Verwaltungsrecht

Innerstaatliche Fluchtalternative in Sierra Leone – Beschneidung

Aktenzeichen  M 21 K 16.33880

Datum:
18.9.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 3 Abs. 1, § 3e, § 4
AufenthG AufenthG § 11 Abs. 1, § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1

 

Leitsatz

Die Beschneidung minderjähriger Mädchen findet in Sierra Leone regelmäßig auf Veranlassung der Eltern statt. Allerdings kann auch der Druck der Großfamilie zu einer Beschneidung gegen den Willen der Eltern führen. Dem können die Eltern sich aber durch Verlagerung des Wohnsitzes in andere Landesteile entziehen. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

Die Klage, über die das Gericht trotz Ausbleibens der Beklagten in der mündlichen Verhandlung vom 18. September 2017 verhandeln und entscheiden konnte, weil die Beklagte rechtzeitig und unter Hinweis auf § 102 Abs. 2 VwGO geladen worden ist, ist zulässig, aber unbegründet.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet. Eine Verfolgung i.S.d. § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationale Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.
Ein Flüchtling muss unter Angabe genauer Einzelheiten einen schlüssigen und in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich ergibt, dass ihm mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit im Heimatland (politische) Verfolgung droht. Zwar dürfen hinsichtlich asylbegründender Vorgänge im Verfolgerland keine unerfüllbaren Beweisanforderungen gestellt werden, sondern es genügt in tatsächlich zweifelhaften Fällen ein für das praktische Leben brauchbarer Grad der Gewissheit, auch wenn Zweifel nicht völlig auszuschließen sind. In der Regel kommt deshalb dem persönlichen Vorbringen des Asylbewerbers, seiner Persönlichkeit und Glaubwürdigkeit sowie der Art seiner Einlassung besondere Bedeutung zu (vgl. BayVGH, U.v. 26.1.2012 – 20 B 11.30468 m.w.N.).
Nach dem Gesamtergebnis des Verfahrens ist davon auszugehen, dass der Kläger sein Heimatland nicht aus begründeter Furcht vor Verfolgung im o.g. Sinne verlassen hat. Der Kläger konnte nicht glaubhaft machen, dass ihm (politische) Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG bzw. ein ernsthafter Schaden gemäß § 4 AsylG droht.
Hinsichtlich eines vom Asylsuchenden geltend gemachten individuellen Verfolgungsschicksals muss das Gericht die volle Überzeugung von der Wahrheit erlangen. Angesichts des sachtypischen Beweisnotstandes, in dem sich Asylsuchende insbesondere hinsichtlich asylbegründender Vorgänge im Herkunftsstaat befinden, kommt dabei dem persönlichen Vorbringen des Asylsuchenden und dessen Würdigung für die Überzeugungsbildung eine gesteigerte Bedeutung zu. Demgemäß setzt ein Asylanspruch bzw. die Feststellung der Flüchtlingseigenschaft voraus, dass der Asylsuchende den Sachverhalt, der seine Verfolgungsfurcht begründen soll, schlüssig darlegt. Dabei obliegt es ihm, gegenüber dem Tatgericht einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, der geeignet ist, das Asylbegehren lückenlos zu tragen. Der Asylbewerber muss die persönlichen Umstände seiner Verfolgung und Furcht vor einer Rückkehr hinreichend substantiiert, detailliert und widerspruchsfrei vortragen, er muss kohärente und plausible wirklichkeitsnahe Angaben machen (vgl. BVerwG, U.v. 8.5.1984 – 9 C 141/83 – juris Rn. 11). Werden im Laufe des Verfahrens ohne plausible Erklärung unterschiedliche Angaben gemacht, enthält das Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche, erscheinen die Darstellungen nach den Erkenntnismaterialien, der Lebenserfahrung oder aufgrund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe nicht nachvollziehbar oder wird das Vorbringen im Laufe des Verfahrens ohne ausreichende Begründung erweitert oder gesteigert und insbesondere ohne vernünftige Erklärung erst sehr spät in das Verfahren eingeführt, so kann den Aussagen in der Regel kein Glauben geschenkt werden.
Dies vorausgeschickt hat das Gericht bereits Zweifel am Wahrheitsgehalt des vom Kläger geschilderten Verfolgungsschicksals. Diese liegen nicht zuletzt darin begründet, dass sich der Vortrag des Klägers von dem seiner getrennt befragten Ehefrau wesentlich unterscheidet. Während der Kläger bei seiner Anhörung von einer Bedrohung durch die Bundo-Society spricht, erklärt seine Frau, das gemeinsame Kind habe Teil der Ogboni-Gemeinschaft werden sollen. Bei ihrer informatorischen Anhörung in der mündlichen Verhandlung spricht der Kläger dann von einer drohenden Aufnahme seiner Tochter in die Poro-Society. Gleiches gilt für die geschilderte Suche nach der Tochter des Klägers. Während er bei der Anhörung durch das Bundesamt noch schilderte, seine Tante habe ihn in das Dorf gebracht und sei dann nachts mit ihm zu dem Platz gegangen, wo die Beschneidung habe stattfinden sollen, erklärte er in der mündlichen Verhandlung, sie hätten die Tochter bis in die Nacht gesucht. Sie hätten Informationen von den Leuten im Dorf sammeln müssen. Erst in der Nacht hätten sie Informationen bekommen, wo sich die Tochter aufhalte. Hinsichtlich des drohenden Beschneidungsrituals ist schließlich auffallend, dass die Ehefrau des Klägers noch bei ihrer Anhörung vor dem Bundesamt zwar von einem Aufnahmeritual für ihre Tochter in Gestalt des Auflegens eines Tellers spricht, nicht aber von einer drohenden Beschneidung. Dass eine in Sorge vor einer Beschneidung ihres Kindes geflohene Mutter bei ihrer Anhörung zum Verfolgungsschicksal vergisst, eben jene drohende Beschneidung zu erwähnen, erscheint dem Gericht mehr als unwahrscheinlich.
Selbst als wahr unterstellt, führt die drohende Beschneidung seiner Tochter jedenfalls nicht zu einer eigenen Verfolgung des Klägers. Soweit er in der mündlichen Verhandlung vorgetragen hat, er werde in Sierra Leone landesweit gesucht und würde getötet, wenn er gefunden würde, muss er sich den Vorwurf einer Steigerung seines Verfolgungsschicksals entgegen halten lassen. Noch bei seiner Anhörung vor dem Bundesamt hat der Kläger nämlich auf die Frage, was er bei einer Rückkehr befürchte, nur geantwortet, er könne nicht zurück, weil er gegen ein Gesetz der mächtigen Geheimgesellschaft verstoßen habe. Hätte der Kläger aber eine solch existentielle Befürchtung wie die eigene Tötung, ist nicht zu erklären, warum er diese nicht bereits bei der Anhörung vorgebracht hat, zumal der Anhörer ausweislich der Niederschrift auch ausdrücklich danach gefragt hat.
Überdies steht dem Kläger nach Überzeugung des Gerichts eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung (§ 3e AsylG). Nach dieser Vorschrift wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft trotz sonst zu bejahender Anspruchsvoraussetzungen nicht zuerkannt, wenn er (1.) in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und (2.) sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt.
Diese Voraussetzungen sind vorliegend gegeben.
Eine Beschneidung minderjähriger Mädchen findet regelmäßig auf Veranlassung der Eltern statt. Zwar kann mit Blick auf die „Heiratsfähigkeit“ der Mädchen der soziale Druck der (Groß-)Familie zur Durchführung einer Beschneidung sehr groß sein und auch eine Beschneidung gegen den Willen der Eltern bzw. bei unehelichen Kindern gegen den Willen der Mutter durchgeführt werden. Dies ist vorliegend bereits deshalb unwahrscheinlich, weil die Tante des Klägers diesem ja nach seiner Schilderung gerade bei der Verhinderung der Beschneidung geholfen haben will. Jedenfalls ist dieses Risiko aber dann ausgeschlossen, wenn sich der Kläger mit seiner Frau und seiner Tochter fernab der Großfamilie niederlässt und sich in einem anderen Landesteil von Sierra Leone eine neue Existenz aufbaut, wenngleich dies einen völligen Bruch mit seiner Herkunftsfamilie bedeutet.
Dies ist ihm allerdings möglich und zumutbar. Insbesondere spricht nichts dafür, dass es dem Kläger, der elf Jahre die Schule besucht, eine Ausbildung als Elektriker absolviert und mehrere Jahre in diesem Beruf gearbeitet hat, nicht gelingen sollte, für sich und seine Familie eine Lebensgrundlage zu erwirtschaften, zumal auch seine Frau eine Berufsausbildung und mehrjährige Berufserfahrung besitzt.
Abschiebungsverbote sind ebenfalls nicht ersichtlich. Wegen der Einzelheiten wird insoweit auf die Gründe des angefochtenen Bescheides verwiesen, denen das Gericht insoweit folgt (§ 77 Abs. 2 AsylG).
Die Klage ist daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).


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