Aktenzeichen M 18 K 19.32390
Leitsatz
Tenor
I. Soweit die Klage zurückgenommen wurde, wird das Verfahren eingestellt. Der Bescheid vom 20. Mai 2019 wird in den Ziffern 3 bis 6 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger subsidiären Schutz (§ 4 Abs. 1 AsylG) zuzuerkennen.
II. Die Kosten des Verfahrens tragen die Beteiligten je zur Hälfte.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
Das Gericht konnte im schriftlichen Verfahren entscheiden, da die Beteiligten auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet haben, § 101 Abs. 2 VwGO.
Soweit die Klage hinsichtlich der zunächst beantragten Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft zurückgenommen wurde, war das Verfahren einzustellen, § 92 Abs. 3 VwGO.
Im Übrigen ist die zulässige Klage begründet. Der Kläger hat gegenüber der Beklagten zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) nach § 4 Abs. 1 AsylG einen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzes, § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO.
Dem Kläger droht bei einer Rückkehr in die Ukraine mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit ein ernsthafter Schaden i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG. Er kann weder auf internen Schutz in der Ukraine (1.), noch auf Schutz in Afghanistan (2.) verwiesen werden.
Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiär Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt dabei die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG). Die §§ 3c bis 3e AsylG gelten nach § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG entsprechend.
1. Im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung sind aufgrund des militärischen Einmarsches Russlands in die Ukraine die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes gegeben. Da in verschiedenen Gebieten der Ukraine Kampfhandlungen stattfinden, kann auch keine innerstaatliche Fluchtalternative im Sinne von § 4 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. § 3e AsylG festgestellt werden (vgl. VG München, U.v. 17.3.2022 – M 29 K 21.30332 – n.v.).
2. Der Kläger kann vorliegend auch nicht darauf verwiesen werden, in Afghanistan Schutz zu suchen.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann Personen, die zwei oder mehr Staatsangehörigkeiten besitzen, die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt werden, wenn sie den Schutz eines der Länder ihrer Staatsangehörigkeit in Anspruch nehmen können. Dies folgt aus Art. 1 A Nr. 2 Abs. 2 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention – GFK), in dem der Grundsatz der Subsidiarität des internationalen Flüchtlingsschutzes zum Ausdruck kommt. Danach gilt eine Person, die ohne einen stichhaltigen, auf eine begründete Befürchtung gestützten Grund den Schutz eines der Länder nicht in Anspruch genommen hat, deren Staatsangehörigkeit sie besitzt, nicht als des Schutzes des Landes beraubt, dessen Staatsangehörigkeit sie hat. In diesem Sinne sind auch Art. 2 Buchst. d und n RL 2011/95/EU sowie § 3 Abs. 1 AsylG auszulegen: Nur wer schutzlos ist, weil er keinen wirksamen Schutz durch ein Herkunftsland im Sinne des Art. 2 Buchst. n RL 2011/95/EU genießt, ist danach Flüchtling im Sinne von Art. 2 Buchst. d RL 2011/95/EU (vgl. BVerwG, EuGH-Vorlage v. 18.12.2019 – 1 C 2/19 – juris Rn. 13; ferner U.v. 2.8.2007 – 10 C 13.07 – juris Rn. 9; B.v. 14.6.2005 – 1 B 142/04 – juris Rn. 4).
Diese Ausführungen zur Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft sind auf die Zuerkennung subsidiären Schutzes nach § 4 Abs. 1 AsylG zu übertragen, da aufgrund deren grundsätzlicher Vergleichbarkeit insoweit eine Gleichbehandlung geboten ist (vgl. OVG NW, B.v. 29.6.2020 – 19 A 1420/19.A – juris Rn. 188; SächsOVG, B.v. 3.3.2020 – 6 A 593/18.A – juris Rn. 18). So ist auch im Sinne eines Subsidiaritätsvorbehalts gemäß Art. 4 Abs. 3 Buchst. e RL 2011/95/EU bei der individuellen Prüfung der Anträge auf internationalen Schutz (Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzstatus, vgl. Art. 2 Buchst. a RL 2011/95/EU) zu berücksichtigen, ob vom Antragsteller vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er den Schutz eines anderen Staates in Anspruch nimmt, dessen Staatsangehörigkeit er für sich geltend machen kann.
Im vorliegenden Fall kann vom Kläger in Hinblick auf den ihm in der Ukraine drohenden ernsthaften Schaden nicht erwartet werden, Schutz in Afghanistan, einem Staat dessen Staatsbürgerschaft er ebenfalls besitzt, zu suchen.
Zwar droht dem Kläger in Afghanistan kein ernsthafter Schaden i.S.d. § 4 Abs. 1 AsylG (2.1), jedoch liegen die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vor, da dort eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung zu erwarten ist, weshalb der Kläger demnach auch nicht auf eine Rückkehr nach Afghanistan verwiesen werden kann (2.2).
2.1. Anhaltspunkte dafür, dass dem Kläger in Afghanistan die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG) oder auch Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG) drohen würden, bestehen nicht.
Dem Kläger droht zur Überzeugung des Gerichts in Afghanistan auch keine individuelle und konkrete Gefahr eines ernsthaften Schadens infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts gemäß § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG. In Afghanistan ist seit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 abgesehen von einzelnen Widerstandsaktionen gegen die Taliban und vereinzelten Anschlägen des ISKP kein derartiger Konflikt mehr anzunehmen (vgl. zur aktuellen Lage z.B. BAMF, Briefing Notes v. 14.2.2022, S. 1; v. 11.4.2022, S. 2, v. 4.4.2022 S. 2).
2.2. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan würde der Kläger mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit jedoch tatsächlich Gefahr laufen, einer Behandlung ausgesetzt zu sein, die dem in Art. 3 EMRK normierten menschenrechtlichen Mindeststandard widerspricht. Die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG liegen in Bezug auf Afghanistan vor und stehen einer Abschiebung des Klägers dorthin entgegen.
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten (Europäische Menschenrechtskonvention – EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ist anzunehmen, wenn erhebliche Gründe für die Annahme sprechen, dass der Betroffene im vorgesehenen Zielgebiet der Abschiebung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit tatsächlich Gefahr läuft („real risk“), einer Behandlung ausgesetzt zu sein, die dem in Art. 3 EMRK normierten menschenrechtlichen Mindeststandard widerspricht.
Gemäß Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden. Eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung kann sich aus einer allgemeinen Situation der Gewalt im Zielstaat ergeben, einem besonderen Merkmal des Ausländers oder einer Verbindung von beiden. Soweit – wie in Afghanistan – ein für die Verhältnisse eindeutig maßgeblich verantwortlicher Akteur fehlt, können in ganz außergewöhnlichen Fällen auch schlechte humanitäre Verhältnisse im Zielstaat Art. 3 EMRK verletzen, wenn die humanitären Gründe gegen die Ausweisung zwingend sind. Für das Vorliegen eines Abschiebungsverbots aus § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK aufgrund der allgemeinen Lebensverhältnisse im Zielstaat ist keine Extremgefahr wie im Rahmen der verfassungskonformen Anwendung von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erforderlich (BVerwG, B.v. 8.8.2018 – 1 B 25/18 – juris). Die einem Ausländer im Zielstaat drohenden Gefahren müssen vielmehr ein gewisses Mindestmaß an Schwere erreichen; diese Voraussetzung kann erfüllt sein, wenn der Ausländer nach Würdigung aller Umstände des Einzelfalls im Zielstaat der Abschiebung seinen existentiellen Lebensunterhalt nicht sichern, kein Obdach finden oder keinen Zugang zu einer medizinischen Basisbehandlung erhalten kann. Bei der Prüfung, ob solche außergewöhnlichen Umstände vorliegen, die weder in die unmittelbare Verantwortung des Zielstaats noch in die Verantwortung nichtstaatlicher Akteure fallen, ist grundsätzlich auf das gesamte Staatsgebiet abzustellen. Dabei ist zunächst in den Blick zu nehmen, ob eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung an dem Ort droht, an dem die beabsichtigte Abschiebung enden soll (vgl. BayVGH, Urt. v. 1.10.2020 – 13a B 20.31004 – juris Rn. 19 ff. m.w.N.; U.v. 14.11.2019 – 13a B 19.31153 – juris Rn. 21 ff. m.w.N.; BayVGH, U.v. 8.11.2018 – 13a B 17.31918 – juris Rn. 17 ff. m.w.N.; OVG RhPf, U.v. 30.11.2020 – 13 A 11421/19 – juris Rn. 105 ff. m.w.N.; OVG Bremen, U.v. 12.2.2020 – 1 LB 276/19 – juris Rn. 41 ff. m.w.N.).
Solche außergewöhnlichen Umstände sind im vorliegenden Einzelfall unter Berücksichtigung der aktuellen Erkenntnismittel zur Überzeugung des Gerichts gegeben. Angesichts der aktuellen humanitären Verhältnisse in Afghanistan sowie der in der Person des Klägers liegenden individuellen Umstände ist nicht davon auszugehen, dass es dem Kläger gelingen wird, bei einer Rückkehr nach Afghanistan ein Leben zumindest knapp oberhalb des Existenzminimums zu führen und damit einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung zu entgehen.
In Afghanistan hat sich die ohnehin seit Langem bestehende schlechte wirtschaftliche Situation zunächst aufgrund der Corona-Pandemie erheblich verschärft und sich sodann mit der Machtübernahme durch die Taliban weiter verschlimmert. Mit dem Ende der Islamischen Republik Afghanistan und der Ausrufung des Islamischen Emirats Afghanistan haben sich die politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse in Afghanistan in kürzester Zeit grundlegend geändert (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Sonderkurzinformation der Staatendokumentation v. 17.8.2021) und sind in besorgniserregendem Maß schlecht (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der islamischen Republik Afghanistan – Lagebericht -, Stand Oktober 2021, S. 4 f., 11, 14).
Infolge der durch die Machtübernahme der Taliban ausgelösten politischen Instabilität und des Nachfragedrucks bei Fremdwährungen sei die afghanische Währung auf ein Rekordtief gefallen und die Preise seien in die Höhe getrieben worden (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation – Afghanistan, aus dem COI-CMS, Version 5, 16.9.2021). Da die meisten Grundnahrungsmittel importiert werden müssten, führe jeder Wertverlust des Afghani zu einem Anstieg der Lebensmittelpreise (WFP, Afghanistan, Countrywide Market Price Bulletin – Special Bulletin, 22.8.2021). Dementsprechend seien die ohnehin schon hohen Preise für Weizen, Weizenmehl, Reis, Hülsenfrüchte, Salz und Zucker in den letzten Wochen und Monaten enorm gestiegen (WFP, Afghanistan, Countrywide Market Price Bulletin – Special Bulletin, 22.8.2021; WFP, Afghanistan, Countrywide Weekly Market Price Bulletin, Issue 89, 27.1.2022).
Afghanistan erlebe noch dazu eine der schlimmsten Dürren der letzten zwei Jahrzehnte, welche zu Missernten, einem drastischen Verfall der Viehpreise und zu Trinkwasserknappheit geführt habe. Besonders schlimm seien die Bedingungen im Süden, Westen und Nordwesten des Landes. Während Dürren in Afghanistan ein häufiges und verheerendes Phänomen seien, sorge der Klimawandel für regelmäßigere und schwerere Dürren. Bis 2030 würden jährliche Dürren in vielen Teilen des Landes wahrscheinlich zur Norm werden, wobei Wettervorhersagemodelle vor anhaltenden Dürrebedingungen im Jahr 2022 warnen würden (AAN, Global Warming and Afghanistan: Drought, hunger and thirst expected to worsen, 6.11.2021).
Die Ernährungssicherheit verschlechtere sich fortgehend drastisch: Prognosen des WFP zufolge würden 22,8 Millionen Menschen – etwa die Hälfte der afghanischen Bevölkerung – im Jahr 2022 akut von Ernährungsunsicherheit betroffen sein, darunter 8,7 Millionen Menschen, die von hungersnotähnlichen Zuständen bedroht seien. Des Weiteren werde davon ausgegangen, dass 4,7 Millionen Kinder, schwangere und stillende Frauen im Jahr 2022 von akuter Mangelernährung bedroht sein werden. Dies sei die höchste Zahl von Menschen mit akuter Ernährungsunsicherheit, die jemals in Afghanistan verzeichnet worden sei, und gehöre zu den höchsten Werten akuter Ernährungsunsicherheit weltweit (WFP, Afghanistan, Situation Report, 28.1.2022). Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie hätten 4% der Befragten angegeben, dass sie in der Lage seien, ihre Familien mit den grundlegendsten Gütern zu versorgen. In Kabul hätten 80% der Befragten angegeben, dass sie nicht in der Lage seien, ihren Haushalt zu versorgen, gefolgt von 66% in Mazar-e Sharif und 45% in Herat. Ebenso hätten 8% der Befragten in Kabul angegeben, dass sie kaum in der Lage seien, ihre Familien mit grundlegenden Gütern zu versorgen, gefolgt von 24% in Mazar-e Sharif und 42% in Herat (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Afghanistan, aus dem COI-CMS, Version 6, 28.01.2022, S. 156). Seit der Übernahme durch die Taliban sei im Übrigen auch die Aufrechterhaltung der Stromversorgung ein großes Problem, da Stromrechnungen nicht bezahlt würden (EASO, Country of Origin Information Report, Afghanistan: Country focus; Stand: Januar 2022, S. 20).
Gleichzeitig seien die Beschäftigungsmöglichkeiten seit Anfang August 2021 drastisch gesunken. Das Personal der Streitkräfte, vor allem des Verteidigungsministeriums, des Innenministeriums und des nationalen Sicherheitsministeriums, das auf etwa eine halbe Million Personen geschätzt werde, habe nach der Machtübernahme durch die Taliban keine Arbeit. Die Arbeit von Tagelöhnern sei gleich geblieben, allerdings sei es schwerer, Arbeit zu finden (BFA, Länderinformation der Staatendokumentation, Afghanistan, aus dem COI-CMS, Version 6, 28.01.2022, S. 165). Auch das Auswärtige Amt berichtet, dass zahlreiche Haushalte, die von Gehältern im öffentlichen Dienst oder im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit oder von Tätigkeiten bei internationalen Akteuren abhängig gewesen seien, ihre Einkommensquellen verloren hätten (Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in Afghanistan, Stand: 21.10.2021, v. 22.10.2021 (Sonderlagebericht), S. 5). Einem Bericht von ACCORD zufolge, in welchem mehrere Medien- und NGO-Berichte ausgewertet wurden, sei die Taliban-Regierung aufgrund der Wirtschaftssituation in verschiedenen Regionen seit Monaten nicht in der Lage, öffentliche Bedienstete wie Lehrerinnen und Lehrer sowie Krankenhauspersonal zu bezahlen. Bereits im November 2021 hätte Associated Press berichtet, dass es seit der Machtübernahme durch die Taliban für internationale Hilfsorganisationen nicht mehr möglich sei, Zahlungen auf Konten in Afghanistan zu tätigen, da internationale Währungen vom Bankennetz im Land nicht in die Landeswährung gewechselt werden könnten. Der Leiter des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz hätte darauf hingewiesen, dass Hilfsorganisationen daher teilweise keine Möglichkeiten hätten, die Gehälter der Ärzteschaft und des Pflegepersonals zu bezahlen (ACCORD, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Humanitäre Lage [a-11758], 6.12.2021, S. 12 f.).
Das Bundesamt berichtete Ende November 2021, dass die durchschnittliche Anzahl der Tage, an denen Gelegenheitsarbeiter Arbeit fänden, durchschnittlich bei 1,4 Tagen pro Woche gelegen hätte, was 42,1% weniger sei als in der letzten Juniwoche 2021 (BAMF, Briefing Notes, 29.11.2021). Nach Angaben des Entwicklungsprogramms der Vereinten Nationen (United Nations Development Program – UNDP) hätten sich die Löhne derjenigen, die noch Arbeit hätten, um 8 bis 10% verringert und es werde erwartet, dass sich die Arbeitslosigkeit in den nächsten zwei Jahren fast verdoppeln werde. Durch die Beschränkungen für die Beschäftigung von Frauen werde sich zudem das Einkommen der Haushalte verringern, deren weibliche Mitglieder nun nicht mehr arbeiten, weniger arbeiten bzw. weniger verdienen würden, was zu einem Rückgang des Konsums auf der Mikroebene und der Nachfrage auf der Makroebene führen werde. Afghanische Arbeitnehmerinnen hätten vor der Krise 20% der Beschäftigten ausgemacht (UNDP, Afghanistan: Socio-Economic Outlook 2021-2022, Averting a basic needs crisis, 30.11.2021, S. 4, 17, 20).
Das afghanische Banken- und Finanzsystem sei mehreren Berichten zufolge ebenfalls in der Krise. Nach der Wiedereröffnung afghanischer Banken habe es zunächst ein wöchentliches Auszahlungslimit von 200 USD gegeben, welches mittlerweile auf 400 USD angehoben worden sei. Human Rights Watch (HRW) habe von zahlreichen Bankangestellten und MitarbeiterInnen humanitärer Organisationen vor Ort erfahren, dass die meisten afghanischen Banken Geldbehebungen durch Privatpersonen und Hilfsorganisationen nicht durchführen könnten. Selbst wenn die Gelder elektronisch an die Banken übermittelt worden seien, sei das Geld aufgrund des Bargeldmangels nicht physisch verfügbar und könne daher nicht in die stark Bargeldbasierte Wirtschaft des Landes fließen. Laut einem Bericht des UNDP vom November 2021, zitiert von Reuters, hätten die Banken die Vergabe neuer Kredite eingestellt, und die notleidenden Kredite hätten sich im Vergleich zum Vorjahr auf 57% fast verdoppelt. UNDP habe aufgrund der Unfähigkeit, Kredite zurückzuzahlen, Liquiditätsengpässen und geringeren Einlagen vor einem möglichen Zusammenbruch des Bankensystems in den kommenden Monaten gewarnt, da bis Ende 2021 voraussichtlich etwa 40% der Einlagen Afghanistans verloren gehen würden (zum Ganzen: EASO, Country of Origin Information Report, Afghanistan: Country focus; Stand: Januar 2022, S. 20, m.w.N.; UNDP, Afghanistan: Socio-Economic Outlook 2021-2022, Averting a basic needs crisis, 30.11.2021, S. 7; HRW – Human Rights Watch: Afghanistan Facing Famine, 11.11.2021). Nach Informationen des Auswärtigen Amtes hätten leere öffentliche Kassen, die Sperrung des afghanischen Staatsguthabens im Ausland sowie internationale und US-Sanktionen gegen Mitglieder der Übergangsregierung zu Schwierigkeiten bei der Geldversorgung geführt (Auswärtiges Amt, Bericht über die Lage in Afghanistan, Stand: 21.10.2021, v. 22.10.2021 (Sonderlagebericht), S. 6).
Hinzu kommt, dass dringend benötigte humanitäre Hilfen und Entwicklungshilfe derzeit nur in beschränktem Maße stattfinden. Die Entwicklungshilfe der EU für Afghanistan bleibt eingefroren. Diese solle der EU-Kommission zufolge erst dann wieder aufgenommen werden, wenn die Taliban die Einhaltung von Frauenrechten und Medienfreiheit garantieren und eine Regierung bilden würden, die die ethnische und religiöse Vielfalt des Landes repräsentiere (zeit.de, EU stellt eine Milliarde Euro für Afghanen und Nachbarn bereit, https://www.zeit.de/politik/2021-09/g20-sondergipfel-afghanistan-rom-eu-humanitaere-hilfe; ec.europa.eu, EU-Kommission kündigt Hilfspaket in Höhe von einer Milliarde Euro für Afghanistan an, https://ec.europa.eu/commission/presscorner/detail/de/ip_21_5208, jeweils abgerufen am 14.2.2022). Auch die deutsche Bundesregierung hat die staatliche Entwicklungshilfe ausgesetzt (Sonderlagebericht, S. 6 f.).
Zwar wird mittlerweile von verschiedensten Ländern und Organisationen humanitäre Hilfe geleistet. So hat die EU-Kommission nun ein Hilfspaket im Wert von rund einer Milliarde Euro für die afghanische Bevölkerung und die Nachbarländer angekündigt (s.o) und zuletzt am 20. Januar 2022 Hilfsprojekte im Land im Rahmen von 268 Mio. EUR initiiert (BAMF, Briefing Notes, 24.1.2022), ebenso andere Länder (BAMF, Briefing Notes, 25.10.2021). Auch die Internationale Gemeinschaft hat auf einer UN-Versammlung am 13. September 2021 über eine Milliarde USD an humanitären Hilfsgeldern für Afghanistan zugesagt und die Taliban haben erklärt, diese transparent verteilen zu wollen (BAMF, Briefing Notes, 20.9.2021). Mittlerweile haben die UN erklärt, 1,5 Mrd. USD für humanitäre Hilfe in Afghanistan gesammelt zu haben (BAMF, Briefing Notes, 10.1.2022). Des Weiteren hat u.a. die US-Regierung mehrfach millionenschwere Hilfspakete geschnürt, zuletzt im Wert von 308 Mio. USD (BAMF, Briefing Notes, 8.11.2021, 20.12.21, 17.1.2022). Des Weiteren wird auch von verschiedenen Hilfsorganisationen wie z.B. dem WFP weiterhin humanitäre Unterstützung vor Ort geleistet (ACCORD, Anfragebeantwortung zu Afghanistan: Humanitäre Lage [a-11758], 6.12.2021, S. 6).
Um den steigenden Bedarf im Jahr 2022 zu decken, benötige WFP eigenen Angaben zufolge jedoch 220 Millionen US-Dollar pro Monat (WFP, Afghanistan, Situation Report, 28.1.2022). Im Rahmen einer Sitzung des UN-Sicherheitsrates am 26. Januar 2022 wurde verlautbart, dass das neu gegründete Transitional Engagement Framework (TEF), welches alle Hilfsaktionen der UN in Afghanistan koordinieren solle, insgesamt acht Mrd. USD für das Jahr 2022 benötige (BAMF, Briefing Notes, 31.1.2022). Ob diese Zielmarken erreicht werden und inwiefern diese (teils bisher auch nur angekündigten) Hilfen die Lage in Afghanistan verbessern werden, bleibt jedoch abzuwarten und ist zum aktuellen Zeitpunkt nicht abzusehen. Dies gilt ebenso für die jüngste Ankündigung des US-Präsidenten, die Hälfte der von der US-Notenbank eingefrorenen Währungsreserven der ehemaligen afghanischen Regierung in Höhe von sieben Mrd. USD für humanitäre Hilfe bereitstellen zu wollen (spiegel.de, Taliban-Sprecher wirft USA „Diebstahl“ vor, https://www.spiegel.de/ausland/afghanistans-waehrungsreserven-taliban-sprecher-wirft-usa-diebstahl-vor-a-9cb5bfbb-3775-4497-8d14-34025bb52ee1; tagesschau.de, Afghanistan-Mittel sollen aufgeteilt werden, https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/biden-usa-afghanistan-103.html, jeweils abgerufen am 14.2.2022).
Angesichts der sich aus den angeführten Erkenntnismitteln ergebenden desaströsen wirtschaftlichen und humanitären Situation ist daher trotz der überdurchschnittlichen Ausbildung und Arbeitserfahrung des Klägers nicht davon auszugehen, dass sich der Kläger auf dem extrem angespannten afghanischen Arbeitsmarkt gegen andere Mitbewerber durchzusetzen vermag, zumal sich dieser seit über 30 Jahren nicht mehr in Afghanistan aufgehalten hat und mit den dortigen Arbeitsverhältnissen, Regeln sowie Sozial- und Verhaltenskodizes nicht vertraut ist. Des Weiteren hängt nach Informationen des Auswärtigen Amtes der Zugang zum Arbeitsmarkt maßgeblich von lokalen Netzwerken ab. Rückkehrer aus Europa und anderen Regionen der Welt würden von der afghanischen Gesellschaft häufig misstrauisch wahrgenommen werden; insbesondere innerhalb ihrer Familien hänge ihnen oftmals der Makel des Scheiterns an. Hätten die Rückkehrer lange Zeit im Ausland gelebt oder Afghanistan mit der gesamten Familie verlassen, sei es wahrscheinlich, dass lokale Netzwerke nicht mehr existierten oder der Zugang zu diesen erheblich eingeschränkt sei, was die Reintegration stark erschweren könne (Lagebericht, S. 24). Aufgrund des gewaltsamen Konflikts und der damit verbundenen Binnenflucht der Angehörigen würden Rückkehrer nur in Einzelfällen über die notwendigen sozialen und familiären Netzwerke verfügen, um die desolaten wirtschaftlichen Umstände abzufedern (Sonderlagebericht, S.14). Auch im Fall des Klägers besteht in Afghanistan kein solches soziales oder familiäres Netzwerk, das sein Überleben sichern könnte. Nach den Angaben des Klägers bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt würden in Afghanistan noch seine Brüder leben. Hier kann jedoch nicht davon ausgegangen werden, dass diese bereit und – auch im Hinblick auf die oben geschilderte wirtschaftliche Lage in Afghanistan – in der Lage sind, den Kläger bei sich aufzunehmen und seinen Lebensunterhalt sicherzustellen. Von einem erwachsenen Mann wird in Afghanistan vielmehr erwartet, dass er maßgeblich zur Versorgung der Familie beiträgt und nicht auf deren Kosten lebt (vgl. VG München, U.v. 20.9.2021 – M 16 K 17.41335 – UA Rn. 46). Seitens potentieller Arbeitgeber und möglicherweise auch seiner eigenen Verwandtschaft dürfte dem Kläger, der mittlerweile mehr als 30 Jahre im Westen gelebt hat, wo seine ukrainische Ehefrau und seine Kinder auch weiterhin leben, des Weiteren Misstrauen entgegenschlagen. Es ist daher anzunehmen, dass der Kläger in Afghanistan niemanden mehr hat, der ihn hinreichend (finanziell) unterstützen kann oder durch Kontakte und Beziehungen den Zugang zum Wohnungs- oder Arbeitsmarkt erleichtern könnte. Rückkehr- und Reintegrationsprogramme, die den Kläger zumindest zu Beginn in finanzieller und sonstiger Hinsicht unterstützen könnten, sind aktuell ausgesetzt (www.returningfromgermany.de/de/countries/afghanistan/, abgerufen am 14.2.2022).
In der Zusammenschau der vorangestellten Ausführungen ist das Gericht daher insgesamt davon überzeugt, dass der auf sich allein gestellte Kläger im Fall seiner Abschiebung nach Afghanistan mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit seinen existenziellen Lebensunterhalt nicht wird sichern können und daher der Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt sein wird. Kann jedoch in einen Staat eine Abschiebung zulässigerweise nicht erfolgen, da dort eine Art. 3 EMRK widersprechende Behandlung droht, kann vernünftigerweise auch nicht zu erwarten sein, dass ein in einem anderen Land verfolgter oder von einem ernsthaften Schaden bedrohter Asylbewerber dort Schutz sucht. Dem Kläger ist daher in Hinblick auf den Krieg in der Ukraine der subsidiäre Schutzstatus zuzuerkennen.
Infolge der Zuerkennung des subsidiären Schutzes waren die diesem Ausspruch entgegenstehenden bzw. dadurch hinfälligen Nrn. 3 bis 6 des streitgegenständlichen Bescheids insoweit aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Die Kostenentscheidung beruht hinsichtlich des zurückgenommenen Teils der Klage auf § 155 Abs. 2 VwGO, im Übrigen auf § 154 Abs. 1 VwGO und berücksichtigt die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Kostenteilung in Asylverfahren (vgl. z.B. BVerwG, B.v. 29.6.2009 – 10 B 60/08 – juris; zudem: BayVGH, B.v. 14.6.2021 – 4 B 21.30313 – juris Rn. 2). Das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.