Verwaltungsrecht

Erfolgreiche Klage auf Feststellung eines Abschiebungsverbots (Afghanistan, alleinstehende Frau)

Aktenzeichen  M 25 K 16.35305

Datum:
23.3.2017
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2017, 156676
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 7

 

Leitsatz

1 Für eine 56-jährige alleinstehende Frau mit gesundheitlichen Problemen und ohne familiäres oder sonstiges soziales Netzwerk in Afghanistan besteht dort kaum eine Existenzmöglichkeit, sodass die Voraussetzungen für das Vorliegen eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG erfüllt sind.  (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt.
Die Beklagte wird unter entsprechender Aufhebung der Ziffern 4 bis 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 17. November 2016 verpflichtet, festzustellen, dass bei der Klägerin ein Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegt.
II. Von den Kosten des Verfahrens tragen die Klägerin zwei Drittel und die Beklagte ein Drittel.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

1. Über den Rechtsstreit konnte aufgrund der mündlichen Verhandlung vom 1. März 2017 und ohne weitere mündliche Verhandlung entschieden werden. Die Klägerseite hat in der mündlichen Verhandlung vom 1. März 2017 auf weitere mündliche Verhandlung verzichtet. Die Beklagte war in der Ladung zur mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen worden, dass auch im Fall des Nichterscheinens der Beteiligten verhandelt und entschieden werden könne (§ 102 Abs. 2 VwGO) und hat zudem in der allgemeinen Prozesserklärung vom 25. Februar 2016 ihr Einverständnis mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung erklärt.
2. Soweit die Klage auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzstatus zurückgenommen wurde, ist das Verfahren einzustellen (§ 92 Abs. 3 VwGO).
3. Die zulässige Klage ist hinsichtlich des geltend gemachten nationalen Abschiebungsverbotes des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründet. Die Klägerin hat im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) gegenüber der Beklagten einen Anspruch auf Feststellung, dass die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Abschiebungsandrohung im streitgegenständlichen Bescheid nach Afghanistan sowie das festgesetzte Einreise- und Aufenthaltsverbot erweisen sich insoweit als rechtswidrig und sind damit aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Der Klägerin droht aufgrund ihrer besonderen Situation als alleinstehender Frau, ihrer gesundheitlichen Situation und der schwierigen Gesamtsituation in Afghanistan bei einer Rückkehr nach Afghanistan eine extreme Gefahrenlage.
3.1. Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Gefahren, denen die Bevölkerung oder die Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein ausgesetzt ist, sind bei Anordnungen nach § 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG zu berücksichtigen. Hinsichtlich der Klägerin besteht ein Abschiebungsverbot in verfassungskonformer Anwendung des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
3.2. Im Rahmen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG analog wird die Frage geprüft, ob bei Gefahren, die der Bevölkerung oder der Bevölkerungsgruppe, der der Ausländer angehört, allgemein drohen und bei denen eine politische Leitentscheidung nach § 60 a Abs. 1 Satz 1 AufenthG fehlt, ausnahmsweise Verfassungsrecht in Fällen einer extremen Gefahrenlage ein Abschiebungsverbot erforderlich macht. In diesem Zusammenhang wird auch die schlechte wirtschaftliche Lage im Herkunftsland berücksichtigt (vgl. BVerwG, U.v. 12.7.2001 – 1 C 5.01 – Rn. 15 ff. juris).
Der Klägerin stünde bei einer Rückkehr nach Afghanistan kein soziales Netz zur Verfügung, dass sie absichern könnte. Keiner ihrer Verwandten lebt derzeit noch in ihrer Herkunftsprovinz Balkh. Die Klägerin selbst hat bereits im Jahr 2013 Afghanistan zusammen mit der Familie ihres Sohnes verlassen. Ihre Kinder leben in Deutschland. Auch ihre Brüder, die zunächst noch im Heimatland gewohnt haben, haben mittlerweile nach den Aussagen der Klägerin in der mündlichen Verhandlung das Land verlassen. Zwei ihrer Brüder leben zusammen mit ihrem Vater nach Aussage der Klägerin in der mündlichen Verhandlung mittlerweile im Iran, ein weiterer in Usbekistan.
Für die Gefahrenprognose ist somit auf die Hauptstadt Kabul abzustellen. Die Versorgungslage in Afghanistan ist weiterhin schlecht (vgl. Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan, Stand: September 2016, Seite 42 f.). Soziale Sicherungssysteme existieren praktisch nicht. Die soziale Absicherung liegt bei den Familien und Stammesverbänden. In Kabul kann die Klägerin künftig nicht auf die Hilfe eines Familienverbandes zurückgreifen, da ihre beiden Schwestern aus Sicherheitsgründen das Land verlassen. In der Gesamtschau der aktuellen Auskünfte ist davon auszugehen, dass die Situation, die ein Rückkehrer in Kabul vorfindet, wesentlich davon mitbestimmt wird, ob und wie er sich auf familiäre oder sonstige verwandtschaftliche Strukturen verlassen kann oder ob er auf sich alleine gestellt ist. Je stärker die soziale Verwurzelung des Rückkehrer oder je besser seine Vertrautheit mit den Lebensverhältnissen ist, desto leichter und besser kann es sich in die jetzige Situation in Afghanistan wieder eingliedern und dort jedenfalls ein Existenzminimum sichern. Generell ist in Afghanistan das Prinzip eines individuellen Lebens weitgehend unbekannt; unverheiratete Erwachsene leben in der Regel im Familienverband. Insbesondere für Frauen ist ein alleinstehendes Leben außerhalb des Familienverbandes kaum möglich (Lagebericht, Stand: September 2016, S. 16). Die 56-jährige alleinstehende Klägerin wäre nach dem Wegzug der Schwestern auch in Kabul vollkommen auf sich alleine gestellt. Für eine alleinstehende Frau mit 56 Jahren und gesundheitlichen Problemen besteht in Afghanistan kaum eine Existenzmöglichkeit. Es ist daher davon auszugehen, dass ihr dort eine extreme Gefahrenlage im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG droht.
4. Die Abschiebungsandrohung in Nr. 4 des Bescheids des Bundesamts vom 17. November 2016 war insoweit aufzuheben, als die Abschiebung nach Afghanistan angedroht wurde.
Nach § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 Abs. 3 Satz 2 AufenthG ist in der Abschiebungsandrohung der Staat zu bezeichnen, in den der Ausländer nicht abgeschoben werden darf. Daraus folgt, dass in diesen Fällen auch die (positive) Bezeichnung des fraglichen Staats als Zielstaat in der Abschiebungsandrohung rechtswidrig ist, und zwar, wie Satz 3 der Vorschrift zeigt, auch dann, „wenn das Verwaltungsgericht das Vorliegen eines Abschiebungsverbots feststellt“. Dann bleibt zwar die Abschiebungsandrohung nach Satz 3 der Vorschrift im Übrigen unberührt, die Zielstaatsbezeichnung ist aber als rechtswidrig aufzuheben. Dies gilt nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts auch in Bezug auf das Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG (vgl. BVerwG, U.v. 11.9.2007 – 10 C 8/07 – BVerwGE 129, 251). Gleiches gilt für das in Ziffer 6. des Bescheids angeordnete 30-monatige Einreise und Aufenthaltsverbot.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1, 155 Abs. 2 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. § 708 ff. ZPO.

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