Verwaltungsrecht

Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbotes für eine alleinstehende Frau ohne familiären Rückhalt bei Rückkehr nach Äthiopien wegen fehlender Möglickeit der Sicherung des Existenzminimums

Aktenzeichen  W 3 K 16.30416

Datum:
8.12.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 3 Abs. 1, Abs. 4, § 4, § 34 Abs. 1
AufenthG AufenthG § 11, § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1

 

Leitsatz

1. Kein Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen exilpolitischer Aktivitäten in Form von einfacher Teilnahme an Demonstrationen der UOSG. (Rn. 18 – 23) (redaktioneller Leitsatz)
2. Keine Gruppenverfolgung bzgl. einer alleinstehenden Frau ohne familiären Rückhalt bei Rückkehr nach Äthiopien. (Rn. 24 – 31) (redaktioneller Leitsatz)
3. Drohende konkrete Gefahr für Leib oder Leben für eine alleinstehende Frau ohne familiären Rückhalt. (Rn. 39) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Ziffer 4 und die Androhung der Abschiebung nach Äthiopien in Ziffer 5, sowie Ziffer 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 29. März 2016 werden aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet, festzustellen, dass bei der Klägerin ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegt.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens tragen die Klägerin und die Beklagte je zur Hälfte. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Gründe

Die Klage ist nur teilweise begründet. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG und die Zuerkennung subsidiären Schutzes. Insoweit wird sie durch den ablehnenden Bescheid des Bundesamtes nicht in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Die Klägerin hat aber Anspruch auf die Zuerkennung eines Abschiebungsverbotes.
1. Der Klägerin kann die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt werden.
Rechtsgrundlage für die begehrte Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist § 3 Abs. 4 und Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl I S.1798), zuletzt geändert durch G. v. 31.7.2016 (BGBl. I S. 1939). Danach wird einem Ausländer, der Flüchtling nach Abs. 1 ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn, er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG. Ein Ausländer ist Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Konvention – GK), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. In den §§ 3 a- 3e AsylG sind nunmehr in Umsetzung von Art. 6 bis 10 der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337/9 v. 20.12.2011) – Qualifikationsrichtlinie (QRL) – die Voraussetzungen für Verfolgungshandlungen, Verfolgungsgründe, Akteure, von denen Verfolgung ausgehen kann, und Akteure, die Schutz bieten können, und für internen Schutz geregelt. Nach § 3c AsylG kann eine Verfolgung nicht nur vom Staat, sondern auch von nicht-staatlichen Akteuren ausgehen. Nach § 3a Abs. 1 AsylG gelten als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Absatz 2 der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nummer 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Zwischen derartigen Handlungen und den in § 3b AsylG näher definierten Verfolgungsgründen muss zudem eine Verknüpfung bestehen (§ 3a Abs. 3 AsylG).
Die Furcht vor Verfolgung ist begründet (§ 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG), wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser in dem Tatbestandsmerkmal „aus der begründeten Furcht vor Verfolgung“ in § 3 Abs. 1 AsylG bzw. Art. 2 Buchstabe d QRL enthaltene Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR), der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“), was dem Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit entspricht (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 32 m.w.N.; U.v. 5.11.1991 – 9 C 118/90 – BVerwGE 89, 162 ff.; BVerwG, U.v. 15.3.1988 – 9 C 278/86 – BVerwGE 79, 143 ff.). Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine qualifizierende Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht der Umstände bei einem vernünftig denkenden besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG; BVerwG, U.v. 5.11.1991 – 9 C 118.90 -; BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25.10 – juris).
Nach Art. 4 Abs. 4 QRL ist die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Vorschrift privilegiert den Vorverfolgten bzw. Geschädigten durch die widerlegbare Vermutung, dass sich eine frühere Verfolgung oder Schädigung bei der Rückkehr in das Heimatland wiederholen wird. Ob die Vermutung durch „stichhaltige Gründe“ widerlegt ist, obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5/09 – juris, Rn. 23).
Das Gericht muss dabei die volle Überzeugung von der Wahrheit des vom Asylsuchenden behaupteten individuellen Schicksals und hinsichtlich der zu treffenden Prognose, dass dieses die Gefahr politischer Verfolgung begründet, erlangen. Angesichts des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich Asylsuchende insbesondere hinsichtlich asylbegründender Vorgänge im Verfolgerland befinden, kommt dabei dem persönlichen Vorbringen des Asylsuchenden und dessen Würdigung für die Überzeugungsbildung eine gesteigerte Bedeutung zu (BVerwG, U.v. 16.04.1985 – 9 C 109/84 – Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 32). Demgemäß setzt ein Asyl- oder Flüchtlingsanspruch voraus, dass der Asylsuchende den Sachverhalt, der seine Verfolgungsfurcht begründen soll, schlüssig darlegt. Dabei obliegt es ihm, unter genauer Angabe von Einzelheiten und gegebenenfalls unter Ausräumung von Widersprüchen und Unstimmigkeiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, der geeignet ist, das Asylbzw. Flüchtlingsbegehren lückenlos zu tragen (BVerwG, U.v. 08.05.1984 – 9 C 141/83 – Buchholz § 108 VwGO Nr. 147).
An der Glaubhaftmachung von Verfolgungsgründen fehlt es in der Regel, wenn der Asylsuchende im Laufe des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält, wenn seine Darstellung nach der Lebenserfahrung oder aufgrund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe unglaubhaft erscheint, sowie auch dann, wenn er sein Asylvorbringen im Laufe des Asylverfahrens steigert, insbesondere wenn er Tatsachen, die er für sein Asylbegehren als maßgeblich bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst sehr spät in das Verfahren einführt (vgl. BVerfG, B.v. 29.11.1990 – 2 BvR 1095/90 – InfAuslR 1991, 94/95; BVerwG, U.v. 30.10.1990 – 9 C 72/89 – Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 135; BVerwG, B.v. 21.07.1989 – 9 B 239/89 – Buchholz 402.25 § 1 AsylVfG Nr. 113).
Die Klägerin hat angegeben, dass ihr Vater und ihre Mutter aufgrund der vermuteten Zugehörigkeit des Vaters zur Oromo-Liberation-Front (OLF) mehrfach inhaftiert wurden und der Vater seitdem verschwunden sei. Diese Übergriffe seien Grund für die Ausreise aus Äthiopien gewesen. Zum damaligen Zeitpunkt war die Klägerin jedoch noch ein Kind und sie hat selbst eingeräumt, nicht persönlich von Verfolgungsmaßnahmen betroffen gewesen zu sein.
2. Die Klägerin hat auch keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen der in der Bundesrepublik Deutschland entfalteten exilpolitischen Aktivitäten.
Das Gericht geht auf der Grundlage der zum Gegenstand des Verfahrens gemachten Erkenntnismittel davon aus, dass staatliche äthiopische Stellen Kenntnis von den oppositionellen Tätigkeiten im Ausland lebender äthiopischer Staatsangehöriger zu erlangen suchen.
Die von der äthiopischen Regierung erstellte Direktive „Richtlinie für den Aufbau der Wählerschaft für den Rest des Jahres 2005/2006“ (vgl. amnesty international, Auskunft an das VG Köln vom 28.04.2008 mit einer auszugsweisen Übersetzung des Wortlauts der Direktive zielt darauf, möglichst umfassend alle im Ausland lebenden Äthiopier namentlich zu erfassen und zu registrieren (vgl. im Einzelnen OVG NW, U.v. 17.08.2010 – 8 A 4063/06.A – juris Rn. 57). Die Informationsbeschaffung erfolgt u.a. durch den Einsatz nachrichtendienstlicher Methoden, insbesondere mit Hilfe von Spitzeln. Dabei richtet sich das besondere Augenmerk auf die Aktivitäten der Auslands-CUD, deren Nachfolgerorganisation UDJ und Ginbot 7, der OLF, der ONLF und der EPRP (vgl. Günter Schröder, Auskunft vom 11.05.2009 an das VG Köln, S. 19). Hierbei ist zu berücksichtigen, dass die äthiopische Exilgemeinde in Deutschland so klein ist, dass auch Organisationen mit örtlich begrenztem Wirkungskreis einer Beobachtung durch staatliche äthiopische Stellen ausgesetzt sind. Dabei bezieht sich das Interesse des äthiopischen Staates nicht nur auf die Mitglieder der beobachteten Parteien, sondern auch auf deren Sympathisanten (BayVGH, Ue.v. 25.02.2008 – 21 B 07.30363 und 21 B 05.31082 – jeweils juris; OVG NW, a.a.O. – juris, Rn. 64; Institut für Afrika-Kunde, GIGA, Auskunft vom 24.04.2008 an das VG Köln).
Auf dieser Grundlage geht das Gericht davon aus, dass die Klagepartei dem äthiopischen Geheimdienst aufgrund ihrer exilpolitischen Tätigkeit bekannt ist, zumal sie sich für die oromische Opposition engagiert.
Unter welchen Voraussetzungen ein exilpolitisches Engagement eine beachtliche Verfolgungsgefahr auslöst, wird in den ins Verfahren eingeführten Berichten und Gutachten unterschiedlich bewertet. Nach Auswertung dieser Berichte und Gutachten ergibt sich zur Überzeugung des Gerichts, dass die Toleranzschwelle des äthiopischen Staates gegenüber exilpolitischen Aktivitäten seiner Staatsangehörigen sehr gering ist, so dass nicht nur medienwirksam exponierte Führungspersönlichkeiten der als terroristisch angesehenen illegalen Opposition bedroht sind. Die Gefahrenabschätzung des Auswärtigen Amtes, dass nur erheblich exponierte Mitglieder von als terroristisch angesehenen Parteien verfolgt würden (Lagebericht des AA vom 18.12.2012), lässt sich nicht durch tatsächliche Erkenntnisse belegen. Aufgrund der vorliegenden Erkenntnisse ist – im Anschluss an die Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs (BayVGH, Ue.v. 25.02.2008 – 21 B 05.31082 – und – 21 B 07.30363- juris) – davon auszugehen, dass jedenfalls Personen, die sich exponiert politisch betätigt haben, mit Verfolgungsmaßnahmen zu rechnen haben. Ausgehend von der niedrigen Toleranzschwelle des äthiopischen Staates kann bei der gebotenen Gesamtbetrachtung der Umstände des Einzelfalls von einer Verfolgungsgefahr bereits dann ausgegangen werden, wenn sich der Asylsuchende aus dem Kreis der bloßen Mitläufer als ernsthafter Oppositioneller hervorhebt (BayVGH, U.v. 25.02.2008 – 21 B 07.30363 – juris; OVG NW, U.v. 17.08.2010 – 8 A 4063/06.A – juris Rn. 94; VG Würzburg, U.v. 13.02.2012 – W 3 K 10.30350 – juris; VG Bayreuth, U.v. 18.01.2013 – B 3 K 11.30156 – juris; VG Ansbach, U.v. 29.08.2011 – AN 18 K 10.30507 – juris; VG München, U.v. 09.08.2012 – M 12 K 12.30434 – juris).
Die Aktivitäten der Klägerin (Teilnahme an Demonstrationen) sind aber nicht geeignet, diese zu exponieren.
3. Der Klägerin droht in Äthiopien keine Gruppenverfolgung als alleinstehende Frau ohne familiären Rückhalt.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann sich die Gefahr eigener Verfolgung für einen Ausländer, der die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 1 AufenthG begehrt, nicht nur aus gegen ihn selbst gerichteten Maßnahmen ergeben (anlassgeprägte Einzelverfolgung), sondern auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet (Gefahr der Gruppenverfolgung). Dabei ist je nach den tatsächlichen Gegebenheiten auch zu berücksichtigen, ob die Verfolgung allein an ein bestimmtes unverfügbares Merkmal anknüpft oder ob für die Bildung der verfolgten Gruppe und die Annahme einer individuellen Betroffenheit weitere Umstände oder Indizien hinzutreten müssen. Die Annahme einer alle Gruppenmitglieder erfassenden gruppengerichteten Verfolgung setzt – abgesehen von den Fällen eines (staatlichen) Verfolgungsprogramms – ferner eine bestimmte Verfolgungsdichte voraus, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigt. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen oder um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht. Voraussetzung für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist ferner, dass die festgestellten Verfolgungsmaßnahmen die von ihnen Betroffenen gerade in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale treffen. Ob eine in dieser Weise spezifische Zielrichtung vorliegt, die Verfolgung mithin „wegen“ eines in § 3 Abs. 1 AsylG genannten Merkmals erfolgt, ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach der erkennbaren Gerichtetheit der Maßnahme selbst zu beurteilen, nicht nach den subjektiven Gründen oder Motiven, die den Verfolgenden dabei leiten. Diese ursprünglich für die unmittelbare und mittelbare staatliche Gruppenverfolgung entwickelten Grundsätze sind prinzipiell auch auf die private Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure übertragbar, wie sie nunmehr durch § 3c Nr. 3 AsylG ausdrücklich als schutzbegründend geregelt ist (BVerwG, U.v. 21.4.2009 – 10 C 11.08 – juris).
Ob Verfolgungshandlungen gegen eine bestimmte Gruppe von Menschen in deren Herkunftsstaat die Voraussetzungen der Verfolgungsdichte erfüllen, ist aufgrund einer wertenden Betrachtung im Sinn der Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung zu entscheiden. Dabei muss zunächst die Gesamtzahl der Angehörigen der von Verfolgungshandlungen betroffenen Gruppe ermittelt werden. Ferner müssen Anzahl und Intensität aller Verfolgungsmaßnahmen, gegen die Schutz weder von staatlichen Stellen noch von staatsähnlichen Herrschaftsorganisationen einschließlich internationaler Organisationen zu erlangen ist, möglichst detailliert festgestellt und hinsichtlich der Anknüpfung an ein oder mehrere unverfügbare Merkmale im Sinne von § 3 Abs. 1 AsylG nach ihrer objektiven Gerichtetheit zugeordnet werden.
Wegen der erforderlichen Anknüpfung an ein asylerhebliches Merkmal kommt bei der Prüfung einer der Klägerin drohenden (Gruppen-)Verfolgung als (alleinstehende) Frau allein die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe in Betracht. Nach § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. Art. 10 Abs. 1 Buchst. d QRL erfordert der Tatbestand einer sozialen Gruppe u.a., dass die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird.
In Anwendung dieser Grundsätze kann nicht festgestellt werden, dass der Klägerin bei einer Rückkehr nach Äthiopien eine Gruppenverfolgung drohen könnte. Zwar sind Frauen in Äthiopien im besonderen Maße dem Risiko von Übergriffen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter ausgesetzt (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Äthiopien: Gewalt gegen Frauen vom 20. Oktober 2010, Äthiopien: Rückkehr einer alleinstehenden jungen Frau vom 13. Oktober 2009; Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 24. Mai 2016). Diese Feststellungen in den vorgenannten Berichten reichen jedoch zur Annahme einer Gruppenverfolgung nicht aus. Nach Würdigung der Erkenntnismittel ist nicht festzustellen, dass für jede (alleinstehende) Frau in Äthiopien ohne weiteres die aktuelle Gefahr eines Übergriffes in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter besteht.
Sofern man als Bezugsgruppe die Gruppe der Frauen als solcher bildet, droht ihnen in Äthiopien keine „allein an das Geschlecht“ anknüpfende – geschlechtsspezifische – Gruppenverfolgung. Wenngleich nach den genannten Auskünften in Äthiopien „täglich geschlechtsspezifische Gewalt“ gegen Frauen und Mädchen stattfindet, bzw. Gewalt gegen Frauen und soziale Diskriminierung „an der Tagesordnung“ sind, ist nicht feststellbar, dass gleichsam jede Frau in Äthiopien ohne weiteres der aktuellen Gefahr sexueller Gewalt – zumal aus flüchtlingsrelevanten geschlechtsspezifischen Gründen – ausgesetzt ist. Abgesehen davon, dass belastbares und differenziertes Zahlenmaterial im Sinne der zitierten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, insbesondere zur Größenordnung der z.B. von Vergewaltigung betroffenen Frauen in Äthiopien fehlt, ist nicht erkennbar, dass Frauen in Äthiopien generell eine derart untergeordnete Stellung hätten, dass sie von der übrigen (männlichen) Gesellschaft als andersartige Gruppe mit deutlich abbzw. ausgegrenzter Identität wahrgenommen würden und als solche generell diskriminierende Unterdrückung von die Menschenwürde verletzender Intensität zu erleiden hätten (vgl. hierzu Treiber in GK-AsylVfG, Stand April 2011, § 60 Rn. 189). Wenngleich nach den vorliegenden Auskünften Frauen in Äthiopien sozial diskriminiert werden und ihnen nach gesellschaftlicher Anschauung lediglich eine dienende Rolle gegenüber dem Mann zugewiesen wird, nehmen Frauen gleichwohl am gesellschaftlichen Leben teil. Insbesondere haben sie grundsätzlich Bewegungsfreiheit, Zugang zu Bildung und Arbeit, Zugang zu medizinischer Versorgung. Zahlreiche Rechtsnormen und staatliche Maßnahmen dienen ausdrücklich dem Schutz der Frauen, z.B. die Strafbarkeit von Zwangsbeschneidung und Zwangsentführungen (vgl. VG Düsseldorf, U.v. 23.5.2013 – 6 K 7333/12.A – juris).
Vor diesem Hintergrund ist nicht ersichtlich, dass Akte sexueller Gewalt gegen Frauen in Äthiopien stets in Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale erfolgen. Können aber die Gewaltakte gegen Frauen nicht durchweg eine in der Weise spezifische Zielrichtung aufweisen, dass sie gerade „wegen“ eines der in § 3 Abs. 1 AsylVfG genannten Merkmale erfolgen, sind sie ihrem Charakter nach jedenfalls zum Teil der allgemeinen Kriminalität zuzuordnen und stellen insoweit keine gezielte Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder des Geschlechts dar (vgl. VG München, U.v. 22.8.2012 – M 25 K 11.30776 – juris; Marx, Flüchtlingsschutz, 2. Aufl. 2012, § 26 Rn. 51). Scheidet damit bereits aus diesen Gründen eine Gruppenverfolgung aus, können die sich in diesem Zusammenhang grundsätzlich anschließenden Fragen, ob bezüglich geschlechtsspezifischer Gewalt das Fehlen eines effektiven staatlichen Schutzes i.S.d. Art. 7 Abs. 2 QRL für Äthiopien anzunehmen ist und ob – gegebenenfalls – dieses Fehlen tatsächlich in flüchtlingsrelevanter Weise eine systematische, die Gruppe weiblicher Kriminalitätsopfer gezielt benachteiligende Schutzversagung darstellt oder ob es lediglich auf bloßer Untätigkeit eines insoweit durchsetzungsunfähigen Staates beruht, auf sich beruhen.
Auch für die Gruppe „alleinstehende Frauen“ lässt sich nach vorstehenden Maßstäben eine Gruppenverfolgung nicht annehmen. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (a.a.O.) berichtet hierzu lediglich, dass die „Mehrzahl“ der Frauen, die allein nach Addis Abeba kommen, in der Prostitution oder als Bedienstete in Haushalten landen, wo sie verschiedenen Formen der Gewalt – auch sexueller Gewalt – ausgesetzt seien. Dies lässt den Schluss auf eine ohne weiteres anzunehmende aktuelle Gefahr der Betroffenheit alleinstehender Frauen in Äthiopien nicht zu. Darüber hinaus ist anhand der vorliegenden Auskünfte weder die ungefähre Größe dieser Personengruppe noch die Zahl von Übergriffen auf alleinstehende Frauen feststellbar. Auch zur ungefähren Größenordnung der Dunkelziffer solcher Übergriffe – von deren Vorliegen an sich auszugehen ist, da insbesondere Fälle von Vergewaltigung in Äthiopien nur selten bekannt werden, weil die Betroffenen eine Anzeige aus Angst, Unwissenheit oder Scham häufig unterlassen – gibt es keine Angaben. Im Übrigen ist auch diesbezüglich nicht ersichtlich, dass diese Straftaten stets gerade auf die Stellung als Frau abzielen und deshalb einen anderen Charakter haben als auch gegenüber Männern verübte Gewaltdelikte. Es fehlt daher auch insoweit die erforderliche Anknüpfung „allein an das Geschlecht“.
4. Kann der Schutzsuchende kein Bleiberecht auf der Grundlage von Art. 16a GG oder § 3 AsylG finden, ist subsidiärer Schutz nach § 4 AsylG zu prüfen. Gemäß Abs. 1 Satz 1 dieser Vorschrift ist ein Ausländer subsidiär schutzberechtigt, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG). In diesem Rahmen sind gemäß § 4 Abs. 3 AsylG die §§ 3c bis 3e AsylG entsprechend anzuwenden.
§ 4 AsylG entspricht Artikel 15 und Artikel 17 QRL. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 bis 3 AsylVfG bilden nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichtes zu den Vorläuferregelungen des § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG einen einheitlichen, in sich nicht weiter teilbaren Streitgegenstand (BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14/10 – DVBl. 2011, 1565 f.; BayVGH, U.v. 20.1.2012 – 13a B 11.30427 – juris).
Vorliegend sind keine Gründe ersichtlich oder vorgetragen, dass der Klägerin bei einer Rückkehr in ihr Heimatland ein ernsthafter Schaden in diesem Sinne droht.
5. Kann der Schutzsuchende keinen subsidiären Schutz erlangen, sind weiter hilfsweise die nationalen Abschiebungsverbote des § 60 Abs. 5 AufenthG und des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG zu prüfen (BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 4/09 – BVerwGE 136, 360).
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten – EMRK – ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Diese Vorschrift verweist auf die EMRK, soweit sich aus dieser zielstaatsbezogene Abschiebungshindernisse ergeben (Hailbronner, a.a.O., § 60 AufenthG, Rn. 145).
Vorliegend ist nicht erkennbar, welches – nicht bereits bei der vorrangigen Prüfung zu berücksichtigende – Recht der EMRK im vorliegenden Fall ein Abschiebungshindernis begründen soll.
6. Die Klägerin hat aber Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbots im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Dies ist vorliegend der Fall. Der Klägerin droht bei einer Rückkehr nach Äthiopien die erhebliche konkrete Gefahr, dass sie das Existenzminimum für sich nicht sicherstellen kann. Nach der Auskunftslage ist es für eine alleinstehende Frau ohne familiären Rückhalt in Äthiopien kaum möglich, das Existenzminimum zu sichern. Nach dem Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 24. Mai 2016 ist die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln nicht in allen Landesteilen und nicht zu jeder Zeit gesichert. Die Existenzbedingungen sind für große Teile der Landbevölkerung äußerst hart und bei Ernteausfällen lebensbedrohend. Die Schweizerische Flüchtlingshilfe (Äthiopien, Rückkehr einer alleinstehenden jungen Frau vom 13.10.2009) führt aus, dass Kinder und alleinstehende Frauen in Äthiopien, die über kein soziales Netz verfügen, sich das Existenzminimum nicht sichern können. Die Mehrzahl der Frauen, die alleine in die Stadt kommen, würden in der Prostitution oder als Bedienstete in Haushalten landen, wo sie verschiedenen Formen der Gewalt, auch sexueller Gewalt, ausgesetzt wären. Es sei schwierig, für eine allein stehende Frau sowohl Unterkunft wie auch einen Arbeitsplatz zu finden. Für den Zugang zu einer Arbeitsstelle benötige man Geld, familiäre Kontakte oder Personen, die über Beschäftigungsmöglichkeiten bzw. über offene Arbeitsstellen informiert seien. Auch die Wohnungssuche sei ohne Unterstützung von Bekannten schwierig. Das Gericht glaubt die Angaben der Klägerin, dass sie ohne jeglichen familiären Rückhalt in Äthiopien dasteht. Ihr Onkel – Bruder der Mutter – hat der Familie vor der Ausreise nur kurzzeitig Hilfe geleistet. Außerdem hat die Klägerin seit sechs Jahren keinen Kontakt zur Familie. Die 21jährige Klägerin machte in der mündlichen Verhandlung noch einen sehr jugendlichen und wenig selbstbewussten Eindruck. Die Klägerin hat gerade erst eine Ausbildung begonnen. Es ist deshalb nicht vorstellbar, dass die Klägerin unter den vorstehend geschilderten widrigen Bedingungen in der Lage wäre, ihr Existenzminimum zu sichern.
Aufgrund dieser konkreten individuellen Gefährdung der Klägerin hat diese Anspruch auf die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG.
7. Die Kostenfolge ergibt sich aus § 155 Abs. 1 und 2 VwGO. Das Gericht ist der Auffassung, dass die in § 30 Satz 1 RVG a.F. angelegte Wertung es rechtfertigt, die Kosten eines auf die Flüchtlingsanerkennung sowie die Feststellung von Abschiebungsverboten gerichteten Klageverfahrens zu halbieren, wenn die Klägerin hinsichtlich ihres auf die Flüchtlingsanerkennung gerichteten Begehrens unterliegt und mit ihrem auf die Feststellung von Abschiebungsverboten gerichteten Begehrens obsiegt (vgl. auch OVG Sachsen, B.v. 17.4.2012 – A 5 A 143/12 – juris). Hiernach ergibt sich die getroffene Kostenquotelung. Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
Vorläufige Vollstreckbarkeit: § 167 Abs. 2 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.

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