Verwaltungsrecht

Flüchtlingsrelevante Verfolgung syrischer Staatsangehöriger aufgrund ihrer kurdischen Volkszugehörigkeit

Aktenzeichen  3 A 333/21 MD

Datum:
10.3.2022
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG Magdeburg 3. Kammer
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:VGMAGDE:2022:0310.3A333.21MD.00
Normen:
§ 3a AsylVfG 1992
§ 3 AsylVfG 1992
§ 3b AsylVfG 1992
Spruchkörper:
undefined

Leitsatz

Die kurdische Volkszugehörigkeit syrischer Staatsangehöriger allein begründet ohne Hinzutreten weiterer individueller Gründe keine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG.

Tenor

Die Klage wird abgewiesen.
Die Kläger tragen die Kosten des Verfahrens; Gerichtskosten werden nicht erhoben.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Kläger können die Vollstreckung gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110% des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand

Die Kläger sind syrischer Staatsangehörige kurdischer Volks- und islamischer Religionszugehörigkeit. Die Klägerin zu 1. ist die Mutter der in den Jahren 2014 bis 2021 geborenen Kläger zu 2. – 4. Sie begehren über den von der Beklagten zuerkannten subsidiären Schutzstatus hinaus die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Nach eigenen Angaben reiste die Klägerin zu 1. zusammen mit den Klägern zu 2. und 3. am 14. November 2018 in die Bundesrepublik Deutschland ein, nachdem sie Syrien am 8. November 2018 verlassen hatten. Der Kläger zu 4. wurde am 31. August 2021 in der Bundesrepublik Deutschland geboren. Am 22. September 2021 stellte die Klägerin zu 1. für sich und ihre Kinder unter dem Aktenzeichen einen Asylantrag.
In der am 18. Oktober 2021 durchgeführten persönlichen Anhörung der Klägerin zu 1. durch das Bundesamt gab diese zur Begründung ihres Asylantrags im Wesentlichen an, der kurdischen Minderheit in Syrien anzugehören, welche durch das Regime verfolgt und getötet würde. Weil sie und ihre Kinder Kurden seien, habe sie Angst, von Regimeanhängern gefoltert und umgebracht zu werden.
Auf die Frage, ob ihr persönlich etwas passiert sei, gab die Klägerin an, dass ihre Stadt mit Raketen beschossen worden sei, weshalb ihre Familie ständig habe den Wohnort wechseln müssen. Bei diesen Bombenangriffen seien viele Menschen um ihr Leben gekommen. Auf die Frage, ob sie in der Vergangenheit Probleme wegen ihrer kurdischen Volkszugehörigkeit gehabt habe, erklärte sie, dass sie im Jahr 2011, also vor dem Krieg, von Soldaten komisch angeschaut und schlecht behandelt worden sei.
Mit Bescheid vom 1. November 2021 erkannte das Bundesamt den Klägern subsidiären Schutzstatus zu (Ziffer 1) und lehnte die Asylanträge im Übrigen ab (Ziffer 2). Zur Begründung der Antragsablehnung führte das Bundesamt aus, dass die Furcht der Kläger vor politische Verfolgung nicht begründet sei. Die Kläger seien weder vorverfolgt ausgereist noch habe eine Verfolgung unmittelbar bevorgestanden. Auch im Falle einer Rückkehr sei nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu erwarten, dass ihnen aufgrund ihrer kurdischen Volkszugehörigkeit eine Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG durch den syrischen Staat drohe. Es gebe derzeit keine Hinweise darauf, dass kurdische Volkszugehörige ohne das Hinzutreten weiterer individueller Gründe mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Maßnahmen der syrischen Sicherheitskräfte, die an ihre Volkszugehörigkeit anknüpfen, ausgesetzt seien. Eine Verfolgungsgefahr außerhalb von Gebieten, die unter der Kontrolle islamistischer Extremisten stehen, sei von weiteren Faktoren wie Religion, ihrer (unterstellten) politischen Gesinnung und anderen im Einzelfall relevanten Umständen abhängig. Derartige individuelle gefahrerhöhende Umstände seien für die Kläger nicht ersichtlich, da die Klägerin zu 1. keinerlei Ausführungen dahingehend gemacht habe, dass sie in Syrien politisch aktiv gewesen oder anderweitig in den Fokus des syrischen Staates geraten sei. Angesichts des jungen Alters der Kläger zu 2. bis 4. seien für sie keine gefahrerhöhenden Umstände anzunehmen. Eine beachtlich wahrscheinliche flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung drohe den Klägern im Hinblick auf ihre kurdische Volkszugehörigkeit schon deshalb nicht, weil sie aus einer Stadt (H.) kämen, die von kurdischen Kräften kontrolliert werde. Zudem müsse sich dem syrischen Regime bei lebensnaher Betrachtung aufdrängen, dass es sich bei den Klägern ersichtlich nicht um tatsächliche oder vermeintliche Oppositionelle oder Regimegegner handele, sodass auch im Rahmen einer Gesamtschau jedenfalls keine hinreichend besonderen, individuell gefahrerhöhenden Umstände, die die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft rechtfertigen, erkennbar seien.
Gegen den Bescheid haben die Kläger am 11. November 2021 Klage bei dem erkennenden Gericht erhoben.
Zur Begründung der Klage trugen sie vor, dass syrischen Asylbewerbern ungeachtet zusätzlicher individuell geltend gemachter Gründe der Flüchtlingsstatus zuzuerkennen sei, wenn diese ihr Land illegal verlassen haben, in das westliche Ausland geflohen seien und dort einen Asylantrag gestellt hätten. Dies beruhe darauf, dass die syrische Regierung dieses Verhalten als politisch missbilligte Gesinnung und als Kritik am herrschenden System ansehe. Eine inländische Fluchtalternative sei nicht denkbar, da der internationale Flughafen D. als einziges Ziel einer zwangsweisen Rückführung zur Verfügung stünde, welcher unter der Kontrolle der Regierungskräfte stehe. Erstmals in der mündlichen Verhandlung gab die Klägerin an, sie und ihr Mann (der ein gesondertes Asylverfahren betrieben hat) seien – entgegen ihrer Aussage bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt – politisch interessiert und aktiv gewesen. Sie hätten in den Jahren 2011/2012 nach jeder Kundgebung an Demonstrationen in ihrem Heimatort H. teilgenommen. Ihre Demonstrationsteilnahme und regimekritische Meinung habe sie auch über soziale Medien im Internet kundgetan. Seit es vermehrt zum Einsatz von Waffen gegen die Demonstranten gekommen sei, habe man die Teilnahme eingestellt. Ihre politische Meinung habe sie indes vor ihrer Ausreise zumindest noch im Freundes- und Nachbarkreis kundgetan. Seit ihrer Ausreise sei ihr in Syrien verbliebener Vater mehrfach von Behörden oder dem syrischen Geheimdienst aufgesucht worden, um sich nach dem Aufenthalt der Kläger zu erkundigen.
Die Kläger beantragen,
Ziffer 2. des Bescheides der Beklagten vom 1. November 2021, Az., aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, die Flüchtlingseigenschaft festzustellen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung bezieht sich die Beklagte auf die Ausführungen im streitigen Bescheid.
Wegen der Einzelheiten des Vorbringens der Beteiligten und des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den beigezogenen Verwaltungsvorgang Bezug genommen. Diese sowie die bei der Kammer geführten Erkenntnismittel waren Gegenstand der Entscheidungsfindung.

Entscheidungsgründe

Die Klage, über die nach Übertragung des Rechtsstreits gemäß § 76 Abs. 1 AsylG die Einzelrichterin entscheiden konnte, hat keinen Erfolg.
Eine Entscheidung konnte gemäß § 102 Abs. 2 VwGO auch in Abwesenheit der Beklagten zum Termin der mündlichen Verhandlung ergehen, da diese mit der Ladung auf die Folgen ihres Ausbleibens hingewiesen worden ist.
Die zulässige Klage ist unbegründet.
Die Ablehnung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im streitgegenständlichen Bescheid des Bundesamtes vom 1. November 2021 ist rechtmäßig und verletzt die Kläger nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Die Kläger haben keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
I. Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
Als Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Artikel 15 Abs. 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 (Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK -, BGBl. 1952 II S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist.
Nach § 3b Abs. 1 AsylG ist etwa unter dem Begriff der politischen Überzeugung insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c AsylG genannten potenziellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er auf Grund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist (vgl. § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG). Dabei ist es nicht von Relevanz, ob der Ausländer tatsächlich diese Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung hat, die zur Verfolgung führt. Entscheidend ist, dass ihm eine entsprechende politische Gesinnung von seinem Verfolger zugeschrieben wird (vgl. § 3b Abs. 2 AsylG) (OVG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 1. Juli 2021 – 3 L 154/18 –, juris Rn. 44).
Die Furcht vor Verfolgung ist begründet, wenn dem Ausländer – bei einer hypothetisch unterstellten Rückkehr – die Gefahr politischer Verfolgung aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit droht. Dieser Wahrscheinlichkeitsmaßstab orientiert sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr („real risk“) abstellt. Der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen.
Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Hierbei sind gemäß Art. 4 Abs. 3 Richtlinie 2011/95/EU neben den Angaben des Antragstellers und seiner individuellen Lage auch alle mit dem Herkunftsland verbundenen flüchtlingsrelevanten Tatsachen zu berücksichtigen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann und damit eine (hypothetische) Rückkehr in den Herkunftsstaat als unzumutbar erscheint (vgl. BVerwG, Urt. v. 20. Februar 2013 – 10 C 23.12 – BVerwGE 146, 67). Dies kann auch dann der Fall sein, wenn bei einer „quantitativen“ oder mathematischen Betrachtungsweise ein Wahrscheinlichkeitsgrad von weniger als 50 % für eine befürchtete Verfolgung gegeben ist. Zwar reicht die bloße theoretische Möglichkeit einer Verfolgung nicht aus. Ergeben jedoch die Gesamtumstände die „reale Möglichkeit“ (real risk) einer Verfolgung, wird auch ein verständiger Mensch das Risiko einer Rückkehr in den Heimatstaat nicht auf sich nehmen. Ein verständiger Betrachter wird bei der Abwägung aller Umstände daneben auch die besondere Schwere des befürchteten Eingriffs in einem gewissen Umfang in seine Betrachtung einbeziehen (vgl. BVerwG, Beschl. v. 7. Februar 2008 – 10 C 33.07 – juris Rn. 37; Urt. v. 5. November 1991 – 9 C 118.90 – juris Rn. 17; OVG LSA, Urt. v. 1. Juli 2021 – 3 L 154/18 –, juris Rn. 47).
Der im Tatbestandsmerkmal „aus begründeter Furcht vor Verfolgung“ enthaltende Wahrscheinlichkeitsmaßstab gilt unabhängig von der Frage, ob der Asylantragsteller vorverfolgt ausgereist ist oder nicht. Vorverfolgte werden nach den unionsrechtlichen Vorgaben nicht über einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab, sondern vielmehr über die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU privilegiert. Danach besteht bei dem Antragsteller, welcher bereits vor seiner Ausreise verfolgt wurde bzw. von einer solchen Verfolgung unmittelbar bedroht war, eine tatsächliche Vermutung, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist. Diese Vermutung kann widerlegt werden, sofern stichhaltige Gründe dagegensprechen, dass ihm erneut eine derartige Verfolgung droht (vgl. BVerwG, Urt. v. 1. Juni 2011 – 10 C 25.10 -, juris Rn. 22 zur inhaltsgleichen Regelung in Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU).
II. Ausgehend von diesem Maßstab haben die Kläger im für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
1. Die Kläger sind nicht vorverfolgt ausgereist. In der Vergangenheit liegende, zielgerichtete Verfolgungsmaßnahmen sind nicht vorgetragen worden.
a) Soweit die Klägerin zu 1. angab, im Jahr 2011 von Soldaten wegen ihrer kurdischen Volkszugehörigkeit „komisch“ angeguckt und „schlecht behandelt“ worden zu sein, liegt dies bereits mehr als 10 Jahre zurück. Mithin erfolgten durch die Klägerin keinerlei Angaben, in welcher Form sie schlecht behandelt worden sei. Ein bloßes „komisches“ Anschauen genügt für die Annahme einer asylrechtlich relevanten Verfolgungs-maßnahme nicht. Auch die Angabe, dass sie von diversen Personen, etwa von Behördenmitarbeitern, schlecht behandelt und sexuell belästigt worden sei, sobald diese erkannt hätten, dass sie Kurdin sei, führt nicht zur Annahme einer Vorverfolgung. Die Ausführungen der Klägerin zu diesen Belästigungen verblieben in der mündlichen Verhandlung äußerst pauschal. Die Klägerin führte etwa aus, am Bein berührt worden zu sein. Es erfolgte weder eine zeitliche noch örtliche Einordnung etwaiger Vorkommnisse. Konkrete Angaben, was genau unter den geschilderten „sexuellen Belästigungen“ zu verstehen sei, erfolgten auch auf explizite Nachfrage nicht.
b) Ebenso waren die Kläger nicht von solcher Verfolgung oder einem ernsthaften Schaden aus den in § 3 AsylG genannten Gründen unmittelbar bedroht.
Soweit sich die Klägerin zu 1. – erstmals in der mündlichen Verhandlung – auf eine vor ihrer Ausreise potentiell jederzeit zu befürchtende Verfolgung beruft, da sie sich (zusammen mit ihrem Ehemann) politisch engagiert habe, erscheint diese Aussage nach Überzeugung des Gerichts nicht glaubhaft.
Die Aussage in der mündlichen Verhandlung, sich politisch engagiert und an Demonstrationen teilgenommen zu haben, steht in deutlichen Widerspruch zu den Angaben der Klägerin bei ihrer Anhörung am 18. Oktober 2021 durch das Bundesamt. Die Klägerin wurde durch die bei dem Bundesamt anhörende Entscheiderin ausdrücklich gefragt, ob sie politisch interessiert oder engagiert sei. Die Frage beantwortete die Klägerin mit nein (S. 4 der Anhörung). Ebenso wurde sie gefragt, ob Familienmitglieder von ihr politisch aktiv, insbesondere oppositionell, seien. Auch diese Frage beantwortete sie mit nein (S. 5 der Anhörung). Der gesamten Anhörung beim Bundesamt lassen sich keinerlei Anhaltspunkte für eine politische Aktivität der Klägerin entnehmen. Gleichzeitig schilderte sie indes auf die Frage, ob ihr persönlich etwas passiert sei, dass sie das Land verlassen musste, den zuvor genannten Vorfall, nach welchem sie im Jahr 2011 von Soldaten „komisch“ angeschaut worden sei.
Im Gegensatz hierzu berief sich die Klägerin in der mündlichen Verhandlung unmittelbar und vehement auf ihre vermeintliche Demonstrationsteilnahme und die öffentliche Kundgabe ihrer regimekritischen Meinung, die sie in den Jahren 2011/2012 sogar in öffentlichen Netzwerken geäußert haben will. Auf Nachfrage des Gerichts, wie oft sie an Demonstrationen teilgenommen habe, erfolgten zunächst unkonkrete Antworten wie „sehr oft“ und „nach jeder Kundgebung“. Erst nach Aufforderung des Gerichts, eine Schätzung der Anzahl anzugeben, benannte die Klägerin eine konkrete Zahl, welche sie auf circa 75 bezifferte. Auch auf die Frage, wie viele Teilnehmer die Demonstrationen ungefähr hatte, antwortete die Klägerin vage mit „sehr viele“. Auf Vorhalt, aus welchem Grund ihre politische Überzeugung in der Anhörung vor dem Bundesamt keinerlei Erwähnung fand und sogar explizite Fragen hinsichtlich ihres politischen Engagements verneint worden sind, gab sie an, dass ihr dies zum Zeitpunkt der Befragung durch das Bundesamt entfallen sei. Sie habe sehr unter Stress gestanden und es hätte Probleme mit dem Dolmetscher gegeben. Es erscheint aus Sicht des Gerichts schlichtweg unglaubhaft, dass die Klägerin einen derart wesentlichen Teil ihrer Verfolgungs-geschichte vollständig vergessen hat, insbesondere da sie gleichfalls einen anderen, belangloseren Vorfall aus dem Jahr 2011 schilderte. Dies gilt umso mehr, als dass sie als Hauptgrund für ihre Ausreise im Jahr 2018 in der mündlichen Verhandlung ihre politische Überzeugung angab. Weiterhin ist nicht nachvollziehbar, aus welchen Gründen es nunmehr seit 2011/2012 zu keiner Verfolgung der Klägerin gekommen sein sollte, wenn diese in den genannten Jahren derart aktiv ihre regimekritische Meinung kundgetan habe. Das Gericht ist aus den genannten Gründen davon überzeugt, dass es sich bei dem neuerdings in der mündlichen Verhandlung geäußerten politischen Engagement in den Jahren 2011/2012 und den auch bis zur Zeitpunkt der Ausreise fortgeführten regimekritischen Äußerungen zumindest im Freundes- und Nachbarkreis um eine reine Schutzbehauptung der Klägerin handelt, um eine drohende politische Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG zum Zweck der Zuerkennung des Flüchtlingsstatus zu begründen.
c) Die von der Klägerin geschilderten Bombenangriffe auf ihre Heimatstadt H. stellen indes keine gezielt gegen die Kläger gerichteten Verfolgungsmaßnahmen dar, sondern sind Auswirkung des in Syrien herrschenden Bürgerkriegs, welchem durch die Zuerkennung subsidiären Schutzes durch die Beklagte Rechnung getragen worden ist. Aufgrund der Tatsache, dass der Kläger zu 4. erst in der Bundesrepublik Deutschland geboren ist, scheidet eine Vorverfolgung von Grund auf aus.
Mangels Vorverfolgung sind die Kläger nicht über die Beweiserleichterung des Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU privilegiert.
2. Den Klägern droht auch keine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung aufgrund von Ereignissen, die nach dem Verlassen Syriens eingetreten sind (sog. Nachfluchtgründe, § 28 Abs. 1a AsylG).
a) Eine beachtliche Wahrscheinlichkeit einer flüchtlingsrechtlich relevanten Verfolgung droht den Klägern zunächst nicht deswegen, weil sie illegal aus Syrien ausgereist sind, sich seither (im westlichen) Ausland aufgehalten und dort einen Asylantrag gestellt haben.
Es kann dahinstehen, inwieweit Rückkehrer nach Syrien bei Einreisekontrollen mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit mit grundlosen Festnahmen, Misshandlungen oder Folter durch die syrischen Sicherheitsbehörden zu rechnen haben. Jedenfalls mangelt es an der nach § 3a Abs. 3 AsylG erforderlichen Verknüpfung zwischen einer etwaigen Verfolgungshandlung i.S.d. § 3a Abs. 1, Abs. 2 AsylG und den in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG i.V.m. § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen. Denn aus den vorliegenden Erkenntnismitteln lassen sich keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür entnehmen, dass der syrische Staat Rückkehrern ausschließlich wegen ihrer illegalen Ausreise, der Stellung eines Asylantrages und eines längeren Aufenthaltes im Ausland regelhaft eine oppositionelle bzw. regimefeindliche Gesinnung zuschreibt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, 29. November 2021, S. 30). Dies entspricht inzwischen der einhelligen obergerichtlichen Rechtsprechung (vgl. etwa OVG Sachsen-Anhalt, Urt. v. 1. Juli 2021 – 3 L 154/18: Hessischer VGH, Urt. v. 23. August 2021, Az. 8 A 1992/18.A, 6413413; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 27. März 2019 – A 4 S 335.19; OVG Berlin-Brandenburg, Urt. v. 12. Februar 2019 – OVG 3 B 27.17; OVG Bremen, Urt. v. 24. März 2021 – 2 LB 123.18; OVG Hamburg, Urt. v. 29. Mai 2019 – 1 Bf 284/17.A; Hessischer VGH, Urt. v. 26. Juli 2018 – 3 A 809/18.A; Niedersächsisches OVG, Urt. v. 22. April 2021 – 2 LB 147.18; OVG Nordrhein-Westfalen, Urt. v. 22. März 2021 – 14 A 3439/18.A; OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 12. April 2018 – 1 A 10988.16; OVG Saarland, Urt. v. 14. November 2018 – 1 A 609.17; Sächsisches OVG, Urt.v. 21. August 2019 – 5 A 50/17.A; Schleswig-Holsteinisches OVG, Urt.v. 3. Januar 2020 – 5 LB 34.19; Thüringer OVG, Urt. v. 15. Juni 2018 – 3 KO 155.18; Bayrischer VGH, Urt. v. 23. Juni 2021 – 21 B 19.33586 – alle juris).
b) Auch droht den Klägern aufgrund ihrer kurdischen Volkszugehörigkeit keine flüchtlingsrechtlich relevante Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG.
Nach Überzeugung des Gerichts unter Zugrundelegung der der Kammer zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel ist nicht mit der hierfür erforderlichen, beachtlichen Wahrscheinlichkeit von einer allein an die kurdische Volkszugehörigkeit anknüpfende flüchtlingsschutzrelevante Verfolgung durch den syrischen Staat auszugehen (ebenso: OVG Lüneburg, Urt. v. 22. April 2021 – 2 LB 147/18, Bayrischer VGH, Beschl. v. 30. Juni 2020 – 20 B 19.31187; Bayrischer VGH, Beschl. v. 30. Januar 2020 – 20 B 19.32952, OVG NRW, Urt v. 22. Juni 2018 – 14 A 618/18.A; Schleswig-Holsteinisches OVG, Urt. v. 4. Mai 2018 – 2 LB 62/18 -, alle juris).
Auch wenn hinsichtlich der vom syrischen Regime einschließlich seiner Verbündeten kontrollierten Landesteile von staatlichen und gesellschaftlichen Diskriminierungen der kurdischen Bevölkerung einschließlich einer Einschränkung des Gebrauchs und des Unterrichts der kurdischen Sprache berichtet wird (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformation zur Staatendokumentation Syrien vom 24. Januar 2022, S. 92 f.; U.S. Department of State, Syria 2020 International religious freedom report, S. 13), lassen sich flüchtlingsrechtlich relevante zielgerichtete Verfolgungsmaßnahmen allein aufgrund einer kurdischen Volkszugehörigkeit nicht feststellen (vgl. European Asylum Support Office, Syria, Targeting of individuals, Country of Origin Information Report. 1. März 2020, S. 80).
Der UNHCR ordnet zwar Angehörige ethnischer Minderheiten einschließlich der Kurden den sogenannten Risikoprofilen zu (vgl. UNHCR, 1. März 2021, International Protection Considerations with Regards to People Fleeing the Syrian Arab Republic – Update VI, S. 147 ff.; UNHCR, 30. November 2017, UNHCR-Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehe, S. 59 ff.). Die Situation der Angehörigen ethnischer Minderheiten sei nach Angaben des UNHCR jedoch von der jeweiligen Gegend, in der sie leben, abhängig. Dementsprechend geht der UNHCR davon aus, dass eine Verfolgungsgefahr für Angehörige ethnische Minderheiten außerhalb von Gebieten, die unter der Kontrolle islamistischer Extremisten stehen, von weiteren Faktoren wie ihrer Religion, ihrer (unterstellten) politischen Gesinnung oder anderen im Einzelfall relevanten Umständen abhängt. Dem schließt sich das Gericht an.
Vorliegend stammen die Kläger – mit Ausnahme des in Deutschland geborenen Klägers zu 4. – aus H. im Nordosten Syriens, welches von kurdischen Kräften kontrolliert wird. Insoweit sind ausweislich der genannten Erkenntnismittel, denen das Gericht im Ergebnis folgt, für die Annahme einer Verfolgungsgefahr weiteren einzelfallabhängige Faktoren erforderlich. Individuellen, gefahrerhöhende Umstände in diesem Sinne sind für die Kläger indes nicht ersichtlich, insbesondere da das Gericht aus den zuvor genannten Gründen – entsprechend der Äußerungen der Klägerin in ihrer Anhörung vor dem Bundesamt – nicht von einem politischen Engagement der Klägerin ausgeht. Individuelle Geschehnisse, welche sie in naher Vergangenheit aufgrund ihrer Volkszu-gehörigkeit betrafen und als Indiz für das Vorliegen der genannten individuellen Umstände sein können, schilderte die Klägerin nicht glaubhaft. Angesichts des jungen Alters der Kläger zu 2. bis 4. sind für sie ebenfalls keine gefahrerhöhenden Umstände erkennbar.
Hinzu kommt, dass ausweislich des Berichts des Auswärtigen Amtes über die Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 29. November 2021 sich mit Machtübernahme der kurdischen PYD in Nord- und Nordostsyrien die bis dahin bestehende staatliche Diskriminierung von Kurden und Kurdinnen faktisch entspannt habe, da die kurdische sog. „Selbstverwaltung“ keine rechtliche Unterscheidung zwischen M. und A. vornehme. In der Gesamtbetrachtung stelle sich die menschenrechtliche Situation in den kurdisch kontrollierten Gebieten als insgesamt erkennbar weniger gravierend dar als in den Gebieten, die sich unter Kontrolle des syrischen Regimes oder islamistischer und d. Gruppen befinden (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in der Arabischen Republik Syrien, 29. November 2021, S. 25 f.).
Eine flüchtlingsrelevante Verfolgung allein aufgrund der Volkszugehörigkeit der Kläger zur kurdischen Minderheit liegt damit nicht vor.
c) Auch bei einer Gesamtbetrachtung aller vorliegenden Umstände ergibt sich nach Überzeugung des Gerichts keine beachtliche Wahrscheinlichkeit für eine flüchtlingsrechtlich relevante (politische) Verfolgung im Sinne von § 3 AsylG.
d) Soweit die Klägerin sich – auch erstmals in der mündlichen Verhandlung – dahingehend äußert, dass ihr Vater seit ihrer Ausreise mehrfach durch syrische Behörden oder gar dem syrischen Geheimdienst aufgesucht worden und nach ihrem derzeitigen Aufenthalt gefragt worden sei, sind keinerlei Bezüge zur Volkszugehörigkeit der Kläger oder anderen in § 3 AsylG genannten Gründen ersichtlich.
Die Klage war im Ergebnis daher abzulehnen.
Ergänzend wird auf die Ausführungen der Beklagten im angefochtenen Bescheid verwiesen, welchen das Gericht folgt (§ 77 Abs. 2 AsylG).
II. Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 159 VwGO i. V. m. § 100 Abs. 1 ZPO, § 83b AsylG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 2, Abs. 1 S. 1 VwGO i. V. m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.


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