Verwaltungsrecht

Erfolgloser Berufungszulassungsantrag

Aktenzeichen  21 ZB 18.1888

Datum:
2.2.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 1684
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 108 Abs. 1, § 124 Abs. 2 Nr. 1
VwVfG § 48 Abs. 2 S. 2

 

Leitsatz

1. Die Richtigkeit der richterlichen Überzeugungsbildung ist nur dann ernstlich in Frage gestellt, wenn aufgezeigt wird, dass sie mangelhaft ist. Das wäre insbesondere dann der Fall, wenn das Gericht entscheidungserheblich von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen ist oder die Beweiswürdigung Ungereimtheiten aufweist. (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
2. Eine Vermögensdisposition iSd § 48 Abs. 2 S. 2 VwVfG ist jedes Tun, Dulden oder Unterlassen, das kausal auf dem Vertrauen in den begünstigenden Verwaltungsakt beruht und sich auf das Vermögen des Begünstigenden auswirkt. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 12 K 17.2783 2018-03-22 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger hat die Kosten des Zulassungsverfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 2.896,56 Euro festgesetzt.

Gründe

I.
Der Kläger wendet sich dagegen, dass die beklagte Versorgungsanstalt seine zum 31. Dezember 2012 erworbene Anwartschaft auf Ruhegeld erneut berechnet und in geringerer Höhe ausgewiesen hat als mit einem vorangegangenen Bescheid.
Der Kläger wurde mit Wirkung vom 1. März 2009 als Bezirksschornsteinfegermeister bestellt. Er hatte bis zu der zum 31. Dezember 2012 ausgesprochenen Schließung der Zusatzversorgung der bevollmächtigten Bezirksschornsteinfegermeister eine mit Beiträgen belegte Mitgliedschaftszeit von 46 Monaten erreicht. Das Schornsteinfegerhandwerksgesetz räumte Versorgungsberechtigten, die aufgrund der Schließung der Zusatzversorgung weniger als fünf Jahre (60 Monate) Beiträge entrichtet hatten, die Möglichkeit ein, für die fehlende Zeit Beiträge an die Versorgungsanstalt nachzuzahlen, wodurch Anwartschaften auf Ruhegeld, Witwen- und Witwergeld sowie Waisengeld erworben werden konnten. Der Kläger macht davon Gebrauch und zahlte für die auf 60 Monate fehlende Zeit Beiträge nach.
Auf der Grundlage einer mit Beiträgen belegten (fiktiven) Mitgliedschaftszeit von 60 Monaten stellte die Beklagte mit Bescheid vom 8. Juli 2014 fest, dass der Kläger zum 31. Dezember 2012 eine Anwartschaft auf Ruhegeld in Höhe von 172,42 Euro erworben hat (sog. Startgutschrift).
Mit Bescheid vom 12. August 2015 wies die Beklagte eine Startgutschrift in Höhe von 391,27 Euro aus. Die Beklagte berücksichtigte insoweit wiederum eine mit Beiträgen belegte Mitgliedschaft bei der Versorgungsanstalt von 60 Monaten. Auf die Dauer der Beitragszahlung rechnete sie zudem nunmehr auch die Zeit der Verspätung von 81 Monaten und 21 Tagen an, die sich daraus ergab, dass der Kläger zu einem späteren Zeitpunkt als zwölf Jahre nach dem Datum seines Rangstichtages (10.5.1990) als Bezirksschornsteinfegermeister bestellt worden ist. Insgesamt berechnete die Beklagte die Startgutschrift somit auf der Grundlage einer Mitgliedszeit von 141 Monaten und 21 Tagen.
Die Beklagte wies mit Bescheid vom 29. Dezember 2016 unter Abänderung des vorangegangenen Bescheids die zum 31. Dezember 2012 erworbene Anwartschaft mit monatlich 310,81 Euro aus. Zur Begründung der Neuberechnung wurde im Wesentlichen ausgeführt: Für die Berechnung der bis zum 31. Dezember 2012 erworbenen Anwartschaft auf Ruhegeld sei die aufgrund der Nachzahlung mit Beiträgen (fiktiv) belegte Mitgliedschaftszeit in die Vergangenheit bis zum 1. Januar 2008 zu verschieben, weil durch die Nachzahlung keine Anwartschaften nach dem 31. Dezember 2012 erworben werden konnten. Die sich daraus ergebende Überschneidung der fiktiv mit Beiträgen belegten (fünfjährigen) Mitgliedschaftszeit mit der Wartezeit bis zur Bestellung als Bezirksschornsteinfegermeister habe die vorangegangene Berechnung unberücksichtigt gelassen. Auf diese Weise sei bei der Berechnung der Startgutschrift eine Mitgliedschaftszeit von 141 Monaten und 21 Tagen zugrunde gelegt worden, obgleich der Zeitraum vom 10. Mai 2002 (erstmalige Bestellung des Klägers) bis zum 31. Dezember 2012 tatsächlich nur 127 Monate und 21 Tage umfasse.
Den dagegen erhobenen Widerspruch wies die Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 17. Mai 2017 zurück.
Das Verwaltungsgericht München hat die Klage mit Urteil vom 22. März 2018, zugestellt am 1. August 2018, abgewiesen. Dagegen hat der Kläger am 3. September 2018 (Montag) die Zulassung der Berufung beantragt.
II.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung hat keinen Erfolg.
1. Das zur Begründung des Zulassungsantrags innerhalb der Frist Dargelegte, auf dessen Prüfung der Senat im Grundsatz beschränkt ist (§ 124a Abs. 4 Satz 4 und Abs. 5 Satz 2 VwGO) rechtfertigt es nicht, die Berufung wegen der zwar nicht ausdrücklich, aber der Sache nach geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO) zuzulassen.
Das Verwaltungsgericht hat die Klageabweisung im Kern damit begründet, dass die Beklagte die mit Bescheid vom 12. August 2015 ausgewiesene Ruhegeldanwartschaft mit dem angefochtenen Bescheid ohne Rechtsfehler auf der Grundlage des § 48 Abs. 1 und 2 VwVfG im Wege der Teilrücknahme korrigiert habe. Nach dieser Regelung könne ein rechtswidriger Verwaltungsakt auch nach Bestandskraft ganz oder teilweise zurückgenommen werden. Nach § 48 Abs. 4 Satz 1 VwVfG sei die Rücknahme nur innerhalb eines Jahres von dem Zeitpunkt an zulässig, seit dem die Behörde von Tatsachen Kenntnis erhalten habe, welche die Rücknahme des rechtswidrigen Verwaltungsakts rechtfertigten. Diese Frist sei gewahrt. Ein begünstigender Verwaltungsakt, der wie vorliegend Voraussetzung für eine laufende Geldleistung sei, dürfe allerdings nach § 48 Abs. 2 Satz 1 VwVfG nur zurückgenommen werden, soweit der Begünstigende nicht auf dessen Bestand vertraut habe oder sein Vertrauen unter Abwägung mit dem öffentlichen Interesse an einer Rücknahme nicht schutzwürdig sei. Diese Voraussetzungen lägen vor. Ermessensfehler seien nicht erkennbar.
1.1 Der Kläger bringt dagegen auch in zweiter Instanz vor, es werde bestritten, dass ein Berechnungsfehler aufgetreten sei. Aus dem ursprünglichen Bescheid vom 12. August 2015 gehe nicht hervor, wie die Startgutschrift berechnet worden sei.
Daraus ergeben sich keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils. Die Berechnung der mit Bescheid vom 12. August 2015 ausgewiesenen Ruhegeldanwartschaft lässt sich ohne Weiteres der diesem Bescheid beigefügten Anlage entnehmen. Im Übrigen hat das Verwaltungsgericht, ohne dass sich der Zulassungsantrag damit befasst, eingehend und nachvollziehbar dargelegt, dass die Startgutschrift zunächst fehlerhaft berechnet und ausgewiesen worden sei (UA S. 11 ff.).
1.2 Der Kläger meint, entgegen der Feststellung des Verwaltungsgerichts habe die Beklagte die Rücknahmefrist von einem Jahr nicht eingehalten. Einen Nachweis für eine „rechtzeitige Kenntniserlangung“ habe die Beklagte nicht erbracht. Zu Unrecht habe das Verwaltungsgericht festgestellt, dass die Kenntniserlangung erst im März oder April des Jahres 2016 gewesen sei. Das Gericht habe das offensichtlich einer Äußerung des Beklagtenvertreters entnommen, der in der mündlichen Verhandlung erklärt habe, dass man im März oder April ein Telefonat entgegengenommen habe; er selbst habe aber seinen Dienst bei der Beklagten erst im Mai 2016 angetreten. Der Zeuge M. S. habe sich zu einem Zeitpunkt eines Telefonats nicht geäußert. Er habe lediglich bestätigt, dass er ein Telefonat geführt habe.
Das führt ebenfalls nicht zur Zulassung der Berufung. Das Gericht entscheidet gemäß § 108 Abs. 1 Satz 1 VwGO nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Die Richtigkeit der richterlichen Überzeugungsbildung ist deshalb nur dann ernstlich in Frage gestellt, wenn aufgezeigt wird, dass sie mangelhaft ist. Das wäre insbesondere dann der Fall, wenn das Gericht entscheidungserheblich von einem unzutreffenden Sachverhalt ausgegangen ist oder die Beweiswürdigung Ungereimtheiten aufweist. Letzteres ist insbesondere dann anzunehmen, wenn das Gericht gesetzliche Beweisregeln, die Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verletzt oder wenn die Beweiswürdigung offensichtlich sachwidrig und damit willkürlich ist (vgl. Rudisile in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand Juli 2020, § 124 Rn. 26g m.w.N.).
Derartige Mängel ergeben sich aus dem zur Begründung des Zulassungsantrags Dargelegten nicht. Das Verwaltungsgericht hat vielmehr in nicht zu beanstandender Weise die Äußerungen des in der mündlichen Verhandlung informatorisch angehörten Vertreters der Beklagten (Assessor S.) und die Aussage des bei der Beklagten angestellten Zeugen M. S. in ihrer Gesamtheit mit dem Ergebnis gewürdigt, die Beklagte habe frühestens im März oder April 2016 Kenntnis von den die Rücknahmeentscheidung tragenden Tatsachen gehabt. Denn Assessor S. äußerte sich dahingehend, dass der Anruf eines Kaminkehrers im März oder April 2016 die Beklagte dazu veranlasst habe, die Startgutschriften der Nachzahler zu überprüfen; es sei festgestellt worden, dass die Software Doppelzeiten berücksichtigt habe. Der Zeuge M. S. bekundete, er sei derjenige gewesen, der das vom Vertreter der Beklagten erwähnte Telefongespräch entgegengenommen habe.
1.3 Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils ergeben sich auch nicht aus dem Zulassungsvorbringen, entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts überwiege der Vertrauensschutz des Klägers. Dieser habe dargelegt, dass er sich um eine anderweitige Ersatzversicherung gekümmert hätte, wenn er von Anfang an gewusst hätte, dass seine bestehende Anwartschaft geringer ist als ursprünglich angenommen. Auch das stelle eine gewisse Vermögensdisposition im Sinn des § 48 VwVfG dar, da sich der Kläger rückwirkend nicht mehr gleichwertig absichern könne.
In der Regel ist das Vertrauen des Begünstigten in den Bestand eines Verwaltungsakts, der wie hier Voraussetzung für eine laufende Geldleistung ist, unter anderem dann schutzwürdig, wenn er eine Vermögensdisposition getroffen hat, die er nicht mehr oder nur unter unzumutbaren Nachteilen rückgängig machen kann (§ 48 Abs. 2 Satz 2 VwVfG). Eine Vermögensdisposition in diesem Sinne ist jedes Tun, Dulden oder Unterlassen, das kausal auf dem Vertrauen in den begünstigenden Verwaltungsakt beruht und sich auf das Vermögen des Begünstigenden auswirkt (vgl. Müller in Huck/Müller, 3. Aufl. 2020, VwVfG § 48 Rn. 31).
Der Kläger hat dazu in erster Instanz vorgetragen, er „hätte ggf. damals bereits eine anderweitige Ersatzversorgung abschließen können“, wenn er bereits bei Erlass des ersten Bescheids gewusst hätte, dass die Versorgungsanwartschaft um 80,46 Euro gekürzt werde. Das Verwaltungsgericht hat dem zu Recht entgegengehalten, das sei zu allgemein gehalten, um eine solche Vermögensdisposition zu belegen (UA S. 15). Der Kläger hat auch zur Begründung des Zulassungsantrags nichts Konkretes dazu vorgetragen, dass er es gerade im Vertrauen auf die Höhe der mit Bescheid vom 15. August 2015 ausgewiesenen Stargutschrift unterlassen hat, seine Altersversorgung aufzustocken. Anlass dazu hätte auch deshalb bestanden, weil nichts dafür ersichtlich ist, dass der Kläger trotz der wesentlich niedrigeren Startgutschrift vom 8. Juli 2014 (172,42 Euro) etwas zur Aufstockung seiner Altersversorgung unternommen hat.
Das Zulassungsvorbringen ist nicht geeignet, ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Urteils zu begründen, denn es verbleibt wiederum im Allgemeinen, obgleich es allein in die Kenntnis des Klägers fallende Umstände betrifft.
1.4 Der Kläger wendet sich gegen die im angegriffenen Urteil enthaltene Feststellung, Ermessensfehler seien nicht erkennbar und rügt, das Verwaltungsgericht habe zu Unrecht festgestellt, die Behörde habe das Rücknahmeermessen erkannt und ansatzweise ausgeübt. Die Entscheidung der Beklagten lasse das nicht erkennen.
Das rechtfertigt ebenfalls nicht die Zulassung der Berufung. Das Verwaltungsgericht hat die Feststellung, Ermessensfehler seien nicht erkennbar, auch darauf gestützt, vorliegend sei das Rücknahmeermessen im Hinblick auf den allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz (Art. 3 Abs. 1 GG) auf Null reduziert. Die Behörde habe ihr Ermessen selbst gebunden, indem sie in allen dem Kläger vergleichbaren Fällen Rücknahmebescheide erlassen habe und kein sachlicher Grund bestehe, von dieser Praxis abzuweichen. Der Kläger setzt sich mit diesen Erwägungen nicht auseinander und weckt damit auch in diesem Punkt keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils.
1.5 Auf weitere Zulassungsgründe im Sinn des § 124 Abs. 2 VwGO ist der Zulassungsantrag auch der Sache nach nicht gestützt.
2. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 2 VwGO.
3. Die Streitwertfestsetzung folgt aus §§ 47, 52 Abs. 1 GKG. Insoweit war in Anlehnung an Nr. 14.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit i.d.F. vom 18. Juli 2013 (abgedr. in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, Anhang) der dreifache Jahresbetrag des streitigen Unterschiedsbetrags der monatlichen Ruhegeldanwartschaft (80,46 Euro x 36 = 2.896,56 Euro) maßgebend.


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