Verwaltungsrecht

Fristlose Entlassung aus der Bundeswehr wegen gemeinschaftlichen Ladendiebstahls

Aktenzeichen  M 21 S 17.2245

Datum:
17.8.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO VwGO § 80 Abs. 5 S. 1, § 117 Abs. 3 S. 2
WBO WBO § 23 Abs. 6 S. 2
StGB StGB § 25, § 242 Abs. 1
SG SG § 55 Abs. 5, Abs. 6

 

Leitsatz

1 Bei Dienstpflichtverletzungen außerhalb des militärischen Kernbereichs kann regelmäßig auf eine ernstliche Gefährdung der militärischen Ordnung iSd § 55 Abs. 5 SG geschlossen werden, wenn es sich entweder um Straftaten von erheblichem Gewicht handelt, wenn die begründete Befürchtung besteht, der Soldat werde weitere Dienstpflichtverletzungen begehen (Wiederholungsgefahr) oder es sich bei dem Fehlverhalten um eine Disziplinlosigkeit handelt, die in der Truppe als allgemeine Erscheinung auftritt oder um sich zu greifen droht (Nachahmungsgefahr). (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
2 Bei außerdienstlichen Straftaten von geringerem Gewicht (Trunkenheitsfahrt, Ladendiebstahl, Körperverletzung) kommt eine Entlassung erst bei Wiederholung in Betracht. (Rn. 23) (redaktioneller Leitsatz)
3 Die – auch mittäterschaftliche – Begehung eines Ladendiebstahls gehört zu denjenigen Verfehlungen, welche nach verbreiteter öffentlicher Meinung in allen sozialen Schichten und Milieus gleichermaßen anzutreffen sind und auch bei noch so guter Personalführung und Kontrolle nicht gänzlich ausgeschlossen werden können. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Beschwerde gegen die Entlassungsverfügung vom 18. April 2017 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert wird auf 8.952,42 € festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller stand am 18. Mai 2017, an dem ihm über seinen Bevollmächtigten die hier streitgegenständliche Entlassungsverfügung bekanntgegeben wurde, im Dienst der Antragsgegnerin. Er war am 1. Juli 2014 als Anwärter für die Laufbahn der Offiziere des Truppendienstes in die Bundeswehr eingestellt und am 3. Juli 2014 in das Dienstverhältnis eines Soldaten auf Zeit berufen worden. Zuletzt hatte er den Dienstgrad eines Fähnrichs (Besoldungsgruppe A7) erreicht. Seine Dienstzeit war bis dahin auf vier Jahre festgesetzt worden und würde mit Ablauf des 30. Juni 2018 enden. Seinen Dienst hatte er zuletzt als Angehöriger der Offiziersschule der Luftwaffe (OSLw) in Fürstenfeldbruck und Studierender der Luft- und Raumfahrttechnik an der Universität der Bundeswehr München in Neubiberg verrichtet.
Am 12. Dezember 2016 wurde der Antragsteller zu der Absicht angehört, ihn gemäß § 55 Abs. 5 SG fristlos aus der Bundeswehr zu entlassen. Zur Begründung wurde ausgeführt, der zuständige Leiter seiner Studentenfachbereichsgruppe habe am 20. September 2016 mitgeteilt, dass der Antragsteller am 19. September 2016 in einem Baumarkt zusammen mit zwei weiteren Soldaten Waren im Wert eines mindestens dreistelligen Betrags gestohlen habe. Dies stelle nach dem Einzelerlass B118 WDO eine schwere Straftat dar, deren Verfolgung an die Staatsanwaltschaft abzugeben sei. Aufgrund dessen habe der Dienstvorgesetzte mit Schreiben vom 25. Oktober 2016 die Entlassung des Antragstellers aus der Bundeswehr beantragt. Der Sachverhalt sei geklärt. Der Antragsteller habe durch sein Verhalten schuldhaft eine Straftat begangen, welche auch ein Dienstvergehen darstelle. Als Offiziersanwärter in der Bundeswehr sei er daher nicht länger tragbar. Der Leiter Studentenbereich der Universität der Bundeswehr München habe sich dem Entlassungsantrag unter dem 9. November 2016 angeschlossen.
Bei seiner persönlichen Vernehmung am 20. September 2016 hatte der Antragsteller hierzu erklärt, er sei mit zwei Kameraden gegen Mittag des vorigen Tages in den Baumarkt gefahren, um dort einzukaufen. Bereits beim Betreten des Ladens hätten sie, ohne dass einer die anderen angestiftet hätte, verabredet, u.U. etwas mitgehen zu lassen. Beim Durchstreifen des Geschäfts hätten sie dann insgesamt fünf Entfernungsmessgeräte, ein Autobatterie-Ladegerät und einen Türspion im Gesamtwert von ca. 500 bis 600 € in der Absicht an sich genommen, die Ware in einer Tasche durch die Kasse zu schmuggeln. Nachdem der Antragsteller bereits bei der Annäherung an den Kassenbereich zur Kenntnis genommen habe, dass sie unter Beobachtung gestanden hätten und seine Festhaltung bevorstehe, habe er sich ab diesem Zeitpunkt entschlossen, bei der Aufklärung der Tatumstände mit dem Ladenpersonal und der hinzugerufenen Polizei zu kooperieren. Er könne sich nicht erklären, weshalb er sich zu dieser unsinnigen Tat habe hinreißen lassen. Möglicherweise habe dabei eine Rolle gespielt, dass er seit dem 16. September 2016 einer psychischen Belastung unterliege, nachdem ihm seine Eltern mitgeteilt hätten, dass sich der Gesundheitszustand seines Großvaters akut sehr verschlechtert habe und er in der Ferne zu ohnmächtigem Abwarten verurteilt gewesen sei.
Durch seinen Bevollmächtigten erklärte er unter dem 2. Februar 2017, in dem derzeit gegen ihn laufenden Strafverfahren sei bislang keine Entscheidung ergangen. Infolgedessen habe er hinsichtlich der angekündigten dienstrechtlichen Maßnahme als unschuldig zu gelten. Er habe sich im Übrigen nicht strafbar gemacht. Als die beiden anderen Soldaten die Wegnahmehandlung ausgeführt hätten, habe er sich in einem anderen Gang befunden. Ihm könne daher allenfalls vorgeworfen werden, die Vollendung des Diebstahls nicht verhindert zu haben. Die Tasche, in der sich das Diebesgut befunden habe, sei nicht von ihm, sondern einem der beiden anderen aus dem Baumarkt getragen worden. Die bloße Kenntnis, dass die beiden anderen Soldaten möglicherweise einen Diebstahl begehen könnten, erscheine nicht als derart schweres Dienstvergehen, dass ihm nur mit einer Entlassung begegnet werden könne.
Mit Beschluss des Amtsgerichts München vom 23. Februar 2017 wurde das Strafverfahren gegen die drei beteiligten Soldaten unter Auflagen gemäß § 153a StPO eingestellt.
Mit am 18. Mai 2017 bekannt gegebenem Bescheid des Bundesamtes für das Personalmanagement der Bundeswehr (BAPersBw) vom 18. April 2017 wurde der Antragsteller gemäß § 55 Abs. 5 SG mit Ablauf des Tages der Bekanntgabe aus dem Dienstverhältnis eines Soldaten auf Zeit entlassen. Zur Begründung wurden zunächst die Ausführungen im Entlassungsantrag wiederholt. Ergänzend wurde ausgeführt, der Antragsteller befinde sich derzeit im dritten Dienstjahr. Er habe durch die Beteiligung an einem Diebstahl schuldhaft insbesondere gegen seine dienstlichen Pflichten zu einem achtungs- und vertrauenswürdigen Verhalten (§ 17 Abs. 2 SG) verstoßen und damit eine schwerwiegende Dienstpflichtverletzung im Sinne des § 23 Abs. 1 SG begangen. Sein Verbleiben im Dienst würde die militärische Ordnung ernstlich gefährden. Eine ernsthafte Gefahr liege regelmäßig dann vor, wenn die Dienstpflichtverletzung nach Art und Schwere Kernbereiche der militärischen Ordnung oder das Ansehen der Bundeswehr so erheblich gefährdeten, dass der Soldat zumindest als Soldat auf Zeit für die Bundeswehr nicht mehr tragbar sei. Das sei hier der Fall. Durch sein Handeln habe er das Vertrauensverhältnis zu seinem Dienstherrn ernsthaft erschüttert. Ein ungestörtes Vertrauensverhältnis zwischen Vorgesetzten und Untergebenen sei jedoch unverzichtbare Grundlage für die Auftragserfüllung der Bundeswehr. Die begangene massive Pflichtwidrigkeit gebe Anlass, an der Integrität, dem Verantwortungsbewusstsein, der Zuverlässigkeit und dem Pflichtgefühl des Antragstellers nachhaltig zu zweifeln. Die Art und Schwere seiner Dienstpflichtverletzung schädige erheblich Kernbereiche der militärischen Ordnung und das Ansehen der Bundeswehr, so dass er für diese als Soldat auf Zeit nicht mehr tragbar sei. Der Gefahr, die der militärischen Ordnung bei seinem Verbleib in den Streitkräften drohen würde, könne nur mit der sofortigen Beendigung des Dienstverhältnisses als Soldat auf Zeit begegnet werden.
Hiergegen legte der Antragsteller durch seinen Bevollmächtigten am 19. Mai 2017 Beschwerde ein, über die das BAPersBw noch nicht entschieden hat.
Gleichzeitig beantragte der Antragsteller durch seinen Bevollmächtigten bei dem Verwaltungsgericht München nach § 80 Abs. 5 VwGO,
die aufschiebende Wirkung der Beschwerde anzuordnen.
Zur Begründung der Beschwerde und des Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO wurde vorgetragen, nach der Einstellung des Strafverfahrens gemäß § 153a StPO sei nicht (mehr) ersichtlich, auf welche schuldhaft begangene Dienstpflichtverletzung des Antragstellers die Entlassungsverfügung gestützt werden solle. Sämtliche Erklärungen, welche er im Verlauf des bisherigen Verfahrens abgegeben habe, seien hiermit widerrufen. Eigene Ermittlungen zum Nachweis einer Dienstpflichtverletzung habe der Dienstherr nicht angestellt. Die bloße Bezugnahme auf Feststellungen des Dienstvorgesetzten könne eigene Ermittlungen nicht ersetzen. Der Antragsteller sei nicht vorbestraft und auch sonst zu keinem Zeitpunkt negativ auffällig geworden. Die Entlassung sei daher unverhältnismäßig und rechtswidrig. Dem Antragsteller drohe auch ein unwiederbringlicher Schaden, wenn er sein Bachelor-Studium nicht innerhalb der Bundeswehr planmäßig fortsetzen könne.
Die Antragsgegnerin beantragte,
den Antrag abzulehnen.
Zur Begründung wurde vorgetragen, der Gesetzgeber habe durch die Vorschrift des § 23 Abs. 6 Satz 2 WBO bereits allgemeinverbindlich entschieden, dass Rechtsbehelfen gegen Maßnahmen, welche wie hier auf die Beendigung des Wehrdienstverhältnisses abzielten, keine aufschiebende Wirkung zukomme. Zwar sei es richtig, dass die Entlassungsdienststelle vor Erlass einer Entlassungsverfügung eigene Sachverhaltsermittlungen durchzuführen habe. Dies sei jedoch durch die Vernehmung des Antragstellers geschehen und habe zum Ergebnis gehabt, dass aufgrund der von dem Antragsteller hierbei abgegebenen ausdrücklichen und unmissverständlichen Erklärungen an der Erfüllung der Voraussetzungen für seine Entlassung, insbesondere seine charakterliche Eignung als Offizier, keine Zweifel aufkommen ließen. Die Verurteilung wegen schuldhafter Begehung einer Straftat sei dagegen keine förmliche Rechtmäßigkeitsvoraussetzung für den Erlass einer Entlassungsverfügung.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- und der vorgelegten Behördenakten Bezug genommen (§ 117 Abs. 3 Satz 2 VwGO analog).
II.
Der Antrag ist zulässig und begründet.
Nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO kann das Gericht der Hauptsache auf Antrag die aufschiebende Wirkung in den Fällen des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 3 VwGO ganz oder teilweise anordnen. Hierbei trifft das Gericht eine eigene Ermessensentscheidung (vgl. z.B. Schmidt in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, zu § 80, Rn. 71, m.w.N.) darüber, welche Interessen höher zu bewerten sind – die für einen sofortigen Vollzug des angefochtenen Verwaltungsaktes oder die für die Anordnung der aufschiebenden Wirkung streitenden. Im Rahmen dieser Interessenabwägung sind auch die Erfolgsaussichten des Rechtsbehelfs in der Hauptsache als wesentliches, aber nicht alleiniges Indiz zu berücksichtigen (Schmidt, a.a.O., Rn. 72).
Die nach den obigen Ausführungen zu treffende Ermessensentscheidung fällt im vorliegenden Fall zugunsten des Antragstellers aus, weil der in der Hauptsache eingelegte Rechtsbehelf voraussichtlich Erfolg hätte. Aufgrund der im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes gebotenen, aber auch ausreichenden summarischen Prüfung der Sach- und Rechtslage bestehen gegen die Rechtmäßigkeit der von der Antragsgegnerin erlassenen Entlassungsverfügung vom 18. April 2017 Bedenken. Das kraft Gesetzes (§ 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 3 Alt. 1 VwGO, § 23 Abs. 6 Satz 2 WBO) bestehende öffentliche Interesse an der sofortigen Vollziehung der angefochtenen Maßnahme ist daher gegenüber dem privaten Interesse des Antragstellers an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung seiner Beschwerde nachrangig.
Nach § 55 Abs. 5 SG kann ein Soldat auf Zeit während der ersten vier Dienstjahre fristlos entlassen werden, wenn er seine Dienstpflichten schuldhaft verletzt hat und sein Verbleiben in seinem Dienstverhältnis die militärische Ordnung oder das Ansehen der Bundeswehr ernstlich gefährden würde. Die fristlose Entlassung stellt ein Mittel dar, um eine Beeinträchtigung der uneingeschränkten Einsatzbereitschaft zu vermeiden. Sie soll einen künftigen Schaden verhindern und dient allein dem Schutz der Bundeswehr. Sie ist keine Disziplinarmaßnahme zur Erhaltung der beruflichen Integrität der Soldaten auf Zeit, sondern kann zu einer bereits verhängten Disziplinarmaßnahme hinzutreten. Fristlose Entlassung und Disziplinarmaßnahme sind rechtlich nebeneinander stehende, an „abgesehen von der Dienstpflichtverletzung“ unterschiedliche Voraussetzungen anknüpfende Maßnahmen mit unterschiedlichen Zielsetzungen (zu allem: BVerwG vom 09.02.1995 – 2 WDB 2.95 – BVerwGE 103, 212 = NZWehrr 1995, 121 = DokBer B 1995, 275 = Buchholz 236.1 § 55 SG Nr. 14).
Hinsichtlich der materiellen Rechtslage entspricht es der ständigen Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, dass eine Dienstpflichtverletzung im Regelfall eine ernstliche Gefährdung der militärischen Ordnung der Bundeswehr im Sinne des § 55 Abs. 5 SG begründet, wenn sie die Einsatzbereitschaft unmittelbar beeinträchtigt, Wiederholungs- oder Nachahmungsgefahr besteht oder eine erhebliche Straftat darstellt (zuletzt BVerwG vom 16.08.2010 – 2 B 33.10 – NVwZ-RR 2010, 896 = DokBer 2011, 24 = Buchholz 449 § 55 SG Nr. 20). § 55 Abs. 5 SG soll die personelle und materielle Einsatzbereitschaft der Bundeswehr gewährleisten. Die fristlose Entlassung stellt ein Mittel dar, um eine Beeinträchtigung der uneingeschränkten Einsatzbereitschaft zu vermeiden. Bereits aus dem Wortlaut des § 55 Abs. 5 SG ergibt sich, dass diese Gefahr gerade als Auswirkung einer Dienstpflichtverletzung des Soldaten drohen muss. Dies ist von den Verwaltungsgerichten aufgrund einer nachträglichen Prognose zu beurteilen (BVerwG, ebenda). Mit dem Erfordernis, dass die Gefährdung der militärischen Ordnung ernstlich sein muss, entscheidet das Gesetz selbst die Frage der Angemessenheit der fristlosen Entlassung im Verhältnis zu dem erstrebten Zweck und konkretisiert so den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Zwar können Dienstpflichtverletzungen auch dann eine ernstliche Gefährdung der militärischen Ordnung herbeiführen, wenn es sich um ein leichteres Fehlverhalten handelt oder mildernde Umstände hinzutreten. Jedoch ist im Rahmen der Gefährdungsprüfung zu berücksichtigen, ob die Gefahr für die Einsatzbereitschaft der Bundeswehr durch eine Disziplinarmaßnahme abgewendet werden kann (BVerwG, ebenda).
Auf dieser Grundlage haben sich in der Rechtsprechung Fallgruppen herausgebildet, bei denen eine ernstliche Gefährdung der militärischen Ordnung im Sinne des § 55 Abs. 5 SG regelmäßig anzunehmen ist: Dies gilt vor allem für Dienstpflichtverletzungen im militärischen Kernbereich, die unmittelbar die Einsatzbereitschaft beeinträchtigen. Bei Dienstpflichtverletzungen außerhalb dieses Bereichs kann regelmäßig auf eine ernstliche Gefährdung geschlossen werden, wenn es sich entweder um Straftaten von erheblichem Gewicht handelt, wenn die begründete Befürchtung besteht, der Soldat werde weitere Dienstpflichtverletzungen begehen (Wiederholungsgefahr) oder es sich bei dem Fehlverhalten um eine Disziplinlosigkeit handelt, die in der Truppe als allgemeine Erscheinung auftritt oder um sich zu greifen droht (Nachahmungsgefahr). Jedenfalls die beiden letztgenannten Fallgruppen erfordern eine einzelfallbezogene Würdigung der konkreten Dienstpflichtverletzung, um die Auswirkungen für die Einsatzbereitschaft oder das Ansehen der Bundeswehr beurteilen zu können (BVerwG, ebenda).
Vorliegend steht mit einer für das summarische Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes hinreichenden Sicherheit fest, dass der Antragsteller, der zum Zeitpunkt des Erlasses der streitigen Entlassungsverfügung noch keine vier Dienstjahre zurückgelegt hatte, seine Dienstpflichten schuldhaft verletzt hat. Ausweislich des in der vorgelegten Entlassungsakte (Blatt 47/49) befindlichen Protokolls über seine Vernehmung vom 20. September 2016 hat er eingeräumt, am vorigen Tag kurz nachdem er mit zwei Kameraden einen Baumarkt betreten hatte, verabredet zu haben, einen gemeinschaftlichen Ladendiebstahl zu begehen. Als beim Durchstreifen des Ladens ihr Blick auf Entfernungsmessgeräte gefallen sei, hätten sie gemeinsam beschlossen, diese an sich zu nehmen, ohne dafür zu bezahlen. Er selbst habe zwei Exemplare davon aus dem Regal genommen und sie einem der beiden anderen Beteiligten übergeben, damit der sie in seine mitgebrachte Tasche stecke. Anschließend seien sie zu dritt in Richtung Kasse gegangen. Die beiden anderen hätten noch versucht, wegzulaufen; der Antragsteller als letzter in der Reihe habe nicht mehr den Versuch unternommen, sondern sich dem Ladenpersonal widerstandslos gestellt. Sein Tatbeitrag erfüllt demnach, auch wenn er die Tasche mit der Ware nicht selbst aus dem Baumarkt getragen hat, sondern durch einen Mittäter (vgl. § 25 StGB) hat tragen lassen, nach seinem eigenen Vorbringen den Tatbestand eines vollendeten Diebstahls. Denn die Wegnahme im Sinne des § 242 Abs. 1 StGB ist dann vollendet, wenn der Täter die Herrschaft über die Sache derart erlangt hat, dass er sie unbehindert durch den bisherigen Gewahrsamsinhaber ausüben und dieser seinerseits über die Sache nicht mehr verfügen kann. Dass er dabei vom Ladenpersonal beobachtet wurde und dessen Eingreifen gefahrlos zur Wiederherstellung des gebrochenen Gewahrsams führt, schadet nicht. Beim Ladendiebstahl im Selbstbedienungsladen ist eine zur Vollendung des Diebstahls führende Wegnahme auch dann vollzogen, wenn der Täter die entwendeten Gegenstände unter Beobachtung des Personals in die Kleidung oder – wie hier – eine mitgeführte Tasche steckt und die Kassenzone passiert (BGH vom 03.07.1986 – 4 StR 199/86 – BGHR StGB § 242 Abs. 1 Wegnahme 5; vom 18.06.2013 – 2 StR 145/13 – NStZ-RR 2013, 276 = BGHR StGB § 242 Abs. 1 Wegnahme 15). Das Vorbringen des Antragstellers durch seinen Bevollmächtigten vom 2. Februar 2017, er sei an der Tatausführung allenfalls als Mitwisser beteiligt gewesen, ihm könne höchstens vorgeworfen werden, die Tat der anderen nicht verhindert zu haben, ist durch seine eigenen Einlassungen widerlegt. Nachdem er den Wert der Beute mit 500 bis 600 € beziffert hat, handelt es sich zweifelsfrei nicht mehr um den Diebstahl geringwertiger Sachen. Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist eine Sache geringwertig im Sinne von § 243 Abs. 2 StGB, wenn sie die Wertgrenze von 25 € nicht übersteigt (BGH vom 09.07.2004 – 2 StR 176/04 – BGHR StGB § 248a Geringwertig 1).
Gleichwohl ist die Kammer der Auffassung, dass die gesetzlichen Voraussetzungen des § 55 Abs. 5 SG hier nicht erfüllt sind, weil es sich vorliegend um eine außerdienstliche Verfehlung handelt und die obigen Voraussetzungen, unter denen die Dienstpflichtverletzung auch bei diesem Tatspektrum auf eine ernstliche Gefährdung der militärischen Ordnung oder des Ansehens der Bundeswehr schließen lässt, nicht bejaht werden können.
In dem ermessenslenkenden Erlass ZDv 14/3 Nr. B 118 WDO ist Diebstahl als „schwere Straftat“ eingestuft und über die Behandlung einer derartigen Verfehlung folgendes bestimmt: „Bei den im Anhang 2 aufgeführten schweren Straftaten liegen die Voraussetzungen, unter denen die Abgabe nach Nummer III geboten ist, regelmäßig vor. Diese Straftaten gibt der Disziplinarvorgesetzte an die Staatsanwaltschaft ab, soweit nicht im Einzelfall eine Ausnahme gerechtfertigt erscheint. Ausnahmen können bei leichteren Fällen von Vergehen nach dem Strafgesetzbuch oder dem Wehrstrafgesetz (WStG) etwa dann angebracht sein, wenn es sich bei einem sonst untadeligen Soldaten um eine als einmalige Entgleisung anzusehende Kurzschlusshandlung handelt. Auf die Höhe der zu erwartenden Strafe kommt es nicht in erster Linie an; maßgebend sind stets die Umstände des Einzelfalls. Besonderes gilt für den Diebstahl geringwertiger Sachen, der regelmäßig nicht als schwere Straftat anzusehen ist. Er wird grundsätzlich nur auf Antrag des Verletzten verfolgt (§ 248a, § 77 StGB), wenn nicht die Strafverfolgungsbehörde wegen des besonderen öffentlichen Interesses von Amts wegen einschreitet. Daher ist in derartigen Fällen stets zu prüfen, ob nicht die Aufrechterhaltung der militärischen Ordnung trotz des geringen Wertes der Sache ein besonderes dienstliches Interesse an der Strafverfolgung begründet (z.B. bei Kameradendiebstahl in der dienstlichen Unterkunft). Gehört die gestohlene Sache dem Dienstherrn und dient sie der Einsatzbereitschaft der Bundeswehr, kommt es in der Regel nicht darauf an, ob sie nur von geringem Wert ist (z.B. bei Benzindiebstahl).“
Damit hat der Dienstherr hinreichend deutlich zum Ausdruck gebracht, dass er auch eine außerhalb der dienstlichen Sphäre, also im Privatbereich begangene Straftat als grundsätzlich, wenn auch nicht ausnahmslos, geeignet ansieht, die militärische Ordnung und das Ansehen der Bundeswehr ernstlich zu gefährden.
Die aufgrund dieser Erlasslage zum Ausdruck kommende Neigung der Antragsgegnerin, auch Dienstpflichtverletzungen außerhalb des militärischen Kernbereichs ohne Berücksichtigung fallbezogener Umstände als ernstliche Gefährdung der militärischen Ordnung zu behandeln, ist jedoch nicht immer vertretbar. So ist etwa entschieden worden, dass sich der Diebstahl von Dosen aus einem in der Kaserne aufgestellten privaten Getränkeautomaten nicht unbedingt als „typisches Teilstück einer als allgemeine Erscheinung auftretenden Neigung zu Disziplinlosigkeiten“ darstellen muss (OVG Münster vom 31.01.1991 – 1 A 1330/88 – juris). Auch ein im Rausch begangener Raubversuch von erheblicher Schwere hat letztlich nicht zur Rechtmäßigkeit der fristlosen Entlassung geführt, da die Dienstpflichtverletzung im entschiedenen Fall als Affekthandlung ohne Wiederholungsgefahr und nicht als Teilstück einer als allgemeine Erscheinung auftretenden Neigung zu Disziplinlosigkeit angesehen wurde (BVerwG vom 20.06.1983 – 6 C 2.81 – NJW 1984, 938 = ZBR 1981, 323 = DokBer B 1983, 253 = Buchholz 238.4 § 55 SG Nr. 11). Selbst wenn grundsätzlich davon auszugehen sei, dass das Begehen einer objektiv schwerwiegenden, von der Rechtsordnung als Verbrechen (§§ 255, 250, 12 StGB) missbilligten Straftat dazu führe, dass das Ansehen der Bundeswehr ohne fristlose Entlassung des Täters ernstlich gefährdet wäre, dürfe auch hier die Wirkung einer alternativ möglichen Disziplinarmaßnahme nicht außer Acht gelassen werden (BVerwG, ebenda). Zusammenfassend wird bei außerdienstlichen Straftaten von geringerem Gewicht (Trunkenheitsfahrt, Ladendiebstahl, Körperverletzung) eine Entlassung erst bei Wiederholung in Betracht kommen (Walz/Eichen/Sohm, Soldatengesetz, 3. Aufl. 2016, zu § 55, Rn. 78). Auch die Judiaktur zur ernstlichen Gefährdung des Ansehens der Bundeswehr ist sehr einseitig auf verfassungsfeindliche Betätigungen wie die Verwendung nationalsozialistischer Symbole und Ausdrucksformen sowie rassistische Äußerungen ausgerichtet (vgl. zuletzt VG Regensburg vom 28.06.2017 – RN 1 K 16.1581 – juris; OVG Schleswig vom 19.10.2015 – 2 LB 25/14 – juris).
Im vorliegenden Fall steht die Begehung einer Straftat von geringerem Gewicht inmitten und nicht einmal die Antragsgegnerin behauptet, Grund zu der Befürchtung zu haben, der Antragsteller werde weitere einschlägige Dienstpflichtverletzungen begehen (Wiederholungsgefahr) oder das Fehlverhalten stelle sich als Disziplinlosigkeit dar, die in der Truppe als allgemeine Erscheinung auftrete oder um sich zu greifen drohe, so dass Nachahmungsgefahr bestehe.
Somit käme es zur Bejahung des Tatbestandes des § 55 Abs. 5 SG maßgeblich auf das Vorliegen von Umständen an, welche eine ernsthafte Gefährdung des Ansehens der Bundeswehr besorgen ließen. Auch das wird von der Antragsgegnerin nicht oder allenfalls am Rande gesehen und kann hier nicht wirklich angenommen werden. Eine ernste Ansehensgefährdung wird regelmäßig dann indiziert sein, wenn die zu beurteilende Verfehlung eines oder mehrerer Soldaten geeignet ist, bestehende Vorurteile gegen die Bundeswehr zu bestätigen, etwa dergestalt, dass dort sorglos mit öffentlichem Eigentum umgegangen werde, es sich um ein Sammelbecken von Anhängern nationalsozialistischen Gedankenguts handle, Alkohol- und Betäubungsmittelabusus, sexuelle Übergriffe und archaische Aufnahmerituale verbreitet seien oder ein unseliger Korpsgeist herrsche. Von alledem kann vorliegend nicht die Rede sein. Vielmehr gehört die – auch mittäterschaftliche – Begehung eines Ladendiebstahls zu denjenigen Verfehlungen, welche nach verbreiteter öffentlicher Meinung in allen sozialen Schichten und Milieus gleichermaßen anzutreffen sind und auch bei noch so guter Personalführung und Kontrolle nicht gänzlich ausgeschlossen werden können, weil es überall „schwarze Schafe“ gebe. Die Kammer geht nach alledem davon aus, dass die von dem Antragsteller begangene Dienstpflichtverletzung im Ganzen nicht geeignet ist, eine ernstliche Gefährdung des Ansehens der Bundeswehr herbeizuführen.
Demnach war die aufschiebende Wirkung der eingelegten Beschwerde anzuordnen.
Abschließend weist die Kammer noch darauf hin, dass sie in dem Parallelverfahren eines der beiden Mittäter des Antragstellers mit Beschluss vom 10. August 2017 (Az. M 21 S. 17.1958) den Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Beschwerde abgelehnt hat. Die im Fall jenes Antragstellers verfügte Entlassung war – unter Beachtung des § 55 Abs. 6 Satz 2 SG – auf § 55 Abs. 4 SG gestützt und hielt der nach Maßgabe der zu § 55 Abs. 4 Satz 2 SG entwickelten Grundsätze eingeschränkten gerichtlichen Überprüfung stand. Die Bedenken gegen die (charakterliche) Eignung des Soldaten auf Zeit zum Offizier, welche im Übrigen auch im vorliegenden Fall durchaus geäußert wurden (vgl. Blatt 45 der Entlassungsakte) – wenn auch für die angewandte Norm nicht ausfüllend –, wurden von der Kammer geteilt. Das Gericht hält es daher für möglich (und nach der Soll-Vorschrift des § 55 Abs. 4 Satz 2 SG auch intendiert), gegen den Antragsteller eine nunmehr auf diese Vorschrift gestützte Entlassung zu prüfen. Eine Umdeutung des auf § 55 Abs. 5 SG gestützten angefochtenen Bescheids vom 18. April 2017 nach § 47 VwVfG wurde geprüft, war aber nicht möglich, weil u.a. der Erlass einer auf § 55 Abs. 4 SG gestützten Entlassung eine andere als die „geschehene Verfahrensweise“ voraussetzt (vgl. § 55 Abs. 6 Satz 2 SG). Der über § 55 Abs. 6 Satz 1 SG anzuwendende § 47 Abs. 3 SG sperrt jedoch den Erlass einer weiteren Entlassungsverfügung nicht, weil nach den Umständen nichts dafür spricht, dass ein Fall des § 46 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 oder 3 SG gegeben sein könnte. Bei dieser Sachlage unterliegt der Erlass einer Verfügung nach § 55 Abs. 4 SG richtigerweise nicht der Fristbestimmung des § 47 Abs. 3 SG (vgl. VG Augsburg vom 15.12.2005 – Au 2 K 04.508 – juris).
Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 53 Abs. 3 Nr. 2, § 52 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 GKG, wobei die Hälfte des fiktiven Jahressolds des Antragstellers im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes nach Nr. 1.5 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013 (www…de/informationen/streitwertkatalog.php) noch einmal zu halbieren war.

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