Verwaltungsrecht

Flüchtlingseigenschaft, Abschiebungsverbot, Beachtliche Wahrscheinlichkeit, Vorläufige Vollstreckbarkeit, Verwaltungsgerichte, Kostenentscheidung, Informatorische Anhörung, Aufhebung, mündlich Verhandlung, Fluchtalternative, Prozeßbevollmächtigter, Gesamtergebnis des Verfahrens, Subsidiärer Schutzstatus, Einzelrichterübertragung, Vorverfolgung, Bundsverwaltungsgericht, Sachvortrag, Abschiebungsandrohung, Bestimmte soziale Gruppe, Gleichbehandlungsgrundsatz

Aktenzeichen  B 10 K 18.31484

Datum:
28.9.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 40885
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Bayreuth
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3
AsylG § 3a Abs. 2 Nr. 1, 3
AsylG § 3b Abs. 1 Nr. 4

 

Leitsatz

Tenor

1.    Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 20.08.2020 wird in den Ziffern 1 und 3 bis 6 des Tenors aufgehoben.  Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. 
2.    Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens. 
3.    Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.

Gründe

Das Gericht kann trotz des Nichterscheinens eines Vertreters der Beklagten im Termin zur mündlichen Verhandlung entscheiden, da die Beklagte bei der Ladung darauf hingewiesen worden ist, dass bei ihrem Ausbleiben auch ohne sie verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 1 und 2 VwGO).
Die zulässige Klage ist begründet.
Gemäß § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO ist die Verpflichtung der Beklagten auszusprechen, dem Kläger gemäß § 3 Abs. 4 AsylG die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, weil die Ablehnung seines entsprechenden Antrags rechtswidrig und der Kläger dadurch in seinen Rechten verletzt ist. Soweit der Bescheid vom 20.08.2018 dem entgegensteht (Ziffern 1, 5 und 6), ist er gemäß § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO aufzuheben. Ziffer 2 des Bescheides vom 20.08.2018 ist nicht klagegegenständlich, weil die Verpflichtung der Beklagten, den Kläger gemäß Art. 16a Abs. 1 GG als Asylberechtigten anzuerkennen, nicht beantragt wurde. Die Verpflichtung der Beklagten zur Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 AsylG und zur Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG war entsprechend der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwG, Urteil vom 19.04.2018 – 1 C 29/17, juris Rn. 45) nur hilfsweise zu beantragen, sodass eine Entscheidung über Ziffern 3 und 4 des Bescheides vom 20.08.2018 nicht zu treffen ist.
1. Dem Kläger steht ein Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß §§ 3 bis 3e AsylG zu.
Nach § 3 Abs. 1 und Abs. 4 AsylG besteht ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft dann, wenn sich der Ausländer aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will und er keine Ausschlusstatbestände erfüllt.
Nach § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG gilt eine Gruppe insbesondere als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten (lit. a), und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (lit. b); als eine bestimmte soziale Gruppe kann auch eine Gruppe gelten, die sich auf das gemeinsame Merkmal der sexuellen Orientierung gründet; Handlungen, die nach deutschem Recht als strafbar gelten, fallen nicht darunter. Diese gesetzlichen Vorgaben entsprechen auch dem europäischen Recht, wie es Niederschlag in Art. 10 Abs. 1 lit. d Qualifikationsrichtlinie gefunden hat.
Eine Verfolgung i. S. v. § 3 Abs. 1 AsylG liegt nach § 3a AsylG bei Handlungen vor, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention vom 4. November 1959 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG), oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte bestehen, die so gravierend sind, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (§ 3a Abs. 1 Nr. 2 AsylG). Als Verfolgung im Sinne des Abs. 1 können unter anderem gemäß § 3a Abs. 2 AsylG die Anwendung physischer oder psychischer Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt, gesetzliche, administrative, polizeiliche oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewandt werden oder auch unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung gelten. Dabei muss zwischen den genannten Verfolgungsgründen und den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen gemäß § 3a Abs. 3 AsylG eine Verknüpfung bestehen.
Eine solche Verfolgung kann nach § 3c AsylG nicht nur vom Staat ausgehen (Nr. 1), sondern auch von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (Nr. 2) oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in Nr. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (Nr. 3).
In Bezug auf eine Verfolgung wegen Homosexualität hat der Europäische Gerichtshof entschieden, dass Homosexualität als sexuelle Ausrichtung einer Person ein Merkmal i. S. d. § 3b Abs. 1 Nr. 4 lit. a AsylG darstellt, das so bedeutsam für ihre Identität ist, dass sie nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten. Eine bestimmte soziale Gruppe stellen Homosexuelle dann dar, wenn sie in dem betreffenden Drittland eine deutlich abgrenzbare Identität haben, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet werden, vgl. § 3b Abs. 1 Nr. 4 lit. b AsylG (vgl. EuGH, U. v. 7.11.2013 – C-199/12 bis C-201/12 – juris Rn. 41 ff., und vom 25.1.2018 – C-473/16 – juris Rn. 30).
Dabei erlaubt das Bestehen strafrechtlicher Bestimmungen, die spezifisch Homosexuelle betreffen, die Feststellung, dass diese Personen von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet werden. Zwar stellt allein der Umstand, dass homosexuelle Handlungen unter Strafe gestellt sind, als solcher noch keine Verfolgungshandlung dar. Sind hingegen homosexuelle Handlungen mit Freiheitsstrafe bedroht und werden diese Strafen auch tatsächlich verhängt, so ist dies als unverhältnismäßige diskriminierende Bestrafung zu betrachten und stellt somit eine Verfolgungshandlung dar.
Die für die Prüfung des Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zuständigen Behörden können nicht erwarten, dass der Schutzsuchende seine Homosexualität in seinem Herkunftsland geheim hält oder Zurückhaltung beim Ausleben seiner sexuellen Ausrichtung übt, um die Gefahr einer Verfolgung zu vermeiden (vgl. EuGH, U. v. 7.11.2013 – C-199/12 bis C-201/12 – juris Rn. 41 ff.).
Gemessen an diesen Grundsätzen befindet sich der Kläger gemäß § 3 Abs. 1 AsylG aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes Somalia und kann dessen Schutz nicht in Anspruch nehmen, weil er zur sozialen Gruppe der Homosexuellen gehört, die in Somalia eine bestimmte soziale Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG bilden und, wenn sie ihre Homosexualität nicht geheim halten, Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a Abs. 1 und Abs. 2, insbesondere Nrn. 1 und 3 AsylG seitens des somalischen Staates und nichtstaatlicher Akteure im Sinne des § 3c AsylG ausgesetzt sind.
Der Kläger hat im Gerichtsverfahren, insbesondere im Rahmen der informatorischen Anhörung in der mündlichen Verhandlung, seine sexuelle Orientierung als Homosexueller glaubhaft geschildert. Das Gericht hat bei der gebotenen richterlichen Beweiswürdigung aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens die Überzeugung gewonnen, dass der Kläger tatsächlich homosexuell veranlagt ist und seine homosexuelle Ausrichtung zwischenzeitlich in Deutschland auch auslebt. Seine homosexuelle Ausrichtung ist für den Kläger auch so bedeutsam, dass er nicht gezwungen werden kann, sie künftig geheim zu halten. Der Kläger hat in Somalia auch mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit landesweit mit Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG zu rechnen.
a. Der Kläger hat im Rahmen der mündlichen Verhandlung anschaulich und glaubhaft seine Homosexualität dargelegt. Dabei konnte sich die Einzelrichterin gerade auch aufgrund der nicht verbalen Elemente während der informatorischen Anhörung des Klägers, wie seiner Körpersprache, Gestik und Mimik, davon überzeugen, dass der Kläger die Homosexualität nicht lediglich aus asyltaktischen Gründen vorgebracht hat.
Zwar konnte der Kläger zunächst nicht anschaulich darlegen, wann und wie er erstmals bemerkt hatte, auf Männer zu stehen, sondern gab lediglich relativ knapp an, schon seit seiner Kindheit auf Männer zu stehen; bemerkt habe er dies im Alter von ca. 14 Jahren. Jedoch wurden seine Angaben im Laufe der mündlichen Verhandlung – wohl auch aufgrund des zwischenzeitlich zu der Einzelrichterin und dem somalischen Dolmetscher gefassten Vertrauens – deutlich klarer und überzeugender. So konkretisierte er etwa seine Angaben zu seiner Gefühlswelt in Somalia dahingehend, dass es bereits dort einen Jungen gegeben habe, zu dem er sich besonders hingezogen gefühlt habe. Das Thema Sexualität sei zwar allgemein stark tabuisiert gewesen, gelegentlich habe es aber unter Freunden schon entsprechende Gespräche gegeben. Wirklich gewusst, dass er homosexuell ist, habe er damals noch nicht. Wenn er sich allerdings vorgestellt habe, Geschlechtsverkehr zu haben, so sei das – anders als bei seinen Freunden – immer mit einem Mann gewesen. Er habe niemanden gehabt, dem er sich habe anvertrauen können, und deshalb seine Homosexualität versteckt. Dass noch weitergehende Ausführungen des Klägers zu seiner Situation im Heimatland nicht erfolgten, erscheint vor dem Hintergrund, dass er bereits im Februar 2016, und damit im Alter von nur etwas über 14 Jahren, Somalia verließ, nachvollziehbar. Seine Sexualität dürfte für ihn dort wohl aufgrund seines Alters noch nicht die Bedeutung gehabt haben, die sie bei dem inzwischen erwachsenen Kläger nun einnimmt, zumal er angab, erst vor ca. zwei Jahren in Deutschland gemerkt zu haben, wirklich ausschließlich auf Männer zu stehen. Auch letzteres erscheint angesichts dessen, dass der Kläger zu diesem Zeitpunkt erst 16 Jahre alt war, durchaus plausibel.
Sehr stringente und lebensnahe Ausführungen machte der Kläger zu seinen Erfahrungen in Bezug auf seine Homosexualität hier in Deutschland. So schilderte er, dass es ihm, als er bemerkt habe, homosexuell zu sein, zunächst nicht gut gegangen sei. Dies sei seinem ehrenamtlichen Betreuer aufgefallen, woraufhin ihm der Kläger von seiner Homosexualität erzählt habe. Mit Begeisterung sprach der Kläger davon, wie positiv sein Betreuer reagiert und wie er ihn ermutigt habe, sodass er sich schließlich auch seinem Vormund anvertraut habe. Allerdings habe er keinen weiteren Personen in seinem Umfeld von seiner Homosexualität erzählt, da er nach wie vor Angst vor einer schlechten Reaktion habe. Auch dies erscheint angesichts des Verhaltens des Klägers in der mündlichen Verhandlung sehr plausibel. Denn auch während des Gesprächs mit der Einzelrichterin war zu spüren, wie der Kläger sich bei der Beantwortung einzelner Fragen häufig zunächst offenbar schämte und nur zögerlich antwortete, obwohl er die Antworten (beispielsweise zu der Frage, wie die Website heißt, über die er seinen aktuellen Freund kennengelernt hatte) ganz offensichtlich ohne nachdenken zu müssen kannte.
Glaubhaft, da sehr lebensnah, waren auch die Erzählungen des Klägers zu dem Mann, mit dem er sich aktuell häufiger trifft. So war es ihm etwa wichtig, zu betonen, dass zwischen den beiden noch keine richtige Beziehung bestehe, er sich eine solche aber vorstellen könnte und er mit seinem Freund auch schon darüber gesprochen habe. Der Kläger schilderte gemeinsame Aktivitäten mit dem Freund, wie Spaziergänge und Cafébesuche, wie sie den normalen Unternehmungen eines Paares in der Kennenlernphase entsprechen. Zum Geschlechtsverkehr sei es bisher einmal gekommen. Er selbst wünsche sich grundsätzlich auch Kinder und könne sich vorstellen, später einmal gemeinsam mit seinem Partner eines zu adoptieren. Hierüber habe er mit seinem Freund jedoch noch nicht gesprochen. All diese Angaben wirkten schlüssig; insbesondere übertrieb der Kläger hinsichtlich seines Beziehungsstatus und seiner sexuellen Aktivitäten nicht, sondern schilderte vielmehr realistisch eine für einen knapp 19-jährigen jungen Mann altersentsprechende beginnende Partnerschaft.
Der Kläger konnte darüber hinaus Auskunft geben über die Lage für Homosexuelle in seinem Heimatland, wobei er Kenntnisse auch zu aktuellen politischen Entwicklungen diesbezüglich aufwies. Er zeigte sich ferner darüber informiert, wo er in seiner Umgebung Kontakt zu Homosexuellen aufnehmen kann, wobei es angesichts der Affinität Jugendlicher zu sozialen Netzwerken etc. plausibel erscheint, dass der Kläger hier primär das Datingportal „Romeo“ nannte, über das er schon mit mehreren Personen in … geschrieben habe.
Dem Kläger gelang es in der mündlichen Verhandlung auch, nachvollziehbar zu erläutern, warum er in seiner Anhörung vor dem Bundesamt im Juni 2018 noch nicht über seine Homosexualität gesprochen hatte. Er gab hierzu an, damals noch Angst gehabt und seine Homosexualität versteckt zu haben. Erst später habe er den Mut gefunden, seinem ehrenamtlichen Betreuer und – nachdem dieser sehr positiv reagiert hatte – auch seinem Vormund davon zu erzählen. In Anbetracht des Umstands, dass der Kläger bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt erst 16 Jahre alt war, verwundert dieses Verhalten in der Tat nicht. So stellt es schon für in Deutschland aufgewachsene Jugendliche häufig eine Herausforderung dar, über ihre eigene Sexualität in ernsthafter und offener Art und Weise zu sprechen, zumal wenn sich diese außerhalb der – vermeintlichen – „Norm“ befindet. Entsprechend dürfte dies für einen Jugendlichen aus einem Land, in dem Sexualität im Allgemeinen eher ein Tabuthema darstellt, erst recht schwierig sein, zumal der Kläger, der zu diesem Zeitpunkt erst seit ca. einem Jahr in Deutschland lebte, wohl auch noch keine besonderen Erfahrungen mit dem Umgang der deutschen Gesellschaft gegenüber Homosexuellen gemacht haben dürfte. Hinzu kommt, dass der Kläger nach seinen Angaben auch erst etwa in diesem Zeitraum für sich selbst die Sicherheit erlangte, homosexuell zu sein, was es nachvollziehbar macht, dass es zum Zeitpunkt seiner Anhörung beim Bundesamt auch gegenüber seinem Vormund noch nicht zu einem „Outing“ gekommen war. Die Erläuterung des Klägers erscheint darüber hinaus auch deshalb plausibel, weil der Kläger zu keinem Zeitpunkt angab, sein Heimatland wegen seiner sexuellen Orientierung verlassen zu haben. Vielmehr gab er an, erst in Deutschland die endgültige Überzeugung gewonnen zu haben, homosexuell zu sein und seine Neigung in Somalia vor Freunden und Familie geheim gehalten zu haben. Vor diesem Hintergrund dürfte es aus Sicht des Klägers auch keine konkrete Veranlassung gegeben haben, über seine gerade erst entdeckte Sexualität zu sprechen.
b. Das Gericht ist weiter davon überzeugt, dass der Kläger bei einer Rückkehr nach Somalia mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit repressiven Maßnahmen von Vertretern des somalischen Staates, Mitgliedern der Al-Shabaab bzw. von Privatpersonen zu rechnen hätte, sofern er seine Homosexualität und deren Ausleben nicht aus Angst vor Verfolgung unterdrücken und verheimlichen würde. Vor diesem Hintergrund ist es dem Kläger nicht zuzumuten, in sein Heimatland zurückzukehren.
Homosexuellen droht in Somalia nach den überzeugenden Angaben des Klägers, die mit den Informationen aus den vorliegenden Erkenntnisquellen übereinstimmen, flüchtlingsrelevante Verfolgung.
Das Auswärtige Amt führte hierzu im Lagebericht zu Somalia vom 02.04.2020, Seite 17, folgendes aus: „LGBTI-Fragen sind in ganz Somalia tabuisiert. Gleichgeschlechtlicher Verkehr wird nach § 409 des somalischen Strafgesetzbuches mit Gefängnisstrafe von drei Monaten bis zu drei Jahren bestraft; die Scharia und das Gewohnheitsrecht sehen hierfür sogar die Todesstrafe vor. Da das staatliche Rechtssystem nicht funktioniert, viele strafrechtliche Fragen durch Clan-Entscheidungen geregelt werden und es sich um ein gefährliches Tabuthema handelt, liegen keiner Erkenntnisse über die tatsächliche strafrechtliche Verfolgungspraxis vor. Die Betroffenen sind unter diesen Umständen dazu gezwungen, ihre sexuelle Orientierung bzw. geschlechtliche Identität geheim zu halten.“
Diese Erkenntnisse decken sich auch mit den Angaben des Klägers in der mündlichen Verhandlung, der angab, seiner Familie in Somalia bis heute nichts von seiner Homosexualität erzählt zu haben, da diese dann von ihm Abstand nehmen würde. Er gehe zudem davon aus, dass er in Somalia, hätten die Nachbarn oder die nähere Umgebung von seiner Homosexualität erfahren, getötet worden wäre. Nach seinen Kenntnissen gebe es keine Homosexuellen in Somalia, die über ihre sexuelle Identität offen sprechen würden, da dies zu gefährlich sei. Er habe gehört, dass ein homosexueller Mann, der von Al-Shabaab erwischt worden sei, mitgenommen worden und seitdem verschollen sei.
Tatsächlich werden auch nach Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes in den nicht von der Regierung kontrollierten Gebieten Urteile häufig nach traditionellem Recht von Clan-Ältesten gesprochen. In von Al-Shabaab kontrollierten Gebieten werden regelmäßig grausame Körperstrafen verhängt und öffentlich vollstreckt wie Auspeitschen oder Stockschläge, Handamputationen für Diebe, Hinrichtungen für Ehebruch sowie der Opfer von Vergewaltigungen (Auswärtiges Amt, Lagebericht Somalia vom 02.04.2020, Seite 13). Homosexualität ist ein Tabuthema, das damit einhergehende soziale Stigma hindert Angehörige sexueller Minderheiten, ihre sexuelle Identität öffentlich zu machen. Homosexuelle leben unter ständiger Angst, im Falle der Entdeckung geächtet, ausgepeitscht oder sogar getötet zu werden (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, 17.09.2019, Seite 102).
Nach alledem ist davon auszugehen, dass der Kläger aufgrund seiner sexuellen Identität in Somalia zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG gehört und ihm aufgrund dessen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a Abs. 1 und Abs. 2, insbesondere Nrn. 1 und 3 AsylG seitens des somalischen Staates und nichtstaatlicher Akteure im Sinne des § 3c AsylG drohen. Er hat glaubhaft gemacht, homosexuell zu sein und seine Homosexualität aktuell auch auszuleben. Ihm kann nicht zugemutet werden, bei einer Rückkehr seine sexuelle Identität zu verheimlichen oder Zurückhaltung zu üben.
Ob dem Kläger darüber hinaus auch aus den bereits vor dem Bundesamt sowie auch erneut in der mündlichen Verhandlung vorgetragenen Gründen – insbesondere wegen seiner Flucht nach einer versuchten Zwangsrekrutierung durch Al-Shabaab – mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung im Herkunftsland drohen würde, kann angesichts dessen hier dahinstehen.
Dem Kläger ist nach alledem die Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG zuzuerkennen und der angefochtene Bescheid in seinen Ziffern 1 und 3 bis 6 aufzuheben. Die Ausreiseaufforderung nach § 38 Abs. 1 AsylG und die Abschiebungsandrohung waren aufzuheben, weil sie aufgrund der Verpflichtung der Beklagten zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft rechtswidrig sind und den Kläger in seinen Rechten verletzen. Ziffer 3, 4 und 6 des Bundesamtsbescheides sind aus Gründen der Klarstellung aufzuheben.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83 b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus §§ 167 VwGO, 708 ff. ZPO.


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