Verwaltungsrecht

Herkunftsland Aserbaidschan, Folgeantrag, herausgehobene exilpolitische Betätigung, Steigerung nach unanfechtbarem Abschluss des Erstverfahrens, Regelvermutung nicht widerlegt, inhaltliche Kontinuität

Aktenzeichen  W 7 K 21.30163

Datum:
28.10.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 40179
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3e
AsylG § 4 Abs. 1 S. 2 Nr. 2
AsylG § 28 Abs. 1a
AsylG § 28 Abs. 2

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin den subsidiären Schutzstatus gemäß § 4 AsylG zuzuerkennen. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 29. Januar 2021, Az.: …, wird aufgehoben, soweit er dieser Verpflichtung entgegensteht.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Die Kosten des Verfahrens tragen die Klägerin und die Beklagte jeweils zur Hälfte. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die jeweilige Vollstreckungsschuldnerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des jeweils zu vollstreckenden Kostenbetrages abwenden, wenn nicht die jeweilige Vollstreckungsgläubigerin vor der Vollstreckung in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Gründe

Die zulässige Klage, über die das Gericht gemäß § 102 Abs. 2 VwGO auch in Abwesenheit eines Vertreters der Beklagten verhandeln und entscheiden kann, ist nur in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.
Die Klägerin hat Anspruch auf die Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG, weil ihr aufgrund herausgehobener exilpolitischer Betätigung bei Rückkehr nach Aserbaidschan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit die Gefahr eines ernsthaften Schadens droht (dazu nachfolgend 1.). Die Klägerin hat dagegen keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, weil diese gemäß § 28 Abs. 2 AsylG ausgeschlossen ist; Ziffer 1 des Bescheides ist daher rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO; dazu 2.).
1. Die Klägerin hat Anspruch auf die Zuerkennung des subsidiären Schutzes gemäß § 4 Abs. 1 AsylG. Diese Zuerkennung ist nicht gemäß § 28 Abs. 2 AsylG ausgeschlossen, weil der Gesetzgeber die widerlegbare Vermutung, dass selbstgeschaffene subjektive Nachfluchtgründe nach dem unanfechtbaren Abschluss des Erstverfahrens asyltaktisch motiviert und damit rechtsmissbräuchlich sind, ausdrücklich nur für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgestellt hat (Heusch in Kluth/Heusch, Ausländerrecht, Stand 1.7.2021, Rn. 39 zu § 28 AsylG). Eine entsprechende Anwendung der Missbrauchsvermutung auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes zu Lasten der Klägerin scheidet aus, weil es sich bei § 28 AsylG um ein geschlossenes Regelungskonzept handelt, welches die Regelungen des Art. 5 der RL 2011/95/EU unionsrechtskonform im deutschen Recht umsetzt.
a) Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Subsidiären Schutz kann nur beanspruchen, wem mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt nach § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (Nr. 1), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (Nr. 2) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (Nr. 3). § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG dient der Umsetzung der Begriffsdefinition des ernsthaften Schadens in Art. 15 der RL 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (ABl. L 337, 9, ber. ABl. 2017 L 167, 58 – sog. Anerkennungsrichtlinie oder Qualifikationsrichtlinie). Zur Auslegung des § 4 Abs. 1 Satz 2 AsylG ist daher Art. 15 RL 2011/95/EU heranzuziehen (richtlinienkonforme Auslegung).
Der Begriff der unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung in Art. 15 Buchst. b) RL 2011/95/EU beruht seinerseits auf Art. 3 der Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 in der Fassung der Bekanntmachung vom 22. Oktober 2010 (BGBl. II, 1198 – Europäische Menschenrechtskonvention, EMRK). Die Art der Behandlung oder Bestrafung nach § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG muss daher eine Schwere erreichen, die dem Schutzbereich des Art. 3 EMRK zuzuordnen ist und für den Fall, dass die Schlechtbehandlung von nichtstaatlichen Akteuren ausgeht, muss der Staat erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sein, Schutz zu gewähren (§ 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG i.V.m. § 3c Nr. 3 AsylG). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) zu Art. 3 EMRK ist eine unmenschliche Behandlung die absichtliche, d.h. vorsätzliche Zufügung schwerer körperlicher oder seelischer Leiden (EGMR, U.v. 21.1.2011 – M. S. S., Nr. 30696/09 – NVwZ 2011, 413, Rn. 220 m.w.N.; Jarass, Charta der Grundrechte, Art. 4 Rn. 9; Hailbronner, Ausländerrecht, § 4 AsylVfG Rn. 22 ff.), die im Hinblick auf Intensität und Dauer eine hinreichende Schwere aufweisen (EGMR, U.v. 11.7.2006 – Jalloh, Nr. 54810/00, NJW 2006, 3117, 3119 Rn. 67; Jarass, a.a.O.; Hailbronner, a.a.O.). Es muss zumindest eine erniedrigende Behandlung in der Form einer einen bestimmten Schweregrad erreichenden Demütigung oder Herabsetzung vorliegen. Diese ist dann gegeben, wenn bei dem Opfer Gefühle von Furcht, Todesangst und Minderwertigkeit verursacht werden, die geeignet sind, diese Personen zu erniedrigen oder zu entwürdigen und möglicherweise ihren psychischen oder moralischen Widerstand zu brechen (vgl. Hailbronner, Ausländerrecht, § 4 AsylVfG Rn. 22 ff.). Der Gerichtshof hat wiederholt entschieden, dass die Misshandlung ein Mindestmaß an Schwere erreichen muss, um unter Art. 3 EMRK zu fallen. Die Beurteilung dieses Mindestmaßes ist relativ und hängt von allen Umständen des Einzelfalls ab, wie die Dauer der Behandlung und ihre physischen und psychischen Wirkungen und manchmal das Geschlecht, das Alter und der Gesundheitszustand des Opfers (EGMR, U.v. 21.1.2011 – M. S. S., Nr. 30696/09 – NVwZ 2011, 413, Rn. 220 ff. m.w.N.).
Nach § 28 Abs. 1a AsylG kann die begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 oder die tatsächliche Gefahr, einen ernsthaften Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG zu erleiden, auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Ausländer das Herkunftsland verlassen hat, insbesondere auch auf einem Verhalten des Ausländers, das Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsland bestehenden Überzeugung oder Ausrichtung ist. Damit steht in Übereinstimmung mit Art. 5 Abs. 1 und 2 RL 2011/95/EU fest, dass die Zuerkennung internationalen Schutzes in der Gestalt des Flüchtlingsschutzes nach §§ 3 ff. AsylG oder des subsidiären Schutzes nach § 4 AsylG nicht ausgeschlossen ist, wenn die Gefahr eines ernsthaften Schadens auf selbst geschaffenen (subjektiven) Nachfluchtgründen beruht. Eine Einschränkung enthält § 28 Abs. 2 AsylG. Danach kann, wenn der Ausländer nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines Asylantrags erneut einen Asylantrag stellt und diesen auf Umstände stützt, die er nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung seines früheren Antrags selbst geschaffen hat, in einem Folgeverfahren in der Regel die Flüchtlingseigenschaft im Sinne der §§ 3 ff. AsylG nicht zuerkannt werden (dazu 2.). Die Zuerkennung des subsidiären Schutzes im Sinne des § 4 AsylG ist mit dieser Regelvermutung aber ausdrücklich nicht ausgeschlossen (Heusch in Kluth/Heusch, Ausländerrecht, Stand 1.7.2021, Rn. 39 zu § 28 AsylG).
b) Gemessen an den vorgenannten Grundsätzen droht der Klägerin im vorliegenden Einzelfall zur vollen Überzeugung des Gerichts (§ 108 Abs. 1 VwGO) aufgrund ihrer exilpolitischen Betätigung im Falle der Rückkehr nach Aserbaidschan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG durch den aserbaidschanischen Staat.
Zwar geht das Gericht aufgrund der in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel und im Anschluss an die Rechtsprechung anderer Verwaltungsgerichte nicht davon aus, dass jede, wie auch immer geartete exilpolitische Betätigung zugunsten einer oppositionellen Partei oder Gruppierung der aserbaidschanischen exilpolitischen Szene im Ausland bei einer Rückkehr nach Aserbaidschan zu einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit eines ernsthaften Schadens führt. Zwar ist davon auszugehen, dass der aserbaidschanische Staat exilpolitische Betätigungen seiner Staatsangehörigen beobachtet (Auswärtiges Amt – AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Aserbaidschan, Stand November 2020, S. 16; Auskunft an das Bundesamt v. 12.2.2021 – Az.: 508-516.80/54905; Auskunft an das VG Arnsberg v. 12.3.2020 – Az.: 508-516.80/50678; Auskunft an das VG Bayreuth v. 14.1.2020 – Az.: 508-9-516.80/52811; VG Regensburg, U.v. 25.3.2021 – RO 15 K 19.31058 – juris; U.v. 17.3.2021 – RN 15 K 118.30641 – juris; VG Bayreuth, U.v. 10.12.2020 – B 9 K 20.30034 – juris; U.v. 10.9.2019 – B 9 K 17.33018 – juris Rn. 47). Hierbei wird jedoch zwischen Führungspersönlichkeiten, Aktivisten und bloßen Unterstützern unterschieden (AA, Lagebericht a.a.O., S. 16; Auskunft an das Bundesamt v. 12.2.2021 a.a.O.; Auskunft an das VG Arnsberg v. 12.3.2020 a.a.O.; Auskunft an das VG Bayreuth v. 14.1.2020 a.a.O.; VG Gelsenkirchen, U.v. 7.6.2021 – 6a K 3773/19.A – juris Rn. 43 ff.; VG Regensburg, U.v. 25.3.2021 – RO 15 K 19.31058 – juris; U.v. 17.3.2021 – RN 15 K 18.30641 – juris; VG Bayreuth, U.v. 10.12.2020 – B 9 K 20.30034 – juris; U.v. 10.9.2019 – B 9 K 17.33018 – juris Rn. 47). Personen, die im Rahmen von Veranstaltungen der Exilopposition eine zentrale Rolle bei der Organisation oder bei der Durchführung einnahmen, mussten nach einer Auskunft des Auswärtigen Amtes mit negativer bis diffamierender Berichterstattung in der Presse oder auch mit Anklagen vor aserbaidschanischen Gerichten rechnen, wenngleich konkrete Maßnahmen wegen der Abwesenheit der betroffenen Personen nicht erfolgt sind (AA, Auskunft an das VG Bayreuth v. 14.1.2020 a.a.O.). Hingegen lässt sich den Erkenntnismitteln nicht entnehmen, dass allein die Betätigung für eine oppositionelle Partei im Ausland im Falle der Rückkehr nach Aserbaidschan zu Repressalien führt (vgl. zu dieser Einschätzung auch z.B. VG Regensburg, U.v. 17.3.2021 – RN 15 K 18.30641 – juris). Maßgeblich ist daher, ob nach den konkreten Umständen des Einzelfalles eine herausgehobene Tätigkeit für die exilpolitische aserbaidschanische Opposition angenommen werden kann (VG Gelsenkirchen, U.v. 7.6.2021 – 6a K 3773/19.A – juris Rn. 43 ff.; VG Regensburg, U.v. 25.3.2021 – RO 15 K 19.31058 – juris; VG Bayreuth, U.v. 10.12.2020 – B 9 K 20.30034 – juris; U.v. 10.9.2019 – B 9 K 17.33018 – juris Rn. 47). Je nach der Intensität und der Außenwirkung der konkreten exilpolitischen Betätigung ergibt sich daraus eine Abstufung der Wahrscheinlichkeit eines ernsthaften Schadens im Falle der Rückkehr nach Aserbaidschan. Danach mag die beachtliche Wahrscheinlichkeit, einen ernsthaften Schaden zu erleiden, für Führungspersönlichkeiten der exilpolitischen Opposition Aserbaidschans besonders naheliegen. Bei Aktivisten ist hingegen im Einzelfall genau zu prüfen, ob ihre Betätigung so herausgehoben ist und eine derart starke Außenwirkung entfaltet, dass der aserbaidschanische Staat darauf im Falle der Rückkehr mit ernsthaften Repressalien reagieren könnte, und wie hoch im Einzelfall die Wahrscheinlichkeit derartiger Repressalien ist. Bei bloßen Unterstützern oder Mitläufern dürfte – ohne das Hinzutreten besonderer Umstände im Einzelfall – weder von einer besonders exponierten Betätigung noch von der entsprechend starken Außenwirkung auszugehen sein, sodass nicht anzunehmen ist, dass die betroffene Person nachhaltig in den Fokus staatlicher Organe Aserbaidschans geraten und damit der Gefahr eines ernsthaften Schadens ausgesetzt sein wird.
Gemessen daran stuft das Gericht die Klägerin als Aktivistin ein, die sich in herausgehobener Art und Weise für die aserbaidschanische Exilopposition betätigt. Sie ist Mitglied des AKM, des exilpolitischen Ablegers der oppositionellen M.-Partei. Die Klägerin hat auch zur vollen Überzeugung des Gerichtes seit Dezember 2017 nicht nur an Versammlungen mit exilpolitischer Ausrichtung teilgenommen, sondern solche seit September 2019 auch mehrfach selbst als Veranstalterin organisiert. Die entsprechenden Angaben der Klägerin sind zum einen durch die an die Klägerin adressierten versammlungsrechtlichen Bescheide vom 10. September 2019 und 15. April 2021 belegt als auch anhand der vorgelegten Zeitungsausschnitte nachvollziehbar. Die Klägerin ist auf den in den Zeitungsartikeln abgedruckten Fotos dabei zu sehen, wie sie Plakate mit oppositionellen Parolen und Forderungen oder Fotos hochhält. Damit ist sie klar als Aktivistin der Exilopposition zu identifizieren. Des Weiteren hat die Klägerin glaubhaft angegeben, dass sie auf dem unter ihrem Namen laufenden Facebook-Account nicht nur oppositionelle Beiträge mit eigenen Kommentaren teilt, sondern auch eigene Beiträge mit solchem Inhalt postet. Anhand einer Gesamtschau der vorgetragenen Umstände ist auch die erforderliche Außenwirkung ihrer exilpolitischen Betätigungen feststellbar.
Das Gericht ist des Weiteren davon überzeugt, dass der Klägerin aufgrund ihrer herausgehobenen exilpolitischen Betätigung für oppositionelle Gruppen im Falle ihrer Rückkehr nach Aserbaidschan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein ernsthafter Schaden im Sinne des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG i.V.m. Art. 3 EMRK droht. Sie hat Briefe ihres Schwagers, Herrn S.A., sowie des Bruders ihres Ehemannes, Herrn S.I., vorgelegt, aus denen hervorgeht, dass diese Personen in Aserbaidschan von staatlicher Seite auf die exilpolitischen Aktivitäten der Klägerin angesprochen und deshalb unter Druck gesetzt wurden. Des Weiteren hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung angegeben, der Bruder (gemeint: des Ehemannes) sei deshalb von Polizeibeamten „angemahnt“ worden. Die geschilderten Vorgänge decken sich mit Berichten, nach denen die aserbaidschanischen Behörden versuchen, Exilaktivisten zum Schweigen zu bringen, indem sie ihre Angehörigen in Aserbaidschan einschüchtern, und Sicherheitsbeamte wiederholt Angehörige von Aktivisten mit Wohnsitz im Ausland verhören, um sie unter Druck zu setzen, ihre Verwandten zu denunzieren, und ihnen mit Gefängnis drohen, falls ihre Verwandten den Aktionismus fortsetzen (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich – BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Aserbaidschan, Stand 10.12.2020, S. 19 m.w.N.; VG Köln, U.v. 28.7.2021 – 16 K 14970/17.A – juris Rn. 48). Fest steht damit aufgrund der vorgelegten Dokumente und glaubhaften Angaben der Klägerin, dass diese unter Beobachtung staatlicher Stellen Aserbaidschans steht und deshalb im Falle ihrer Rückkehr mit Repressalien zu rechnen hätte. Aus den Erkenntnismitteln geht weiter hervor, dass in Aserbaidschan Folter und Misshandlungen von Inhaftierten zwar verboten sind und derart erpresste Geständnisse gerichtlich nicht verwertbar sind, ebenso aber, dass bekanntermaßen weiter derartige Misshandlungen stattfinden, ohne dass die Verantwortlichen mit konsequenter Strafverfolgung und disziplinarischen Maßnahmen zu rechnen hätten (vgl. BFA, Länderinformationsblatt a.a.O., S. 13 f., 25; vgl. auch Amnesty International, Auskunft an das VG Gelsenkirchen v. 9.5.2018 und Jahresbericht Aserbaidschan 2020; EGMR, U.v. 25.8.2020 – Nr. 63571/16, Ibrahimov und Mammadov gegen Aserbaidschan). Aus den genannten Erkenntnismitteln geht auch hervor, dass politische Gegner der Regierung Aserbaidschans und unter Umständen auch deren Verwandte mit grundlosen bzw. politisch motivierten Inhaftierungen rechnen müssen (VG Köln, U.v. 28.7.2021 – 16 K 14970/17.A – juris Rn. 46; VG Schleswig, U.v. 28.4.2021 – 4 A 10/18 – juris).
c) Eine inländische Fluchtalternative gemäß § 3e i.V.m. § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG steht der Klägerin nicht zur Verfügung, da die Bedrohung nach den genannten Erkenntnismitteln landesweit besteht (vgl. VG Lüneburg, U.v. 19.7.2021 – 2 A 539/17 – juris).
2. Der Klägerin steht kein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß §§ 3 ff. AsylG zu. Die Zuerkennung ist nach § 28 Abs. 2 AsylG ausgeschlossen, da die Klägerin die Vermutung, dass ihre nach dem unanfechtbaren Abschluss des Erstverfahrens zumindest erheblich gesteigerten exilpolitischen Aktivitäten asyltaktisch motiviert sind, nicht widerlegen konnte.
a) Stellt der Ausländer nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung eines Asylantrags erneut einen Asylantrag (Folgeantrag) und stützt diesen auf Umstände, die er nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung seines früheren Antrags selbst geschaffen hat, so kann nach § 28 Abs. 2 AsylG in der Regel die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt werden. Durch die Aufstellung dieser Regelvermutung sanktioniert das Gesetz das Schaffen von Nachfluchtgründen nach dem unanfechtbaren Abschluss oder der Rücknahme des Asylantrags wegen der damit verbundenen Missbrauchsgefahr mit dem Ausschluss der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft im Sinne der §§ 3 ff. AsylG. Es verlagert damit die Beweis- bzw. Substantiierungslast auf den Ausländer (BVerwG, U.v. 18.12.2008 – 10 C 27.07 – juris Rn. 14; Heusch in Kluth/Heusch, Ausländerrecht, Stand 1.7.2021, Rn. 31 zu § 28 AsylG). Gegen § 28 Abs. 2 AsylG bestehen keine Bedenken im Hinblick auf vorrangiges bzw. als Auslegungsmaßstab heranzuziehendes Verfassungs-, Unions- oder Völkerrecht. Hinsichtlich der verfassungsrechtlichen Gewährleistung des Asylrechts nach Art. 16a GG greift die vorrangige Regelung des § 28 Abs. 1 AsylG, welche ihrerseits keine Anwendung auf den internationalen Schutz gemäß § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG i.V.m. Art. 2 Buchst. a) RL 2011/95/EU findet (Heusch in Kluth/Heusch, Ausländerrecht, Stand 1.7.2021, Rn. 26 zu § 28 AsylG; Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, Rn. 20 zu § 28 AsylG). Des Weiteren füllt der Gesetzgeber mit § 28 Abs. 2 AsylG in unionsrechtskonformer Weise die Öffnungsklausel des Art. 5 Abs. 3 RL 2011/95/EU aus (BVerwG, U.v. 18.12.2008 – 10 C 27.07 – juris Rn. 15; Heusch in Kluth/Heusch a.a.O., Rn. 31 zu § 28 AsylG; Bergmann in Bergmann/Dienelt a.a.O., Rn. 3 zu § 28 AsylG). Die Regelvermutung verstößt entgegen der von der Klägerseite vorgetragenen Rechtsauffassung auch nicht gegen das Abkommen über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (BGBl. 1953 II, 559 – Genfer Flüchtlingskonvention, GFK). Denn zum einen erscheint es in Anbetracht der Entstehungsgeschichte und der Regelungsintention der Genfer Flüchtlingskonvention schon zweifelhaft, ob die Definition des Flüchtlings in Art. 11 A GFK solche selbstgeschaffenen subjektiven Nachfluchtgründe überhaupt erfasst (BVerwG, U.v. 18.12.2008 – 10 C 27.07 – juris Rn. 18). Zum anderen verstößt die Ablehnung eines Antrags auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aufgrund der Regelvermutung nach § 28 Abs. 2 AsylG nicht gegen das völkerrechtliche Refoulementverbot (Art. 33 GFK), da weder die Feststellung nationalen Abschiebungsschutzes gemäß § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG noch die Zuerkennung des subsidiären Schutzes – welcher ursprünglich in dem Abschiebungsverbot gemäß § 60 Abs. 2, 3 und 7 Satz 2 AufenthG a.F. enthalten war und der nunmehr in § 4 AsylG geregelt ist – ausgeschlossen ist (BVerwG, U.v. 18.12.2008 – 10 C 27.07 – juris Rn. 19 m.w.N.; zustimmend Heusch in Kluth/Heusch a.a.O., Rn. 35 zu § 28 AsylG; a.A. Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, Rn. 23 zu § 28 AsylG, vgl. aber auch dort Rn. 24). Da somit nicht zu befürchten steht, dass ein nach § 28 Abs. 2 AsylG von der Flüchtlingseigenschaft ausgeschlossener Asylbewerber entgegen Art. 33 GFK in den potentiellen Verfolgerstaat abgeschoben wird, vermag sich das Gericht der Gegenauffassung, welche von einem Verstoß gegen das Refoulementverbot ausgeht (Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, Rn. 23 zu § 28 AsylG, vgl. aber auch dort Rn. 24) nicht anzuschließen.
Die entscheidende zeitliche Zäsur für die Berücksichtigungsfähigkeit selbstgeschaffener Nachfluchtgründe im Rahmen des Flüchtlingsschutzes ist nach § 28 Abs. 2 AsylG der Zeitpunkt des unanfechtbaren Abschlusses des ersten Asylverfahrens bzw. der Rücknahme des Asylantrags. Maßgeblich für die Frage, ob die Flüchtlingsanerkennung aufgrund der Regelvermutung des § 28 Abs. 2 AsylG ausgeschlossen ist, ist das Kriterium der inhaltlichen Kontinuität. Bleibt das politische Betätigungsprofil des Betroffenen nach Abschluss des Asylverfahrens unverändert, so liegt die Annahme einer missbräuchlichen Verknüpfung von Nachfluchtaktivitäten und begehrtem Schutzstatus eher fern. Wird der Asylbewerber jedoch nach einem erfolglosen Asylverfahren erstmals exilpolitisch aktiv oder intensiviert er seine bisherigen Aktivitäten, muss er dafür gute Gründe anführen, um den Verdacht auszuräumen, dies geschehe in erster Linie mit dem Zweck, die Voraussetzungen für eine Flüchtlingsanerkennung zu schaffen (BVerwG, U.v. 18.12.2008 – 10 C 27.07 – juris Rn. 16; U.v. 24.9.2009 – 10 C 25.08 – juris Rn. 26; B.v. 31.1.2014 – 10 B 5.14 – juris Rn. 5; Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, Rn. 9 zu § 28 AsylG). Zur Widerlegung der Regelvermutung muss der Ausländer gute Gründe dafür anführen, warum er nach einem erfolglosen Asylverfahren erstmalig exilpolitisch tätig geworden ist oder seine Aktivitäten ausgeweitet hat. Das Gericht hat bei dieser Prüfung die Persönlichkeit des Ausländers, seine Motive für seine erstmalig aufgenommenen oder intensivierten Aktivitäten vor dem Hintergrund seines bisherigen Vorbringens und seines Vorfluchtschicksals einer Gesamtwürdigung zu unterziehen (st.Rspr., z.B. BVerwG, B.v. 31.1.2014 – 10 B 5.14 – juris Rn. 6; U.v. 24.9.2009 – 10 C 25.08 – juris Rn. 26; U.v. 18.12.2008 – 10 C 27.07 – juris Rn. 16; Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Aufl. 2020, Rn. 9 zu § 28 AsylG).
b) Gemessen an diesen Grundsätzen greift im Falle der Klägerin die Regelvermutung nach § 28 Abs. 2 AsylG, welche diese auch nicht zu widerlegen vermocht hat. Die Klägerin ist deshalb von der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ausgeschlossen. Zwar hat sie im Erstverfahren angegeben, bereits im Herkunftsland Mitglied der oppositionellen M.-Partei gewesen zu sein. Des Weiteren hat die Klägerin sich bereits vor dem unanfechtbaren Abschluss des Erstverfahrens exilpolitisch betätigt, indem sie bereits im Dezember 2017 erstmals an einer Demonstration der Exilopposition teilgenommen hat. Dennoch hat sie, nachdem ihr erstes Asylverfahren mit der Ablehnung ihres Antrags auf Zulassung der Berufung gegen das klageabweisende erstinstanzliche Urteil mit Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 26. Februar 2019 unanfechtbar abgeschlossen war, ihr exilpolitisches Engagement deutlich erkennbar gesteigert. Denn sie hat erstmals im September 2019 und in der Folgezeit noch zweimal selbst eine Demonstration veranstaltet und damit (endgültig) die Schwelle von der bloßen Unterstützerin oder Mitläuferin zur Aktivistin überschritten. Eine solche Steigerung des exilpolitischen Engagements nach der zeitlichen Zäsur des unanfechtbaren Abschlusses des Asylerstverfahrens ist nach dem Sinn und Zweck des § 28 Abs. 2 AsylG wie das erstmalige Schaffen von Nachfluchtgründen zu bewerten (vgl. BVerwG, U.v. 18.12.2008 – 10 C 27.07 – juris Rn. 16; U.v. 24.9.2009 – 10 C 25.08 – juris Rn. 26; B.v. 31.1.2014 – 10 B 5.14 – juris Rn. 5). Diese erhebliche Steigerung des exilpolitischen Engagements der Klägerin ist vor dem Hintergrund ihres Vorfluchtschicksals und des erfolglosen Asylerstverfahrens nach der Überzeugung des Gerichts – ohne dass damit ein Vorwurf gegen die Klägerin verbunden ist – als asyltaktisch und damit im Sinne der Regelungsintention des § 28 Abs. 2 AsylG als rechtsmissbräuchlich zu bewerten. Zwar schätzt das Gericht die Klägerin nach dem persönlichen Eindruck und Vorbringen in der mündlichen Verhandlung als eine intelligente, gebildete Persönlichkeit ein, deren politisches Interesse nicht rein asyltaktischer Natur ist, sondern von einer tatsächlichen Überzeugung geleitet wird. Nicht zu übersehen ist aber, dass die Klägerin nach den Feststellungen des rechtskräftigen Urteils im Asylerstverfahren nicht vorverfolgt ausgereist ist. Abgesehen von ihrer Mitgliedschaft in der M.-Partei kann ein politisches Engagement in nennenswertem Umfang und von nennenswertem Gewicht im Herkunftsland auch bei Wahrunterstellung ihres Vortrags nicht festgestellt werden (vgl. dazu die Ausführungen im Urteil vom 22.10.2018). Es spricht viel dafür, dass das angegebene fluchtauslösende Ereignis, nämlich die Verweigerung einer medizinisch erforderlichen Behandlung ihres Ehemannes aufgrund ihrer Parteizugehörigkeit, für die Klägerin ein Schlüsselerlebnis darstellt, welches sie veranlasst hat, sich nunmehr offen gegen die aserbaidschanische Regierung zu stellen. Insofern mag sich, den Vortrag im Erstverfahren als wahr unterstellt, ihre politische Überzeugung schon im Moment der Ausreise bzw. unmittelbar nach der Einreise gebildet oder gefestigt haben. Von dieser Überzeugung getragene exilpolitische Betätigungen von nennenswertem Gewicht sind aber, wie ausgeführt, bis zum unanfechtbaren Abschluss des Erstverfahrens nicht festzustellen. Umstände, welche die nunmehrige Steigerung dieses Engagements dennoch als konsequente Fortführung einer früher gebildeten und konsequent nach außen vertretenen Überzeugung erscheinen ließen, hat die Klägerin weder vorgetragen, noch sind solche sonst ersichtlich. Vielmehr ist nicht erkennbar, was die Klägerin davon abgehalten hätte, sich schon zu einem früheren Zeitpunkt nach der Einreise in gleicher Intensität exilpolitisch zu betätigen, zumal dies auch den Ausgang des Erstverfahrens positiv hätte beeinflussen können. Es bleibt damit in ihrem Falle bei der Regelvermutung des § 28 Abs. 2 AsylG und damit dem Ausschluss der Flüchtlingseigenschaft.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 83b AsylG.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 708 Nr. 11, 711 ZPO i.V.m. § 167 VwGO.


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