Verwaltungsrecht

Erfolgreicher Eilantrag eines in Deutschland geborenen Säuglings gegen Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet

Aktenzeichen  W 8 S 20.30742

Datum:
6.7.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 15539
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5, § 90 S. 1, § 166, § 173
AsylG § 14a, § 30 Abs. 3 Nr. 7, § 36
RL 2013/32/EU Art. 31 Abs. 8

 

Leitsatz

1. Ernstliche Zweifel an der Offensichtlichkeitsentscheidung des Bundesamts gem. § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG liegen vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die infolge des Offensichtlichkeitsurteils sofort vollziehbare Abschiebungsandrohung einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (BVerfGE 94, 166 = BeckRS 9998, 170716). (Rn. 10) (redaktioneller Leitsatz)
2. § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG soll zum einen eine als missbräuchlich anzusehende Asylbeantragung verhindern und dient des weiteren der Verfahrensbeschleunigung, wenn das Kind keine eigenen Asylgründe geltend macht. (Rn. 12) (redaktioneller Leitsatz)
3. § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG greift ausnahmsweise dann nicht ein, wenn das Kind eigene Asylgründe geltend macht. Denn die Norm beruht auf der Annahme, dass für Kinder regelmäßig keine eigenen Asylgründe vorgebracht werden können, sodass im Asylverfahren der Eltern bereits eine inhaltliche Überprüfung stattgefunden hat. (Rn. 13) (redaktioneller Leitsatz)
4. Der Umstand der Konversion der Eltern zum Christentum und die Tatsache, dass das Kind seinerseits christlich getauft wird und ihm deshalb im Iran als Teil einer christlichen Familie mit eigener christlicher Konfession Verfolgung drohen könnte, stellt einen eigenen Asylgrund des Kindes dar, sodass der Offensichtlichkeitsausspruch des § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG ausscheidet (VG Würzburg BeckRS 2020, 7917). (Rn. 14) (redaktioneller Leitsatz)
5. Es bestehen gewichtige Gründe dafür, dass § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG mit dem Europäischen Unionsrecht nicht vereinbar ist, weil der betreffende Offensichtlichkeitsgrund nicht in der RL 2013/32/EU genannt ist. Art. 31 Abs. 8 RL 2013/32/EU enthält in seiner enumerativen Aufzählung keine rechtliche Grundlage, auf die sich eine nationale Vorschrift wie die des § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG stützen ließe (vgl. VG Augsburg BeckRS 2020, 290). (Rn. 15) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage (W 8 K 20.30740) der Antragstellerin gegen die Abschiebungsandrohung im Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 16. Juni 2020 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Der Antragstellerin wird für das vorliegende Sofortverfahren Prozesskostenhilfe bewilligt und Rechtsanwalt … … … … … beigeordnet.

Gründe

I.
Die am … … 2020 in Deutschland geborene Antragstellerin ist iranische Staatsangehörige. Am 19. Mai 2020 wurde ein Asylantrag mit Eingang des Schreibens der Ausländerbehörde vom 18. Mai 2020 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge aufgrund der Antragfiktion des § 14a Abs. 2 AsylG als gestellt erachtet.
Mit Bescheid vom 16. Juni 2020 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), auf Asylanerkennung (Nr. 2) und auf subsidiären Schutz (Nr. 3) als offensichtlich unbegründet ab. Weiter stellte das Bundesamt fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Die Antragstellerin wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Bei Nichteinhaltung der Ausreisefrist wurde ihr die Abschiebung in den Iran oder einen anderen Staat angedroht (Nr. 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde angeordnet und auf 36 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt: Eine konkret drohende und begründete Furcht vor Verfolgung sei für die Antragstellerin nicht geltend gemacht worden. Die Asylanträge der Eltern seien mit Bescheiden vom 12. März 2018 bzw. 24. April 2017 abgelehnt worden. Der Asylantrag werde gemäß § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG als offensichtlich unbegründet abgelehnt.
Am 25. Juni 2020 ließ die Antragstellerin im Verfahren W 8 K 20.30740 Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid erheben und im vorliegenden Verfahren – neben Prozesskostenhilfe – beantragen,
Die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung wird angeordnet.
Zur Begründung ließ die Antragstellerin im Wesentlichen ausführen: Die Eltern hätten nicht islamisch geheiratet und seien Christen. Die Antragstellerin werde nunmehr ebenfalls christlich getauft werden. Auch hierwegen drohe ihr bei einer Rückkehr in den Iran Verfolgung, da die gesamte Familie Christen seien.
Die Antragsgegnerin beantragte mit Schriftsatz vom 26. Juni 2020, den Antrag abzulehnen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte (einschließlich der Akte der Hauptsache W 8 K 20.30740 sowie W 8 K 20.30711) und die beigezogenen Behördenakten Bezug genommen.
II.
Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist zulässig und begründet.
Der Antrag, die kraft Gesetzes (§ 75 AsylG) ausgeschlossene aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung im streitgegenständlichen Bescheid der Antragsgegnerin nach § 80 Abs. 5 VwGO anzuordnen, ist zulässig, insbesondere wurde die Frist des § 36 Abs. 3 AsylG eingehalten.
Weiter wird angemerkt, dass nach Rücknahme der zuvor gegen den streitgegenständlichen Bescheid erhobenen Klage im Verfahren W 8 K 20.30711 deren Rechtshängigkeit (siehe § 90 Satz 1 VwGO, § 17 Abs. 1 Satz 2 GVG i.V.m. § 173 VwGO) einer positiven Entscheidung nicht mehr entgegensteht. Denn die zunächst unabhängig von ihrer Zulässigkeit wirksam im Verfahren W 8 K 20.30711 früher erhobene Klage durch einen anderen Rechtsanwalt (vgl. dazu Rennert in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 90 Rn. 5; Porz in Fehling/Kastner/Störmer, Verwaltungsrecht 4. Aufl. 2016, § 90 VwGO, Rn. 3) ist durch die ex tunc wirkende Klagerücknahme nicht mehr rechtshängig und macht damit die im Verfahren W 8 K 20.30740 erhoben Klage, um deren aufschiebende Wirkung es im vorliegenden Sofortverfahren geht, nicht mehr unzulässig.
Der Antrag ist begründet, da ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Bescheides bestehen (§ 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG). Konkret bestehen ernstliche Zweifel an der Offensichtlichkeitsentscheidung gemäß § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG. Ernstliche Zweifel liegen vor, wenn erhebliche Gründe dafürsprechen, dass die infolge des Offensichtlichkeitsurteils des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge sofort vollziehbare Abschiebungsandrohung einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht Stand hält (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – BVerfGE 94, 166).
Die Ablehnung des Asylantrags in den Nrn. 1 bis 3 des angefochtenen Bescheides als offensichtlich unbegründet findet ihre Grundlage weder in der von der Antragsgegnerin der Entscheidung zugrunde gelegten Norm des § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG noch in anderen Offensichtlichkeitstatbeständen des § 30 AsylG.
Nach § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG ist ein unbegründeter Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn er für einen nach diesem Gesetz handlungsunfähigen Ausländer gestellt wird oder – wie hier – nach § 14a AsylG als gestellt gilt, nachdem zuvor Asylanträge der Eltern oder des allein personenberechtigten Elternteils unanfechtbar abgelehnt worden sind. Diese Vorschrift soll zum einen eine als missbräuchlich anzusehende Asylbeantragung verhindern und dient weiter der Verfahrensbeschleunigung, wenn das Kind keine eigenen Gründe geltend macht (vgl. Heusch in BeckOK, AuslR, Kluth/ Heusch, 25. Edition, Stand: 1.3.2020, § 30 AsylG Rn. 52; Schröder in Hofmann, AuslR, 2. Aufl. 2016, § 30 AsylG Rn. 38).
Jedoch greift § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG ausnahmsweise nicht ein, wenn das Kind eigene Gründe geltend macht. Denn die Norm beruht auf der Annahme, dass für die Kinder regelmäßig keine eigenen Asylgründe vorgebracht werden können, sodass im Asylverfahren der Eltern schon eine inhaltliche Überprüfung stattgefunden hat. Bevor das Bundesamt aber nach Nr. 7 vorgeht, hat es nach dem Willen des Gesetzgebers zunächst eigene Asylgründe des handlungsunfähigen Kindes zu prüfen. Verneint die Behörde eine eigene Verfolgung des Kindes, hat es zu prüfen, ob diese in materieller Hinsicht offensichtlich nicht vorliegt oder sonst eine Anwendung des § 30 AsylG gerechtfertigt ist. Nach Nr. 7 darf es dann nicht mehr vorgehen. Werden eigene Gründe des Kindes geltend gemacht und liegen für diese die Voraussetzungen für eine qualifizierte Ablehnung als offensichtlich unbegründet nicht vor, scheidet zwangsläufig auch eine Ablehnung nach § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG aus (Heusch in BeckOK, AuslR, Kluth/Heusch, 25. Edition, Stand: 1.3.2020, § 30 AsylG Rn. 52; Marx, Kommentar zum AsylG, 10. Aufl. 2019, § 30 AsylG Rn. 65; Funke-Kaiser/Fritz/Vormeier, GK-AsylG Lieferung 113, 1.10.2017, § 30 AsylG Rn. 141; Schröder in Hofmann, AuslR, 2. Aufl. 2016, § 30 AsylG Rn. 39 sowie VG Würzburg, B.v. 29.4.2020 – W 8 S 20.30486 – juris; B.v. 28.8.2013 – W 6 S 13.30278 – juris; VG Augsburg, U.v. 16.1.2020 – Au 9 K 19.30382 – juris; VG Ansbach, B.v. 4.10.2018 – AN 9 S 18.31173 – juris).
Der hier in der Antragsbegründung vorgebrachte Umstand der Konversion der Eltern zum Christentum und die Tatsache, dass die Antragstellerin ebenfalls selbst christlich getauft wird, und ihr deshalb im Iran als Teil einer christlichen Familie mit eigener christlicher Konfession Verfolgung drohen könnte, sind ein eigener Grund der Antragstellerin in diesem Sinne, der den Offensichtlichkeitsausspruch des § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG ausschließt (Marx, Kommentar zum AsylG, 10. Aufl. 2019, § 30 AsylG Rn. 65; Schröder in Hofmann, AuslR, 2. Aufl. 2016, § 30 AsylG Rn. 39; VG Würzburg, B.v. 29.4.2020 – W 8 S 20.30486 – juris; B.v. 28.8.2013 – W 6 S 13.30278 – juris; VG Augsburg, U.v. 16.1.2020 – Au 9 K 19.30382 – juris Rn. 26; VG Ansbach, B.v. 4.10.2018 – AN 9 S 18.31173 – juris Rn. 15). Die christliche Konfession der Antragstellerin als Tochter von ihrerseits vom Islam zum Christentum konvertierten Eltern betrifft die Antragstellerin unmittelbar selbst in eigener Person und steht neben den von ihren Eltern vorgebrachten Gründen.
Ohne dass es entscheidungserheblich darauf ankommt, ist weiter anzumerken, dass es gewichtige Argumente sowohl im Schrifttum als auch in der Rechtsprechung gibt, die die Vereinbarkeit des § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG mit dem Europäischen Unionsrecht in Zweifel ziehen, weil der betreffende Offensichtlichkeitsgrund nicht in der Asylverfahrensrichtlinie 2013 (RL 2013/32/EU) genannt ist. Denn Art. 31 Abs. 8 RL 2013/32/EU enthält in seiner enumerativen Aufzählung keine rechtliche Grundlage, auf die sich eine nationale Vorschrift wie die des § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG stützen lässt (vgl. Heusch in BeckOK, AuslR, Kluth/Heusch, 25. Edition, Stand: 1.3.2020, § 30 AsylG Rn. 52; Schröder in Hofmann, AuslR, 2. Aufl. 2016, § 30 AsylG Rn. 38; VG VG Augsburg, U.v. 16.1.2020 – Au 9 K 19.30382 – juris; VG Minden, B.v. 30.8.2019 – 10 L 370/19.A – juris; jeweils m.w.N.).
Die Offensichtlichkeitsentscheidung des Bundesamtes lässt sich auf der Basis des § 30 AsylG auch nicht sonst aufrechterhalten. Bezogen auf die von der Antragstellerin geltend gemachten Verfolgungsgründe, konkret die befürchtete Verfolgung als Kind konvertierter Eltern mit eigener christlicher Konfession und als Teil einer christlichen Familie, liegen keine Offensichtlichkeitsgründe des § 30 AsylG vor. Das Bundesamt geht offenbar selbst nicht davon aus, dass insofern die Voraussetzungen des § 30 AsylG – abgesehen von § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG – vorliegen. Auch der mögliche Umstand, dass die ca. 2,5 Monate alte Antragstellerin (zwangsläufig) noch keine eigene Gewissensentscheidung getroffen hat und offenbar die Eltern die Entscheidung über ihre christliche Taufe getroffen haben, rechtfertigt – angesichts der bekannten Verfolgung von Christen im Iran, gerade von zum Christentum konvertierten ehemaligen Moslems (vgl. nur Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran, Stand: Februar 2020, vom 26.2.2020, S. 13. f.) – im Ergebnis nicht die qualifizierte Ablehnung des Asylantrages als offensichtlich unbegründet (vgl. VG Augsburg, U.v. 16.1.2020 – Au 9 K 19.30382 – juris; vgl auch schon VG Würzburg, B.v. 29.4.2020 – W 8 S 20.30486 – juris; B.v. 30.8.2013 – W 6 S 13.30278 – juris).
Liegen nach alledem keine triftigen anderen Gründe für eine Offensichtlichkeitsentscheidung vor, bestehen an der mit Sofortvollzug wirkenden Abschiebungsandrohung ernstliche Zweifel, sodass dem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung stattzugeben war (vgl. VG Ansbach, B.v. 4.10.2018 – AN 9 S 18.31173 – juris; VG Berlin, B.v. 15.3.2017 – 9 L 90.17 A – juris).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
Der Antragstellerin war des Weiteren für das vorliegende Sofortverfahren Prozesskostenhilfe zu bewilligen und ihr Prozessbevollmächtigter beizuordnen, weil sie nach ihren persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnissen die Kosten der Prozessführung nicht aufbringen kann und die beabsichtigte Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung angesichts der vorstehenden Ausführungen – jedenfalls betreffend das Sofortverfahren – hinreichende Aussicht auf Erfolg bietet (§ 166 VwGO, § 114 Satz 1 ZPO, § 121 Abs. 2 ZPO).


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