Verwaltungsrecht

Erfolgloser Berufungszulassungsantrag: Ausweisung wegen ungünstiger Sozialprognose bei Drogenproblematik

Aktenzeichen  10 ZB 20.2595

Datum:
2.12.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 36087
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 53 Abs. 1, Abs. 2, § 54 Abs. 1 Nr. 1, Nr. 1a lit. d, § 55 Abs. 1 Nr. 1
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 2, § 124a Abs. 5 S. 4
EMRK Art. 8

 

Leitsatz

1. Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte haben bei der spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen. (Rn. 7) (redaktioneller Leitsatz)
2. Bei der Abwägungsentscheidung und Verhältnismäßigkeitsprüfung sind insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Ausländers, seine persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat sowie die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und die Tatsache, ob der Ausländer sich rechts-treu verhalten hat, zu berücksichtigen, wobei diese Umstände weder abschließend zu verstehen sind noch ausschließlich zugunsten des Ausländers sprechende Umstände in die Abwägung einzustellen sind. (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 10 K 18.4743 2020-08-20 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

Mit seinem Antrag auf Zulassung der Berufung verfolgt der Kläger, ein serbischer Staatsangehöriger von der Minderheit der Roma, seine in erster Instanz erfolglose Anfechtungsklage gegen seine Ausweisung mit Bescheid der Beklagten vom 10. September 2018 weiter.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich weder die geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO noch andere Zulassungsgründe im Sinne von § 124 Abs. 2 Nr. 2 bis 5 VwGO.
1. Es bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO. Solche Zweifel bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16). Das ist vorliegend nicht der Fall.
Das Verwaltungsgericht hat ausgeführt, dass vom betäubungsmittelabhängigen Kläger, der seit seiner Jugend immer wieder straffällig geworden ist und zuletzt mit Urteil des Landegerichts München I vom 13. November 2015, nach teilweise erfolgreicher Revision abgeändert durch Urteil vom 12. Mai 2017 wegen schweren Bandendiebstahls in fünf Fällen in allen Fällen in Tateinheit mit Sachbeschädigung sowie Diebstahl in Mittäterschaft in Tateinheit mit Sachbeschädigung zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von vier Jahren und zehn Monaten verurteilt wurde, eine erhebliche Wiederholungsgefahr ausgehe. Sowohl ein psychiatrisches Gutachten vom 27. August 2018, als auch der Beschluss der Strafvollstreckungskammer vom 7. Juni 2019 hätten eine positive Sozialprognose verneint, der Kläger stehe nach der Vollverbüßung der Haftstrafe unter Bewährungsaufsicht. Erste positive Ansätze nach der Haftentlassung im Hinblick auf die wirtschaftliche Integration und die Bewältigung seiner Drogenabhängigkeit ließen die Wiederholungsgefahr nicht entfallen. Der Kläger wohne wieder bei seiner Mutter, die hinsichtlich der Anlasstat ebenfalls strafrechtlich belangt worden sei. Die Ausweisung sei auch verhältnismäßig. Der erwachsene, ledige und kinderlose Kläger sei zwar im Alter von sieben Jahren nach Deutschland eingereist und im Besitz einer Niederlassungserlaubnis, er habe aber keine Berufsausbildung und sei derzeit erwerbslos. Die Rückkehr nach Serbien sei zumutbar; er habe selbst angegeben, zumindest gebrochen Serbisch zu sprechen.
Dem hält der Zulassungsantrag entgegen, das Verwaltungsgericht habe bestimmte Umstände nicht berücksichtigt. So habe der Kläger nur übergangsweise bei seiner Mutter gewohnt, sich danach aber ein Hotelzimmer genommen. Auch sei er seit Oktober 2020 wieder in Beschäftigung. Auch die Mutter des Klägers sei jetzt gut integriert. Nach einer Stellungnahme einer Suchberatungsstelle bestehe derzeit keine Notwendigkeit, den Kläger bei der Aufrechterhaltung seiner derzeitigen Abstinenz von illegalen Drogen weiter zu unterstützen. Der Kläger habe sich mit seiner Drogenproblematik auseinandergesetzt und „davon Abstand gefunden“. Im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung habe das Verwaltungsgericht verkannt, dass der Kläger zu Hause nur Romanes gesprochen habe und die kyrillische Schrift nicht beherrsche. Außerdem würden Roma in Serbien rassistisch diskriminert, der Kläger habe Gewalt und Stigmatisierung zu erwarten.
Dieses Zulassungsvorbringen begründet – auch zum für die Beurteilung der Rechtmäßigkeit einer Ausweisung maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofs (stRspr des BVerwG, vgl. z.B. U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 18; BayVGH, U.v. 27.10.2017 – 10 B 16.1252 – juris Rn. 25) – keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts.
a) Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. z.B. BVerwG, U.v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18) und des Senats (z.B. B.v. 8.11.2017 – 10 ZB 16.2199 – juris Rn. 6 f.; zuletzt B.v. 24.3.2020 – 10 ZB 20.138 – Rn. 2) haben Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichte bei spezialpräventiven Ausweisungsentscheidungen und deren gerichtlicher Überprüfung eine eigenständige Prognose zur Wiederholungsgefahr zu treffen. Bei der Prognose, ob eine Wiederholung vergleichbarer Straftaten mit hinreichender Wahrscheinlichkeit droht, sind die besonderen Umstände des Einzelfalls zu berücksichtigen, insbesondere die Höhe der verhängten Strafe, die Schwere der konkreten Straftat, die Umstände ihrer Begehung, das Gewicht des bei einem Rückfall bedrohten Rechtsguts sowie die Persönlichkeit des Täters und seine Entwicklung und Lebensumstände bis zum maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt. An die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts sind bei dieser Prognose umso geringere Anforderungen zu stellen, je größer und folgenschwerer der möglicherweise eintretende Schaden ist. Auch der Rang des bedrohten Rechtsguts ist dabei zu berücksichtigen; an die nach dem Ausmaß des möglichen Schadens differenzierende hinreichende Wahrscheinlichkeit dürfen andererseits keine zu geringen Anforderungen gestellt werden.
Ausgehend hiervon teilt der Senat die Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts. Das Verwaltungsgericht hat sich ausführlich mit den Straftaten, der Drogenabhängigkeit und den sonstigen Lebensumständen des Klägers auseinandergesetzt und ist zu Recht davon ausgegangen, dass vom Kläger auch in Zukunft erhebliche Straftaten zu erwarten sind. Er hat auch zur Deckung der Kosten seines Drogenkonsums schwere Straftaten begangen. Die Strafvollstreckungskammer hat gestützt auf ein psychiatrisches Gutachten keine günstige Sozialprognose gestellt. Auch nach der Haftentlassung bewegt sich der Kläger im selben sozialen Umfeld wie bei Begehung der Taten, zumal seine Mutter im Zusammenhang mit den Anlasstaten ebenfalls verurteilt wurde. Auch hat er nach seinen eigenen Angaben in der mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgericht erhebliche Schulden im hohen fünfstelligen Bereich. Soweit der Kläger auf erste Ansätze der Bewältigung seiner Drogenproblematik verweist, ändert auch dies derzeit nichts an der Gefahrenprognose. Denn nach ständiger Rechtsprechung des Senats (vgl. zuletzt BayVGH, B.v. 5.5.2020 – 10 ZB 20.399 – juris Rn. 7; B.v. 3.4.2020 – 10 ZB 20.249 – juris Rn. 9; B.v. vom 16.9.2019 – 10 ZB 19.1614 – juris Rn. 5 m.w.N.; B.v. 8.4.2019 – 10 ZB 18.2284 – juris Rn. 12 m.w.N.; U.v. 23.7.2019 – 10 B 18.2464 – juris Rn. 27; B.v. 26.7.2019 – 10 ZB 19.1207 – juris Rn. 25 m.w.N.) kann bei Straftaten, die ihre (Mit-)Ursache in einer Suchtmittelproblematik haben, von einem Entfallen der Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange eine entsprechende Therapie nicht abgeschlossen ist und sich der Betreffende nach Therapieende hinreichend in Freiheit bewährt hat.
b) Auch die auf die vom Verwaltungsgericht gemäß § 53 Abs. 1 und 2, § 54 und § 55 AufenthG vorgenommene Interessenabwägung bezogenen Rügen des Klägers begründen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit der erstinstanzlichen Entscheidung.
Bei der Abwägungsentscheidung und Verhältnismäßigkeitsprüfung sind insbesondere die Dauer des Aufenthalts des Ausländers, seine persönlichen, wirtschaftlichen und sonstigen Bindungen im Bundesgebiet und im Herkunftsstaat sowie die Folgen der Ausweisung für Familienangehörige und die Tatsache, ob der Ausländer sich rechts-treu verhalten hat, zu berücksichtigen, wobei diese Umstände weder abschließend zu verstehen sind noch ausschließlich zugunsten des Ausländers sprechende Umstände in die Abwägung einzustellen sind (BVerwG, U.v. 22.2.2017 – 1 C 3.16 – juris Rn. 24 f.; BayVGH, U.v. 21.5.2019 – 10 B 19.55 – juris Rn. 37). Ergänzend hierzu sind die vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte zu Art. 8 EMRK entwickelten Kriterien heranzuziehen (Boultif/Üner-Kriterien, vgl. EGMR, U.v. 18.10.2006 – 46410/99 – NVwZ 2007, 1279; U.v. 2.8.2001 – 54273/00 – InfAuslR 2001, 476). Bei der Abwägung zu berücksichtigen sind danach die Art und die Schwere der begangenen Straftaten, wobei die vom Gesetzgeber vorgenommene typisierende Gewichtung zu beachten ist, das Verhalten des Ausländers nach der Tatbegehung sowie die Stabilität der sozialen, kulturellen und familiären Bindungen zum Gastland und zum Zielstaat. Die abwägungserheblichen Interessen sind zutreffend zu ermitteln und zu gewichten. Es ist ein Ausgleich zwischen den gegenläufigen Interessen herzustellen, der dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit entspricht.
Ausgehend hiervon hat das Verwaltungsgericht zu Recht angenommen, dass sich der Kläger zwar auf ein besonders schwerwiegendes Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG berufen kann, da er eine Niederlassungserlaubnis besitzt und sich seit (mehr als) fünf Jahren rechtmäßig im Bundesgebiet aufhält, dass aber gleichwohl das besonders schwerwiegende Ausweisungsinteresse nach § 54 Abs. 1 Nr. 1 und Nr. 1a Buchst. d AufenthG überwiegt. Die familiären Bindungen des erwachsenen, ledigen und kinderlosen Klägers im Bundesgebiet sowie die Ansätze einer wirtschaftlichen Integration fallen angesichts der erheblichen Wiederholungsgefahr hinsichtlich schwerer Straftaten nicht ausschlaggebend ins Gewicht. Dem Kläger ist auch eine Rückkehr nach Serbien zumutbar. Der Senat verkennt nicht, dass der Kläger Schwierigkeiten haben wird, sich in die serbischen Verhältnisse einzufinden. Er verfügt jedoch unstreitig über Kenntnisse der serbischen Sprache. Er selbst gibt zwar an, nur gebrochen Serbisch zu sprechen, bei der Agentur für Arbeit wird er dagegen nach dem unwidersprochen gebliebenen Vortrag der Beklagten im Verfahren vor dem Verwaltungsgericht mit verhandlungssicheren Sprachkenntnissen in Serbisch, Kroatisch und Bosnisch geführt und eine polizeiliche Kurzmitteilung vom 19. September 2014 schildert, der Kläger habe das abgehörte Telefonat auf Serbisch geführt. Zudem spricht der Kläger Romanes, was ihm Anknüpfungsmöglichkeiten jedenfalls bei der Minderheit der Roma bietet. Angesichts dessen führt der bloße Hinweis des Klägers auf rassistische Diskriminierungen der Minderheit der Roma in Serbien vor dem Hintergrund der Zugänglichkeit von Gesundheitsversorgung oder der Sozialfürsorge auch für Angehörige der Roma (vgl. zuletzt etwa VG Oldenburg, B.v. 1.7.2020 – 7 B 1683/20 – juris Rn. 54; VG Magdeburg, U.v. 19.5.2020 – 8 A 138/19 – juris Rn. 97 ff.) nicht zu der Annahme, dass eine Integration in die serbische Gesellschaft unmöglich oder unzumutbar wäre, zumal der Kläger deutsch spricht und einen deutschen Schulabschluss erworben hat, was die Chancen für eine berufliche Integration nicht unerheblich steigern dürfte.
2. Die Zulassungsgründe der besonderen tatsächlichen oder rechtlichen Schwierigkeiten der Rechtssache im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 2 VwGO, der grundsätzlichen Bedeutung im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO, der Abweichung von obergerichtlicher Rechtsprechung im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO und des Verfahrensmangels im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO sind nicht den Anforderungen des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO entsprechend dargelegt. Das Zulassungsvorbringen enthält hierzu weder ausdrücklich noch der Sache nach Ausführungen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 sowie § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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