Verwaltungsrecht

Flüchtlingseigenschaft, Qualifikationsrichtlinie, Befähigung zum Richteramt, Beweiserleichterung, Entscheidungserheblicher Zeitpunkt, Interne Schutzmöglichkeit, Beachtliche Wahrscheinlichkeit, für Dolmetscher, Dolmetschertätigkeit, Vorläufige Vollstreckbarkeit, Verwaltungsgerichte, Inländische Fluchtalternative, Prozesskostenhilfe, Abschiebungsverbot, Einzelrichter, Widerrufsentscheidung, Widerrufsbescheid, Widerrufsverfahren, Zuständige Ausländerbehörde, Verfolgungsgefahr

Aktenzeichen  W 1 K 21.30029

Datum:
17.3.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 6959
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 73

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 14. Dezember 2020 wird aufgehoben.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger zuvor in gleicher Höhe Sicherheit leistet.  

Gründe

Die zulässige Klage, über die auch in Abwesenheit eines Vertreters der Beklagten verhandelt und entschieden werden konnte (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist begründet. Der Bescheid des Bundesamtes vom 14. Dezember 2020, mit welchem die mit Bescheid vom 19. Februar 2016 zuerkannte Flüchtlingseigenschaft widerrufen wurde, erweist sich als rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, sodass er aufzuheben war (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Dies beruht darauf, dass der Kläger in seiner Herkunftsregion weiterhin einer Verfolgungsgefahr nach § 3 AsylG ausgesetzt ist und er im entscheidungserheblichen Zeitpunkt auch nicht auf die Möglichkeit des internen Schutzes nach § 3e AsylG zurückgreifen kann.
Nach § 73 Abs. 1 AsylG ist die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft unverzüglich zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Dies ist insbesondere der Fall, wenn der Ausländer nach Wegfall der Umstände, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, es nicht mehr ablehnen kann, den Schutz des Staates in Anspruch zu nehmen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt. Satz 2 gilt nicht, wenn sich der Ausländer auf zwingende, auf früheren Verfolgungen beruhende Gründe berufen kann, um die Rückkehr in den Staat abzulehnen, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt.
Das Begehren auf Aufhebung einer Widerrufsentscheidung ist begründet, sofern die gesetzlichen Voraussetzungen für den Widerruf nicht erfüllt sind, wobei die verwaltungsgerichtliche Kontrolle uneingeschränkt die Rechtmäßigkeit des Bescheides prüft (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 17.12 -, juris; VGH Baden-Württemberg, U.v. 29.1.2015 – A 9 S 314/12 – juris). Nach § 73 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen für sie nicht mehr vorliegen. Die Voraussetzungen für die ursprüngliche Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft liegen nach Art. 11 der RL 2011/95EU (sog. Qualifikationsrichtlinie) nicht mehr vor, wenn die Gefahr der flüchtlingsrelevanten Verfolgung bei einer Rückkehr nachträglich und dauerhaft weggefallen ist (vgl. BVerwG, U.v. 24.2.2011 – 10 C 3.10 – juris). Die Ursache für den Wegfall der Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft kann in der Person des Ausländers oder in den Verhältnissen im (ehemaligen) Verfolgerstaat begründet liegen (vgl. BVerwG, U.v. 24.2.2011, a.a.O. und U.v. 1.3.2012 – 10 C 7.11 – jeweils juris). Bei der Prüfung, ob die Zuerkennungsvoraussetzungen nicht mehr vorliegen sind dieselben Grundsätze über die Verfolgungswahrscheinlichkeit anzuwenden wie bei der Erstentscheidung (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 10.10 – juris), weshalb der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit hinsichtlich des Prognosemaßstabes Anwendung findet (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25.10 – juris m.w.N.; U.v. 20.2.2013 – 10 C 23.12 – juris). Die Privilegierung eines vorverfolgten Flüchtlings erfolgt durch die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU, wenn der Ausländer frühere Verfolgungshandlungen oder Bedrohungen mit Verfolgung als Anhaltspunkt für die Begründetheit seiner Furcht geltend macht, dass sich die Verfolgung im Falle der Rückkehr in das Heimatland wiederholen werde (vgl. BVerwG, U.v. 22.11.2011 – 10 C 29/10 – juris; BeckOK, AuslR, § 73 AsylG Rn. 17 m.w.N.). Die ursprünglichen Zuerkennungsvoraussetzungen sind auch auf eine inländische Fluchtalternative hin zu überprüfen (vgl. Bergmann, Ausländerrecht, 12. Aufl. 2018, § 73 Rn. 9).
Die seinerzeitige Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für den Kläger beruhte darauf, dass er gegenüber dem Bundesamt glaubhaft vorgetragen hat, dass er von 2011-2013 für die US-Armee als Dolmetscher gearbeitet hat. Aufgrund dessen habe er direkte und indirekte Drohungen erhalten und sei als Verräter und Ungläubiger beschimpft worden. Als die Drohanrufe, E-Mails und verbale Beschimpfungen nicht aufgehört hätten, sei die Familie umgezogen. Auch am neuen Wohnort Kabul und nach Beendigung der Tätigkeit sei der Kläger weiterhin bedroht und beschimpft worden als Ungläubiger und Verräter (vgl. Bescheid des Bundesamtes vom 19.2.2016). In dem dem Bescheid zugrundeliegenden Vermerk vom 16. Februar 2016 wird ebenfalls ausgeführt, dass der Kläger Anfeindungen und Bedrohungen sowohl seitens der Bevölkerung als auch anderer Gruppierungen (Taliban) ausgesetzt gewesen sei. Als afghanischer Ortskraft der US-Streitkräfte sei er einer Gefährdungssituation ausgesetzt gewesen.
Das Gericht ist nicht der Überzeugung, dass im nunmehr entscheidungserheblichen Zeitpunkt eine Wiederholung der früheren Verfolgungsmaßnahmen wegen der früheren Dolmetschertätigkeit für die US-Streitkräfte mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ausgeschlossen ist (vgl. zum Prognosemaßstab: Hailbronner, Ausländerrecht Bd. 2, § 73 Rn. 66 ff. m.w.N.). Denn auch angesichts der zeitlich begrenzten Rückreise des Klägers nach Afghanistan sind unter Berücksichtigung der aktuellen Erkenntnismittellage keine stichhaltigen Gründe gemäß Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie) erkennbar, die dagegen sprechen, dass der Kläger erneut von einer solchen Verfolgung, wie er sie im Heimatland bereits erlitten hat, bedroht wäre.
Zunächst ist festzustellen, dass der Kläger – entgegen der Ausführungen im angegriffenen Bescheid (S. 10) – vorverfolgt aus Afghanistan ausgereist ist und ihm daher die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EU (Qualifikationsrichtlinie) zugutekommt (vgl. BVerwG, U.v. 22.11.2011 – 10 C 29/10 – juris Rn. 25). Die Annahme einer Vorverfolgung scheitert vorliegend nicht am Fehlen des erforderlichen kausalen Zusammenhangs zwischen Verfolgung und Ausreise, wobei dem Zeitfaktor eine herausgehobene Bedeutung zukommt. Soweit das Bundesamt darauf abstellt, dass der Kläger seine Dolmetschertätigkeit im Jahr 2013 beendet hat, Afghanistan jedoch erst im August 2015 verlassen hat, so blendet es hierbei völlig aus, dass der Kläger zentral ebenso erklärt hat, dass er nicht nur während, sondern auch nach Beendigung seiner Tätigkeit für die amerikanische Armee weiterhin bedroht worden sei (vgl. die damalige Anhörungsniederschrift S. 4 f.). Dies lässt sich darüber hinaus auch den Ausführungen im Bescheid vom 19. Februar 2016 sowie dem Vermerk vom 16. Februar 2016 entnehmen. Überdies erscheint es schwerlich vorstellbar, dass dem Kläger ohne die Annahme einer Vorverfolgung im Heimatland ansonsten die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt worden wäre. Die diesbezüglichen Ausführungen im nunmehr streitgegenständlichen Bescheid erscheinen daher konstruiert und nicht nachvollziehbar. Vor diesem Hintergrund ist der erforderliche zeitliche Zusammenhang zwischen einer bevorstehenden Verfolgung und der Ausreise des Klägers nicht in Abrede zu stellen.
Dies zugrunde gelegt mangelt es vorliegend an einem Wegfall der Umstände, die zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft geführt haben, § 73 Abs. 1 Satz 2 AsylG, da die Gefahr der flüchtlingsrelevanten Verfolgung für den Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht nachträglich und dauerhaft weggefallen ist (vgl. BVerwG, U.v. 24.2.2011 – 10 C 3.10 – juris). Vielmehr liegen die Voraussetzungen für eine Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG weiterhin vor.
Bei der Würdigung ist nach Überzeugung des Gerichts von folgendem Sachverhalt auszugehen:
Der Kläger ist angesichts der vorliegenden Unterlagen sowie der insoweit glaubhaften Angaben bei Gericht am 15. August 2019 nach Afghanistan eingereist und angesichts des (Wiedereinreise-)Stempels auf dem Visum für den Iran vom 11. Oktober 2019 an diesem Tag aus Afghanistan ausgereist. Er hat sich mithin acht Wochen lang im Heimatland aufgehalten. Der Zweck der Reise bestand nach glaubhaften Angaben des Klägers in einer Eheschließung, welche aufgrund der vorgelegten Eheurkunde glaubhaft am 28. August 2019 in Afghanistan geschlossen wurde. Im Nachgang hat der Kläger nach Erhalt des (erst) am 9. September 2020 ausgestellten staatlichen Heiratszertifikat bei der deutschen Botschaft in Islamabad einen Antrag auf Familienzusammenführung gestellt, wovon sich das Gericht in der mündlichen Verhandlung durch Einsichtnahme in eine entsprechende Antwort E-Mail der deutschen Botschaft in Islamabad vom 5. Oktober 2020 überzeugen konnte.
Das Gericht ist jedoch nicht überzeugt davon, dass der Kläger bei dieser Eheschließung in seinem Heimatland einer sittlichen Verpflichtung der Gestalt nachgekommen ist, dass die persönliche Eheschließung vor Ort von der Familie der Verlobten zwingend verlangt und eine Stellvertreterehe strikt abgelehnt worden sei, die Verlobte sich bereits habe umbringen wollen sowie für den Fall der Nichtdurchführung durch eine Jirga beschlossen worden sei, dass eine Schwester des Klägers als Kompensation an die entehrte Familie der Braut übergeben werden müsse, was man unter allen Umständen habe vermeiden wollen. Zwar erscheint eine solche Situation unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Verhältnisse in Afghanistan nicht gänzlich ausgeschlossen, allerdings steht der Glaubhaftigkeit nach Überzeugung des Einzelrichters vorliegend entgegen, dass beim tatsächlichen Bestehen einer derartigen erheblichen Drucksituation Anlass sowie gute Erfolgsaussichten bestanden hätten, damit an die zuständige Ausländerbehörde heranzutreten, um sich die Reise genehmigen zu lassen, was der Kläger nicht getan. Sein diesbezüglicher pauschaler Hinweis auf Vorhalt des Gerichts, dass er damals Angst gehabt habe die Wahrheit zu sagen, überzeugt gerade angesichts der angeblich bestehenden Drucksituation, des nicht unerheblichen Entdeckungsrisikos sowie der daraus zu erwartenden negativen Folgen für den Aufenthaltsstatus nicht. Zudem spricht das „scheibchenweise“ Aussagenverhalten des Klägers gegen die Glaubhaftigkeit der geschilderten Drucksituation, indem er gegenüber der Ausländerbehörde zunächst gänzlich bestritten hat, in Afghanistan gewesen zu sein, während er dann von der erzwungenen Hochzeit berichtet hat und erst nach dem Einwand des Bundesamtes zur Möglichkeit der Stellvertreterehe Ausführungen zur Ablehnung derselben durch die andere Familie gemacht hat, was sich jedoch bereits zuvor aufgedrängt hätte mitzuteilen, insbesondere wenn dies wie vorgetragen zwischen den Familien eingehend thematisiert worden sein soll. Überdies fällt auf, dass ein Widerspruch dahingehend besteht, dass der Kläger bei seiner Bundesamtsanhörung hinsichtlich seiner Verlobten erklärt hat, dass diese wegen der bislang nicht durchgeführten Eheschließung zweimal mit Suizid „gedroht“ habe, während der Klägerbevollmächtigte im Schriftsatz vom 20. November 2020 sodann erklärt hat, dass zwei Selbstmordversuche „stattgefunden“ hätten.
Glaubhaft wiederum erscheint allerdings, dass angesichts der Verhältnisse in Afghanistan, gerade unter der Volksgruppe der Paschtunen, der gesellschaftliche Druck generell erheblich ist, um bestimmte bedeutsame Ereignisse, wie etwa auch eine Eheschließung, traditionsgemäß im Heimatland durchzuführen.
Weiterhin als glaubhaft erachtet der erkennende Einzelrichter die Aussagen zu Gestaltung und Umständen des klägerischen Aufenthalts in Afghanistan. So hat der Kläger nachvollziehbar und plausibel vorgetragen, dass er sich nach Ankunft in Kabul zunächst zwei Tage lang in einer Pension aufgehalten hat und seine Eltern dorthin gekommen sind, um ihn wiederzusehen. Sodann ist er auf dem Luftweg nach Herat gereist und hat dort bei einem Klassenkameraden gewohnt. Die Vorbereitungen für die Hochzeit, die – für afghanische Verhältnisse – in einem kleineren Rahmen stattgefunden hat, wurden von dem Freund sowie seinem Vater bewerkstelligt. Nach der Abreise der Eltern und der Ehefrau nach Kabul nach der Hochzeit hat sich der Kläger dann noch einige Zeit bei dem besagten Freund aufgehalten, ohne dass er sich in dieser Zeit in der Öffentlichkeit bewegt hat. Bevor er dann wieder ausgereist ist, ist der Kläger – wie er letztlich glaubhaft versichert hat – erneut nach Kabul geflogen, um sich von seiner Ehefrau und den Eltern zu verabschieden. Hierzu hat er zwei bis drei Tage in Kabul bei einem Freund, der in der Nähe des Flughafens gewohnt hat, aufgehalten. Seine Eltern und die Ehefrau sind zu dem Haus dieses Freundes gekommen und haben sich dort von ihm verabschiedet; in der Stadt ist er während dieser Zeit nicht unterwegs gewesen. Die Ausreise hat dann schließlich via Herat (insoweit existiert das bei den Akten befindliche Inlandsflugticket vom 10.10.2019) nach Mashad stattgefunden.
Aus der Erkenntnismittellage lässt sich entnehmen, dass auch im entscheidungserheblichen Zeitpunkt weiterhin eine erhebliche Bedrohungslage für Personen besteht, die für ausländische Streitkräfte arbeiten, aber auch solchen, die in der Vergangenheit mit den diesen Streitkräften zusammengearbeitet haben. Der UNHCR weist diesbezüglich darauf hin, dass regierungsfeindliche Kräfte Berichten zufolge afghanische Zivilisten, die für die internationalen Streitkräfte als Dolmetscher oder in anderen zivilen Funktionen arbeiteten, bedroht und angegriffen haben. Aus Berichten geht hervor, dass regierungsfeindliche Kräfte gegen ehemalige Mitarbeiter der internationalen Streitkräfte und der Regierung vorgehen. Laut der zugehörigen Fußnote nehmen Bedrohungen und Tötungen ziviler Dolmetscher seit 2014 zu. Diese werden entsprechend dem Sprecher der Taliban als „nationale Verräter“ angesehen (vgl. UNHCR-Richtlinien vom 30.8.2018, S. 49). Laut EASO werden von den Taliban Personen, die für ausländische militärische Streitkräfte arbeiten, insbesondere Dolmetscher, als herausragende Angriffsziele angesehen; diese sind nach dem Taliban-Kodex für eine Exekution vorgesehen. Für Dolmetscher besteht danach generell die begründete Gefahr von Verfolgung (vgl. EASO, Country Guidance: Afghanistan, Dezember 2020, S. 60 f.; EASO, Gezielte Gewalt bewaffneter Akteure gegen Individuen, Dezember 2017, S. 36 f.). Entsprechend Angaben der Schweizerischen Flüchtlingshilfe gehören zivile Beschäftigte der internationalen Sicherheitskräfte wie etwa Übersetzer zu den Zielgruppen der Taliban (vgl. Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Gefährdungsprofile vom 30.9.2020, S. 10). Auch einem aktuellen Bericht von Daily Mail vom 29. Januar 2021 lässt sich entnehmen, dass die zuvor beschriebene Gefährdung gerade auch für frühere Dolmetscher für die internationalen Streitkräfte gerade auch aktuell weiter anhält. So wurden bis zu dem genannten Zeitpunkt des Jahres 2021 bereits drei solche Dolmetscher in Afghanistan ermordet, mindestens einer davon in der Hauptstadt Kabul. Ein weiterer Dolmetscher überlebte in Kabul eine Attacke der Taliban und ein weiterer früherer Dolmetscher entdeckte vor seiner Haustür eine Mine (https://www.dailymail.co.uk/news/article-9203227/Hero-Afghaninterpreter-worked-British-forces-slain-Taliban.html). Generell ist in der jüngsten Vergangenheit und aktuell festzustellen, dass ein Anstieg von zivilen Opfern durch gezielte Tötungen durch die Taliban festzustellen ist (https://unama.unmissions.org/sites/default/files/executive_summary_afghanistan_protection_of_civilians_annual_report_2020_eng_0.pdf).
Dies zugrunde gelegt ist davon auszugehen, dass die Gefahr der flüchtlingsrelevanten Verfolgung für den Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan nicht dauerhaft weggefallen ist. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der Rückreise des Klägers nach Afghanistan im Jahre 2019, wobei eine vorübergehende Rückkehr noch kein zwingendes Indiz für den Wegfall der Verfolgungsgefahr darstellt, wenngleich der Aufenthalt im Heimatstaat nach den Umständen des Einzelfalls ein konkreter Anhaltspunkt dafür sein kann, dass die vom Ausländer für die Anerkennung zugrundegelegte Verfolgungsfurcht nicht mehr besteht. Maßgeblich sind jedoch stets die Umstände des Einzelfalls (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht Bd. 4, § 73 AsylG Rn. 51 f.). Das Gericht ist vorliegend der Überzeugung, dass im Rahmen der Würdigung der konkreten Umstände maßgeblich zu berücksichtigen ist, dass der Kläger sich zum einen nur für einen begrenzten, nicht lange währenden Zeitraum von acht Wochen im Heimatland aufgehalten hat und sich zum anderen während dieses Zeitraums nicht in relevanter Weise in der Öffentlichkeit bewegt hat. Vielmehr hat er – wie oben geschildert – glaubhaft dargelegt, dass er sich sowohl während des kurzen Aufenthalts in Kabul wie auch in Herat in einer Pension bzw. bei Freunden im häuslichen Bereich aufgehalten hat und auch die Hochzeitsvorbereitungen nicht durch ihn selbst bewerkstelligt werden mussten. Die Feierlichkeit selbst war ebenfalls von Örtlichkeit und Teilnehmerkreis her auf den bekannten familiären Kreis beschränkt und dauerte naturgemäß nur für einen kurzen Zeitraum an. Zudem hat der Kläger seinen Aufenthalt in Afghanistan auf die Städte Kabul und Herat beschränkt und hat nicht etwa weitere Verwandte in der Herkunftsprovinz Nangarhar besucht. Auch hat er die erforderlichen Reisen zwischen Kabul und Herat nicht auf dem gefährlichen Landweg zurückgelegt, sondern mittels Inlandsflügen. Auch wenn es sich bei der Rückreise nach Afghanistan ersichtlich um ein unvernünftiges Unterfangen gehandelt hat, so war der Kläger doch bei der konkreten Ausgestaltung seines Aufenthalts – wie geschildert – stets auf Zurückhaltung und damit auf seine Sicherheit bedacht und hat sich insbesondere aus der Öffentlichkeit ferngehalten. Vor diesem Hintergrund kann aus der Tatsache, dass er während der Zeit seines Aufenthalts in Afghanistan nicht von den Taliban bedroht bzw. verfolgt wurde, nicht geschlossen werden, dass dies auch im Falle einer dauerhaften Rückkehr der Fall wäre. Denn es drängt sich – zumal angesichts der hier gegebenen Gestaltung des Aufenthalts im Herkunftsland – auf, dass ein erheblicher Unterschied besteht zwischen einer nur vorübergehenden Rückreise, die den Taliban regelmäßig nicht sehr kurzfristig bekannt werden dürfte und während der der Kläger nicht in die Öffentlichkeit zu treten brauchte, und einer dauerhaften Rückkehr, bei der der Kläger zwingend darauf angewiesen wäre, regelmäßig am öffentlichen Leben teilzunehmen, allein um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Angesichts der entsprechend der Erkenntnismittellage bestehenden erheblichen Gefahren auch für ehemalige Dolmetscher der US-Streitkräfte wie den Kläger ist hier nicht davon auszugehen, dass die Gefahr der flüchtlingsrelevanten Verfolgung dauerhaft weggefallen ist. Dies gilt in besonderer Weise auch deshalb, weil der Kläger vorliegend bereits vorverfolgt ausgereift ist, sodass ihm die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie zugutekommt, und überdies die Schwelle der beachtlichen Wahrscheinlichkeit der Gefährdung umso niedriger anzulegen ist, je größer und schwerwiegender die drohende Rechtsgutsverletzung – hier die konkrete Gefahr der Ermordung – sein würde (vgl. GK AsylG, Funke-Kaiser, § 73 Rn. 28 ff.). Nach alledem besteht weiterhin die beachtliche Wahrscheinlichkeit einer Verfolgung des Klägers wegen seiner früheren Tätigkeit als Dolmetscher für die US-Streitkräfte. Es kann ihm bei verständiger objektiver Würdigung der gesamten Umstände des Einzelfalls daher nicht zugemutet werden, nach Afghanistan zurückzukehren.
Darüber hinaus besteht für den Kläger auch keine interne Schutzmöglichkeit in Afghanistan, § 3e AsylG. Herkunftsregion des Klägers ist die Provinz Nangarhar. Von dort aus ist er aufgrund der dort bereits bestehenden Bedrohungssituation seinerzeit mit der Familie nach Kabul umgezogen, von wo er dann unter dem erneuten Druck der Verfolgung ausgereist ist. Allein letzteres zeigt bereits, dass die Gefährdungssituation für den Kläger nicht nur in der Herkunftsregion, sondern landesweit bestanden hat und auch weiterhin fortbesteht. Auch das Bundesamt geht offensichtlich selbst nicht vom Bestehen einer internen Schutzmöglichkeit aus, da eine solche weder im Zuerkennungsbescheid vom 19. Februar 2016 noch im Widerrufsbescheid vom 14. Dezember 2020 in Betracht gezogen wurde. Darüber hinaus ist das Gericht im vorliegenden Fall davon überzeugt, dass auch andernorts in Afghanistan, etwa in den Städten Herat oder Mazar-e Sharif, eine interne Schutzmöglichkeit für den Kläger nicht gegeben ist, da keine stichhaltigen Gründe dafür ersichtlich sind, dass der Kläger dort nicht erneut von der vorgetragenen Verfolgung bedroht wäre, Art. 4 Abs. 4 Qualifikationsrichtlinie. Entsprechend obiger Ausführungen, auf die vollständig verwiesen wird, ist ein solcher stichhaltiger Grund insbesondere nicht in der kurzzeitigen Rückreise des Klägers zu erblicken, während der er im Heimatland keinen Verfolgungsmaßnahmen ausgesetzt war. Vielmehr handelt es sich bei dem Kläger als ehemaligem Dolmetscher für die US-Armee angesichts der Auskunftslage weiterhin um ein hochrangiges Angriffsziel für die Taliban und dies auch landesweit. Es erscheint daher nur eine Frage der Zeit, bis der Kläger auch andernorts aufgespürt, erkannt und so zur Zielscheibe der Taliban würde.
Nachdem auch eine wirksame Schutzmöglichkeit durch den afghanischen Staat gemäß § 3d AsylG nach der Auskunftslage nicht ersichtlich ist, war der Klage nach alledem mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO, §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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