Verwaltungsrecht

Erfolgloser Abschluss eines Asylverfahrens im Drittstaat bei einem Zweitantrag

Aktenzeichen  M 21 S 17.43756

Datum:
15.1.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 203
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 71a Abs. 1, Abs. 4, § 29 Abs. 1 Nr. 5, § 34, 36 Abs. 4 S. 1
Dublin II-VO Art. 21
Dublin III-VO Art. 34

 

Leitsatz

Bei der Prüfung nach § 71a Abs. 1 AsylG, ob ein erfolgloser Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat vorliegt, darf sich das Bundesamt nicht allein auf die Angaben der Antragsteller zum Verlauf von Asylverfahren in anderen Mitgliedstaaten stützen. Mit dem vom Bundesamt grundsätzlich zu nutzenden, sogenannten Info-Request nach Art. 21 Dublin II-VO bzw. Art. 34 Dublin III-VO ist unter den Mitgliedstaaten ein beschleunigtes Informationsaustauschsystem eingeführt worden, dessen Möglichkeiten zur Informationsgewinnung den Verwaltungsgerichten nicht offen stehen. (Rn. 18 – 19) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die in Ziffer 3. des Bescheids des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 24. Mai 2017 enthaltene Abschiebungsandrohung wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
Der Antragsteller, der bislang weder Personalpapiere noch andere Identitätsnachweise seines Herkunftslands vorlegte, ist nach eigenen Angaben ein lediger, in Edda geborener Staatsangehöriger der Bundesrepublik Nigeria.
Er stellte am 15. Mai 2014 bei der Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (kurz: Bundesamt) in München einen Asylantrag.
Zur Niederschrift über das persönliche Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zur Durchführung des Asylverfahrens gab der Antragsteller am 15. Mai 2014 gegenüber dem Bundesamt insbesondere an, in Italien sei ihm im August 2011 antragsgemäß Asyl zuerkannt worden.
Die EURODAC-Recherche hinsichtlich des Antragstellers ergab einen Treffer (IT1BZ01JZN).
In der Bundesamtsakte (Bl. 49 f. der Bundesamtsakte) befindet sich die Kopie eines auf den Antragsteller am 26. Juli 2013 ausgestellten und bis 11. Juli 2014 gültigen italienischen Aufenthaltstitels aus humanitären Gründen (permesso di soggiorno, motivi umanitari).
Zur Niederschrift über seine Anhörung bei der Außenstelle des Bundesamts in München am 5. September 2016 äußerte sich der Antragsteller zu seinem Verfolgungsschicksal und gab insbesondere an, in Italien Asyl beantragt und eine Aufenthaltserlaubnis für drei Jahre bekommen zu haben.
Am 24. November 2016 übermittelte das Bundesamt der zuständigen italienischen Behörde ein auf Art. 34 Verordnung (EG) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl EG Nr. L 180 S. 31) – Dublin III-VO – gestütztes Informationsersuchen, das die Republik Italien nicht beantwortete.
In einem Aktenvermerk vom 18. April 2017 hielt das Bundesamt insbesondere fest, aufgrund der aktuellen Problematik hinsichtlich des Nichtantwortens seitens Italiens werde nicht weiter auf eine Antwort auf das gestellte Informationsersuchen gewartet. Bereits aus den vorhandenen italienischen Personaldokumenten sei ersichtlich, dass der Antragsteller humanitären Schutz in Italien erhalten habe.
Mit Bescheid vom 24. Mai 2017 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Antragstellers als unzulässig ab (Ziffer 1.), verneinte Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG (Ziffer 2.) und drohte ihm mit einer Ausreisefrist von einer Woche die Abschiebung nach Nigeria an (Ziffer 3.). Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, durch Vorlage des italienischen Aufenthaltspapiers, permesso di soggiorno, habe der Antragsteller dem Bundesamt mitgeteilt, dass das Verfahren zur Prüfung seines Antrags auf internationalen Schutz in Italien erfolglos abgeschlossen worden sei. Das Personaldokument sei für die Feststellung des Abschlusses des Asylverfahrens in Italien schon alleine hinreichend aussagekräftig. Der vorliegende Asylzweitantrag sei daher im nationalen Verfahren zu bearbeiten. Ein Asylantrag sei unzulässig, wenn wie hier im Falle eines Antrags nach § 71a AsylG ein weiteres Asylverfahren nicht durchzuführen sei, § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG. Wiederaufgreifensgründe lägen nicht vor. Der Antragsteller habe keine Gründe vorgetragen, die nicht bereits zum Zeitpunkt der Entscheidung in Italien vorgelegen hätten. Abschiebungsverbote lägen nicht vor. Die Abschiebungsandrohung sei nach § 71a Abs. 4 AsylG i.V.m. § 34 Abs. 1 AsylG und § 59 AufenthG zu erlassen. Die Ausreisefrist von einer Woche ergebe sich aus § 71a Abs. 4 AsylG i.V.m. § 36 Abs. 1 AsylG.
Am 2. Juni 2017 ließ der Antragsteller beim Bayerischen Verwaltungsgericht München Klage erheben und beantragen, den Bundesamtsbescheid vom 24. Mai 2017 aufzuheben, hilfsweise, die Antragsgegnerin zu verpflichten, ihn als Asylberechtigten anzuerkennen und festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorliegen.
Über die Klage (M 21 K 17.43754) ist noch nicht entschieden.
Am 2. Juni 2017 ließ der Antragsteller beim Bayerischen Verwaltungsgericht München zugleich beantragen,
die aufschiebende Wirkung seiner Klage anzuordnen.
Zur Klage- und Antragsbegründung wurde durch Schriftsatz vom 2. Juni 2017 im Wesentlichen ausgeführt, die Antragsgegnerin gehe zu Unrecht von einem Zweitantrag aus. Allein aus dem Personaldokument zu schließen, dass das Asylverfahren abgeschlossen worden sei, sei nicht aussagekräftig. Der Antrag sei in Italien noch nicht abschließend bearbeitet worden. Auf Grundlage des Vortrags des Antragstellers sei davon auszugehen, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden drohe.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten zu Eil- und Klageverfahren und auf die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
II.
1. Der Eilantrag ist zulässig und begründet.
Wird in einer „Zweitantragssituation“ ein weiteres Asylverfahren nicht durchgeführt, so darf die Aussetzung der Abschiebung im Rahmen eines Eilverfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO wegen §§ 71a Abs. 4, 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts, hier der Abschiebungsandrohung, bestehen. Solche „ernstlichen Zweifel“ liegen dann vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – juris Rn. 99). Diese Einschätzung ist hier gerechtfertigt.
§ 34 AsylG, der den Erlass einer Abschiebungsandrohung regelt, ist über § 71a Abs. 4 AsylG nur dann entsprechend anzuwenden, wenn eine „Zweitantragssituation“ im Sinne des § 71a Abs. 1 AsylG vorliegt und ein weiteres Asylverfahren rechtmäßiger Weise nicht durchgeführt wird. Nur dann ist der Asylantrag auch nach § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG als unzulässig abzulehnen. Mangels hinreichender Sachverhaltsermittlung hat das Bundesamt hier jedoch schon keine „Zweitantragssituation“ im Sinne des § 71a Abs. 1 AsylG annehmen dürfen.
Ein asylrechtlicher Zweitantrag, der bei Fehlen neuen Vorbringens ohne Sachprüfung als unzulässig abgelehnt werden kann, setzt gemäß § 71a Abs. 1 AsylG ein erfolglos abgeschlossenes Asylverfahren in einem sicheren Drittstaat voraus (vgl. BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4/16 – juris Leitsatz 2). Es obliegt dem Bundesamt, den negativen Abschluss des Erstverfahrens im Rahmen der Amtsermittlungspflicht zu belegen. Bei der Prüfung nach § 71a Abs. 1 AsylG, ob ein erfolgloser Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat vorliegt, darf sich das Bundesamt nicht allein auf die Angaben der Antragsteller zum Verlauf von Asylverfahren in anderen Mitgliedstaaten stützen. Denn diese haben in aller Regel den Verfahrensablauf nicht durchschaut und können dazu deshalb auch keine verlässlichen Angaben machen (vgl. nur BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50069 u.a. – juris Rn. 22 m.w.N.). Mit dem vom Bundesamt grundsätzlich zu nutzenden, sogenannten Info-Request nach Art. 21 Dublin-II-VO bzw. Art. 34 Dublin-III-VO ist unter den Mitgliedstaaten ein beschleunigtes Informationsaustauschsystem eingeführt worden, dessen Möglichkeiten zur Informationsgewinnung den Verwaltungsgerichten nicht offen stehen (vgl. nur BayVGH, U.v. 20.10.2016 – 20 B 14.30320 – juris Rn. 29, 41 m.w.N.).
Zudem kann das Bundesamt das Vorliegen von Wiederaufgreifensgründen nur beurteilen, wenn es Kenntnis des Vorverfahrens, der dort angeführten Gründe und des dortigen Verfahrensablaufs einschließlich der jeweiligen Entscheidungen besitzt (vgl. nur Schönenbroicher/Dickten in Beck´scher Online-Kommentar Ausländerrecht, Stand 1. November 2017, § 71a AsylG Rn. 2 m.w.N.).
Demnach beruht die Annahme des Bundesamts, es liege der erfolglose Abschluss eines Asylverfahrens in einem sicheren Drittstaat vor, im Fall des Antragstellers auf unzureichender Tatsachenbasis.
Die Angaben des Antragstellers zum Verlauf des Asylverfahrens scheiden mangels hinreichender Belastbarkeit als hinreichend tragfähige Informationsquelle des Bundesamts von vornherein aus. Das Bundesamt hat zwar ein Info-Request an die zuständige Behörde der Republik Italien gerichtet. Dieses Informationsersuchen ist aber unbeantwortet geblieben.
Das Bundesamt hat auch nicht ausnahmsweise sonst nach den besonderen Umständen des Einzelfalls, insbesondere nicht aufgrund des Vorliegens eines italienischen Aufenthaltstitels aus humanitären Gründen (permesso di soggiorno, motivi umanitari), tragfähig auf das Vorliegen einer „Zweitantragssituation“ schließen dürfen.
Solche Aufenthaltstitel werden nach nationalem italienischem Recht zwar oft im Zusammenhang mit der Ablehnung eines Antrags auf internationalen Schutz erteilt (vgl. http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Downloads/Infothek/Asyl/leitfaden-italien.pdf? blob=publicationFile). Jedoch sagt ein solcher Aufenthaltstitel jedenfalls nichts darüber aus, ob ein Asylantrag (nach Sachprüfung) entweder unanfechtbar abgelehnt oder das Verfahren nach Rücknahme des Asylantrags bzw. dieser gleichgestellten Verhaltensweisen endgültig eingestellt worden ist (vgl. BVerwG, U.v. 14.12.2016 – 1 C 4/16 – juris Rn. 29). Zudem könnten in Italien auch noch Möglichkeiten zu einer Fortführung bzw. Wiederaufnahme des Asylverfahrens bestehen (vgl. BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50069 u.a. – juris Rn. 25).
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).

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