrollstelle als Oppositionelle betrachten und ihn deshalb wegen einer unterstellten politischen Überzeugung verfolgen würden (so ausdrücklich BayVGH, U.v. 20.06.2018 – 21 B 18.30825 – BeckRS 2018, 18510 Rn. 23 ff.; U.v. 12.12.2016 – 21 B 16.30364 – juris Rn. 28 ff; ebenso: OVG NW, B.v. 06.10.2016 – 14 A 1852/16.A – juris Rn. 14; U.v. 21.02.2017 – 14 A 2316/16.A – juris Rn. 47 ff.; OVG SH, U.v. 23.11.2016 – 3 LB 17.16 – juris Rn. 37; OVG RhPf, U.v. 16.12.2016 – 1 A 10922/16 – juris Rn. 16; anderer Ansicht und überholt: OVG LSA, U.v. 18.07.2012 – 3 L 147/12 – juris; VGH BW, B.v. 19.06.2013 – A 11 S 927/13 – juris; OVG Berlin-Bbg, B.v. 09.01.2014 – OVG 3 N 91.13 – juris; HessVGH, B.v. 27.01.2014 – 3 A 917/13.Z.A. – juris).
c) Ebenso ist aufgrund des Alters des Klägers nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass ihm im Falle einer hypothetischen Rückkehr nach Syrien im Hinblick auf eine Entziehung vom Militärdienst wegen einer unterstellten oppositionellen Gesinnung politische Verfolgung droht. Der Kläger wurde im Jahr 1970 geboren und war damit bei seiner Ausreise aus Syrien im Oktober 2015 bereits 45 Jahre alt, mittlerweile ist er 48 Jahre alt. Die allgemeine Wehrpflicht in Syrien besteht nach dem Gesetz ab 18 Jahren bis zum Alter von 42 Jahren. Der Kläger hat sich deshalb durch seine Ausreise und den Aufenthalt im Ausland nicht dem Militärdienst entzogen. Nach der Erkenntnislage im Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts wird das für Beginn und Ende der Wehrpflicht maßgebende Alter von 18 bis 42 Jahren von den syrischen staatlichen Stellen im Allgemeinen beachtet (ebenso BayVGH, U.v. 20.06.2018 – 21 B 18.30825 – BeckRS 2018, 18510 Rn. 40 ff.). Allein der Umstand, dass die reguläre Höchstgrenze in der Praxis möglicherweise vereinzelt nicht beachtet wird, vermag den Grad der hier erforderlichen beachtlichen Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung des Klägers nicht zu begründen.
Im Einzelnen ist hierzu auszuführen:
Das System der Wehrpflicht in Syrien beruht nach den vorliegenden Erkenntnissen auf folgenden Grundsätzen: In Syrien besteht eine gesetzliche allgemeine Wehrpflicht ab 18 bis zum Alter von 42 Jahren. Männliche Personen zwischen 18 und 42 Jahren, die ihren Wehrdienst abgeleistet haben, können im Kriegsfall oder im Falle einer Erklärung eines Ausnahmezustands als Reservisten wieder einberufen werden. Die syrische Regierung hat bereits im März 2012 beschlossen, dass die Ausreise für alle männlichen Staatsangehörigen im Alter von 18 bis 42 Jahren untersagt bzw. nur nach einer zuvor erteilten Genehmigung gestattet ist, auch wenn diese bereits den Wehrdienst abgeleistet haben. Die Aufforderung sich zum Dienst zu melden, erfolgt mündlich, die schriftliche Benachrichtigung wird nicht ausgehändigt. Die Betreffenden können aber auch an Kontrollpunkten eingezogen werden (vgl. insgesamt hierzu: Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Rekrutierung durch die syrische Armee v. 30.07.2014; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee v. 28.03.2015; BFA Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Syrien, Gesamtaktualisierung v. 05.01.2017).
Die erheblichen Verluste auf Seiten des syrischen Militärs führten dazu, dass das syrische Regime im Verlaufe des Krieges die Mobilisierungsmaßnahmen für Rekruten und Reservisten insbesondere seit 2014 erheblich intensiviert hat. Zudem kommt es zu Verhaftungswellen von Deserteuren und Männern, die sich bis dahin dem Militärdienst entzogen haben. Dabei sind auch Fälle von Folter dokumentiert. Aufgrund von Todesfällen, Überläufern und Militärdienstentziehern hat die syrische Regierung ein hohes Interesse daran, die personellen Kapazitäten ihrer Streitkräfte zu stärken (vgl. UNHCR, Relevante Herkunftslandinformationen zur Unterstützung der Anwendung des UNHCR-Länderleitfadens für Syrien v. Februar 2017, S. 24 und Fn. 117).
Einige Quellen verweisen dementsprechend allgemein darauf, dass das Höchstalter für den Reservedienst erhöht worden sei. Im „Fact Finding Mission Report 2017“ des österreichischen Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl heißt es mit Verweis auf die Befragung einer europäischen diplomatischen Quelle (Beirut, 18.05.2017), die Altersgrenze sei „auf beiden Seiten“ (18 Jahre/42 Jahre) nur theoretisch und jeder Mann in einem im weitesten Sinn wehrfähigen Alter könne rekrutiert werden (vgl. S. 18 des Reports). Allerdings benennen die Quellen, die von einer Erhöhung des Höchstdienstalters für Reservisten über das 42. Lebensjahr hinaus ausgehen, die vermeintlich neue Höchstaltersgrenze nicht einheitlich oder jedenfalls mehrheitlich übereinstimmend. Beispielsweise verweist das Auswärtige Amt auf Quellen (ACCORD), wonach die Wehrpflicht in der Praxis bis zum 50. Lebensjahr ausgeweitet werde (Auswärtiges Amt, Auskunft an das VG Düsseldorf v. 02.01.2017). Nach anderen Angaben (Professor Hanafi, American University of Beirut, 27. April 2016) können Reservisten bis zum 45. Lebensjahr herangezogen werden. Laut Schweizerischer Flüchtlingshilfe (Schweizerische Flüchtlingshilfe, Syrien: Vorgehen der syrischen Armee bei Rekrutierung, 18.01.2018, S. 6 und Fn. 51) gingen vom Danish Immigration Service befragte Quellen davon aus, dass Männer über 42 Jahren als Reservisten eingezogen werden. Der Danish Refugee Council verweist auf zwei Quellen, denen zufolge das Reservedienstalter inzwischen bei 50 Jahren liege. Vereinzelt gäbe es Berichte, dass Männer bis Mitte vierzig bzw. bis zum 50. Lebensjahr eingezogen werden würden (Danish Refugee Council, Syria: Recruitment Practices in Governmentcontrolled Areas and in Areas under Opposition Control, Involvement of Public Servants and Civilians in the Armed Conflict and Issues Related to Exiting Syria, 5/2017, August 2017, S. 12). Der Finnish Immigration Service erwähnt Prof. Hanafi (s.o.) und verweist u.a. auf eine internationale Organisation als Quelle dafür, dass das Reservedienstalter von Fall und Bereich abhänge und zwischen 50 und 60 Jahren variieren könne (Finnish Immigration Service, Fact-Finding Mission Report – Syria, 23. August 2016, S. 11). Es heißt aber auch, dass die Quellen nicht angeben, welches maximale Höchstalter für die Rekrutierung gelte. Es sei möglich, dass Männer über 42 Jahren in die Armee rekrutiert werden, eine offizielle Regel und auch ein offizielles Höchstalter gäbe es nicht (Finnish Immigration Service, Fact-Finding Mission Report – Syria, 23. August 2016, S. 8).
Allerdings sprechen zahlreiche Berichte gegen die Annahme, dass der syrische Staat die gesetzlichen Altersgrenzen bei der Rekrutierung syrischer Männer für den Militärdienst allgemein missachtet. Einzelnen Berichten zufolge soll die Altersgrenze für den Reservedienst erhöht werden, wenn die betreffende Person bestimmte Qualifikationen aufweise, beispielsweise als Arzt, Panzerfahrer, Luftwaffenpersonal, Artilleriespezialist oder Ingenieure für Kampfausrüstung eingesetzt werden könne (vgl. UNHCR, Relevante Herkunftslandinformationen zur Unterstützung der Anwendung des UNHCR-Länderleitfadens für Syrien vom Februar 2017, S. 24 Fn. 118 unter Verweis auf Christopher Kozak, Research Analyst beim Institute for the Study of War; „Fact Finding Mission Report Syrien“ des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, August 2017, S. 22 unter Bezugnahme auf den UNHCR, Fn. 63). Im Umkehrschluss folgt daraus, dass jenseits dieses Qualifikationsprofils kein Anhalt für eine Missachtung der für den Reservedienst geltenden Altersgrenze besteht. Zudem ist laut UNHCR unklar, ob die Einberufung von Männern über 42 Jahren mit spezifischen Fachkenntnissen als Teil der Regierungspolitik zu werten sei oder ob sie stattdessen lediglich von Fall zu Fall geschehe. Es könne sein, dass die Kommandanten auf lokaler Ebene von den bestehenden Regelungen bezüglich der Altersgrenze abgewichen seien (vgl. Danish Refugee Council, Syria: Recruitment Practices in Governmentcontrolled Areas (…), August 2017, S. 12). Anderen Quellen zufolge würden die Behörden nur Männer der Altersgruppen von 18 bis 42 Jahren einberufen und Männer über 42 Jahre könnten auf freiwilliger Basis der Armee beitreten. Eine Quelle geht davon aus, dass Berichte über die Einberufung von Männern über 42 Jahren zur syrischen Armee hauptsächlich „Gerüchte“ gewesen seien (vgl. Danish Refugee Council, Syria: Recruitment Practices in Governmentcontrolled Areas (…), August 2017, S. 13).Dem Syrian Network for Human Rights zufolge, auf das der UNHCR verweist, richtet sich die Rekrutierung am gesetzlichen Wehrdienstalter aus. Willkürliche Festnahmen im April 2017 seien bezeichnend für die seitens der syrischen Sicherheitskräfte durchgeführten Razzien gewesen; festgenommen worden seien „zwecks Wehrpflicht hauptsächlich 18 bis 42-Jährige“ (vgl. UNHCR, Auskunft an den HessVGH vom 30. Mai 2017, S. 2 Rn. 8). In Gebieten, welche die Streitkräfte der Regierung zurückerobert haben, seien Männer im Wehrpflicht- oder Reservedienstalter in großer Zahl festgenommen und in die syrische Armee eingezogen worden (vgl. UNHCR-Erwägungen 2017, S. 44 f.).
Für eine grundsätzliche Beachtung der gesetzlichen Militärdienstaltersgrenzen spricht zudem, dass eine für Männer erforderliche Ausreisegenehmigung der Rekrutierungsbehörde an das Militärdienstalter anknüpft (vgl. UNHCR, Relevante Herkunftslandinformationen zur Unterstützung der Anwendung des UNHCR-Länderleitfadens für Syrien vom Februar 2017, S. 26; Auswärtiges Amt, Auskunft an das OVG Hamburg vom 02.02.2018).
3. Die Klagepartei hat als unterlegene Beteiligte nach § 154 Abs. 1 VwGO die Kosten des Verfahrens zu tragen. Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11 Alt. 2, 711 Zivilprozessordnung (ZPO).


Ähnliche Artikel

Bankrecht

Schadensersatz, Schadensersatzanspruch, Sittenwidrigkeit, KapMuG, Anlageentscheidung, Aktien, Versicherung, Kenntnis, Schadensberechnung, Feststellungsziele, Verfahren, Aussetzung, Schutzgesetz, Berufungsverfahren, von Amts wegen
Mehr lesen

IT- und Medienrecht

Abtretung, Mietobjekt, Vertragsschluss, Kaufpreis, Beendigung, Vermieter, Zeitpunkt, Frist, Glaubhaftmachung, betrug, Auskunftsanspruch, Vertragsurkunde, Auskunft, Anlage, Sinn und Zweck, Vorwegnahme der Hauptsache, kein Anspruch
Mehr lesen


Nach oben