Verwaltungsrecht

Iran, Sofortantrag, in Deutschland geborenes, 13 Monate altes Mädchen, fingierter Asylantrag, kein offensichtlich unbegründeter Antrag, Ausnahme vom Offensichtlichkeitsurteil, wenn Kind eigene individuelle, nicht nur wirtschaftliche Gründe geltend macht, christliche Konfession der Antragstellerin, Kind von zum Christentum konvertierten ehemaligen Moslems

Aktenzeichen  W 8 S 22.30016

Datum:
12.1.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 2942
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5
AsylG § 14a
AsylG § 30 Abs. 1
AsylG § 30 Abs. 2
AsylG § 30 Abs. 3 Nr. 7
AsylG § 36

 

Leitsatz

Tenor

I. Die aufschiebende Wirkung der Klage (W 8 K 22.30015) der Antragstellerin gegen die Abschiebungsandrohung im Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 23. Dezember 2021 wird angeordnet.
II. Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Die am … 2020 in Deutschland geborene Antragstellerin ist iranische Staatsangehörige. Am 22. Januar 2021 wurde ein Asylantrag mit Eingang des Schreibens der Ausländerbehörde vom 22. Januar 2021 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge aufgrund der Antragfiktion des § 14a Abs. 2 AsylG als gestellt erachtet.
Mit Bescheid vom 23. Dezember 2021 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1), auf Asylanerkennung (Nr. 2) und auf subsidiären Schutz (Nr. 3) als offensichtlich unbegründet ab. Weiter stellte das Bundesamt fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 4). Die Antragstellerin wurde aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Bei Nichteinhaltung der Ausreisefrist wurde ihr die Abschiebung in den Iran oder einen anderen Staat angedroht. Die Vollziehung der Abschiebungsandrohung und der Lauf der Ausreisefrist wurden bis zum Ablauf der eigentlichen Klagefrist und, im Falle einer fristgerechten Stellung eines Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage, bis zur Bekanntgabe der Ablehnung des Eilantrags durch das Verwaltungsgericht ausgesetzt (Nr. 5). Das Einreise- und Aufenthaltsverbot wurde angeordnet und auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 6). Zur Begründung ist im Wesentlichen ausgeführt: Die Voraussetzungen für die Zuerkennung des internationalen Schutzes und die Anerkennung als Asylberechtigte lägen offensichtlich nicht vor. Der Asylantrag sei gemäß § 30 Abs. 1 AsylG offensichtlich unbegründet. Eine konkret drohende individuelle und begründete Furcht vor Verfolgung sei für die Antragstellerin nicht geltend gemacht worden. Da keine individuellen Gründe für das Kind vorgetragen worden seien, sei auf die Gründe der Eltern zurückzugreifen. Der Asylantrag der Eltern sei im Hinblick auf den internationalen Schutz unanfechtbar abgelehnt worden. Seien die von den Eltern vorgebrachten Gründe bereits nicht geeignet, deren eigenes Asylverfahren zu tragen, so vermögen sie dies erkennbar umso weniger für das Asylverfahren des Kindes.
Am 10. Januar 2022 ließ die Antragstellerin im Verfahren W 8 K 22.30015 Klage gegen den streitgegenständlichen Bescheid erheben und im vorliegenden Verfahren b e a n t r a g e n,
die aufschiebende Wirkung der Klage vom heutigen Tage gegen die Abschiebungsandrohung der Beklagten vom 23. Dezember 2021 anzuordnen.
Zur Begründung ließ die Antragstellerin im Wesentlichen ausführen: Die Antragstellerin sei, wie die Antragsgegnerin selbst unstreitig stelle, Ch.. Zum Zeitpunkt der Asylentscheidung sei die Antragstellerin jünger als 1 Jahr alt gewesen. Die Eltern der Antragstellerin – W 8 K 21.31167 – hätten in logischer Konsequenz als Asylgründe die eigenen Verfolgungsschicksale im Iran für ihr Kind vorgetragen. Die Entscheidung über den Antrag der Eltern sei „regulär“ abgewiesen worden. Die Antragsgegnerin hätten ebenfalls im vorliegenden Fall genauso entscheiden können.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte (einschließlich der Akte der Hauptsache W 8 K 22.30015 sowie der Akte der Eltern W 8 K 21.31167) und die beigezogenen Behördenakten Bezug genommen.
II.
Der Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO ist zulässig und begründet.
Der Antrag, die kraft Gesetzes (§ 75 AsylG) ausgeschlossene aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung im streitgegenständlichen Bescheid der Antragsgegnerin nach § 80 Abs. 5 VwGO anzuordnen, ist zulässig, insbesondere wurde die Frist des § 36 Abs. 3 AsylG eingehalten.
Der Antrag ist begründet, da ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Bescheides bestehen (§ 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG). Konkret bestehen ernstliche Zweifel an der Offensichtlichkeitsentscheidung gemäß § 30 AsylG. Ernstliche Zweifel liegen vor, wenn erhebliche Gründe dafürsprechen, dass die infolge des Offensichtlichkeitsurteils des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge sofort vollziehbare Abschiebungsandrohung einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht Stand hält (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – BVerfGE 94, 166).
Die Ablehnung des Asylantrags in den Nrn. 1 bis 3 des angefochtenen Bescheides als offensichtlich unbegründet findet ihre Grundlage weder in § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG noch in anderen Offensichtlichkeitstatbeständen des § 30 AsylG.
Nach § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG ist ein unbegründeter Asylantrag als offensichtlich unbegründet abzulehnen, wenn er für einen nach diesem Gesetz handlungsunfähigen Ausländer gestellt wird oder – wie hier – nach § 14a AsylG als gestellt gilt, nachdem zuvor Asylanträge der Eltern oder des allein personenberechtigten Elternteils unanfechtbar abgelehnt worden sind. Diese Vorschrift soll zum einen eine als missbräuchlich anzusehende Asylbeantragung verhindern und dient weiter der Verfahrensbeschleunigung, wenn das Kind keine eigenen Gründe geltend macht (vgl. Heusch in BeckOK, AuslR, Kluth/ Heusch, 31. Edition, Stand: 1.10.2021, § 30 AsylG Rn. 52; Schröder in Hofmann, AuslR, 2. Aufl. 2016, § 30 AsylG Rn. 38).
Jedoch greift § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG – abgesehen von der hier schon fehlenden Unanfechtbarkeit der Ablehnung der Asylanträge der Eltern – ausnahmsweise nicht ein, wenn das Kind eigene Gründe geltend macht. Denn die Norm beruht auf der Annahme, dass für die Kinder regelmäßig keine eigenen Asylgründe vorgebracht werden können, sodass im Asylverfahren der Eltern schon eine inhaltliche Überprüfung stattgefunden hat. Bevor das Bundesamt aber nach Nr. 7 vorgeht, hat es nach dem Willen des Gesetzgebers zunächst eigene Asylgründe des handlungsunfähigen Kindes zu prüfen. Verneint die Behörde eine eigene Verfolgung des Kindes, hat es zu prüfen, ob diese in materieller Hinsicht offensichtlich nicht vorliegt oder sonst eine Anwendung des § 30 AsylG gerechtfertigt ist. Nach Nr. 7 darf es dann nicht mehr vorgehen. Werden eigene Gründe des Kindes geltend gemacht und liegen für diese die Voraussetzungen für eine qualifizierte Ablehnung als offensichtlich unbegründet nicht vor, scheidet zwangsläufig auch eine Ablehnung nach § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG aus (Heusch in BeckOK, AuslR, Kluth/Heusch, 31. Edition, Stand: 1.10.2020, § 30 AsylG Rn. 52; Marx, Kommentar zum AsylG, 10. Aufl. 2019, § 30 AsylG Rn. 65; Funke-Kaiser/Fritz/Vormeier, GK-AsylG Lieferung 113, 1.10.2017, § 30 AsylG Rn. 141; Schröder in Hofmann, AuslR, 2. Aufl. 2016, § 30 AsylG Rn. 39 sowie VG Würzburg, B.v. 6.7.2020 – W 8 S 20.30742 – juris; B.v. 29.4.2020 – W 8 S 20.30486 – juris; B.v. 28.8.2013 – W 6 S 13.30278 – juris und VG Karlsruhe, B.v. 30.11.2020 – 4 K 2929/20 – juris; VG Augsburg, U.v. 16.1.2020 – Au 9 K 19.30382 – juris; VG Ansbach, B.v. 4.10.2018 – AN 9 S 18.31173 – juris).
Der hier in der Antragsbegründung vorgebrachte Umstand der Konversion der Eltern zum Christentum und die Tatsache, dass die Antragstellerin – von der Antragsgegnerin durchweg irrtümlich als „Antragsteller“ bezeichnet – ebenfalls selbst Christin ist, und ihr deshalb im Iran als Teil einer christlichen Familie mit eigener christlicher Konfession Verfolgung drohen könnte, sind ein eigener Grund der Antragstellerin in diesem Sinne, der den Offensichtlichkeitsausspruch des § 30 Abs. 3 Nr. 7 AsylG ausschließt (Marx, Kommentar zum AsylG, 10. Aufl. 2019, § 30 AsylG Rn. 65; Schröder in Hofmann, AuslR, 2. Aufl. 2016, § 30 AsylG Rn. 39; VG Würzburg, B.v. 6.7.2020 – W 8 S 20.30742 – juris; B.v. 29.4.2020 – W 8 S 20.30486 – juris; B.v. 28.8.2013 – W 6 S 13.30278 – juris; VG Augsburg, U.v. 16.1.2020 – Au 9 K 19.30382 – juris Rn. 26; VG Ansbach, B.v. 4.10.2018 – AN 9 S 18.31173 – juris Rn. 15). Die christliche Konfession der Antragstellerin als Tochter von ihrerseits vom Islam zum Christentum konvertierten Eltern betrifft die Antragstellerin unmittelbar selbst in eigener Person und steht neben den von ihren Eltern vorgebrachten Gründen.
Die Offensichtlichkeitsentscheidung des Bundesamtes lässt sich auf der Basis des § 30 AsylG auch nicht sonst aufrechterhalten. Bezogen auf die von der Antragstellerin geltend gemachten Verfolgungsgründe, konkret die befürchtete Verfolgung als Kind konvertierter Eltern mit eigener christlicher Konfession und als Teil einer christlichen Familie, liegen keine Offensichtlichkeitsgründe des § 30 AsylG vor. Auch der mögliche Umstand, dass die ca. 13 Monate alte Antragstellerin (zwangsläufig) noch keine eigene Gewissensentscheidung getroffen hat und offenbar die Eltern die Entscheidung über ihre christliche Konfession getroffen haben, rechtfertigt – angesichts der bekannten Verfolgung von Christen im Iran, gerade von zum Christentum konvertierten ehemaligen Moslems (vgl. nur BFA, Bundesamt für Fremdwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformation der Staatendokumentation Iran vom 22.12.2021, S. 48 ff., insbesondere S. 51 f.; Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Iran, Stand: Dezember 2020, vom 5.2.2021, S. 14 f.) – im Ergebnis nicht die qualifizierte Ablehnung des Asylantrages als offensichtlich unbegründet (VG Würzburg, B.v. 6.7.2020 – W 8 S 20.30742 – juris; B.v. 29.4.2020 – W 8 S 20.30486 – juris; B.v. 30.8.2013 – W 6 S 13.30278 – juris sowie VG Augsburg, U.v. 16.1.2020 – Au 9 K 19.30382 – juris).
Hinzu kommt in dem Zusammenhang als weiterer individueller Aspekt und damit möglicher weiterer eigener verfolgungsrelevanter Anknüpfungspunkt der Antragstellerin, dass konvertierten Eltern im Iran infolge ihrer Konversion womöglich das Sorgerecht für das Kind entzogen werden kann. Konkret hat ein Revisionsgericht im Iran am 23. Oktober 2020 entschieden, dass ein Kind muslimischer Eltern nicht bei nichtmuslimischen Eltern – wenn auch im konkreten Fall Adoptiveltern – aufwachsen dürfe (siehe Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Briefing Notes vom 26.10.2020, S. 6). Abgesehen davon sind entgegen den Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid die Asylanträge der Eltern im Hinblick auf den internationalen Schutz gerade nicht unanfechtbar abgelehnt. Vielmehr ist dagegen vor dem Verwaltungsgericht Würzburg im Verfahren W 8 K 21.31167 Klage erhoben worden. Die mündliche Verhandlung ist für den 21. Februar 2022 terminiert. Der Ausgang dieses Verfahrens, in dem die Eltern der Antragstellerin im Wesentlichen auch die Konversion vom Islam zum Christentum geltend machen, ist offen; jedenfalls ist deren Klage nicht offensichtlich aussichtslos.
Gesamtbetrachtet ist der Offensichtlichkeitsausspruch nicht gerechtfertigt, weil insbesondere nach den Umständen im konkreten Einzelfall nicht offensichtlich ist, dass sich die Antragstellerin nur aus wirtschaftlichen Gründen oder um einer allgemeinen Notsituation zu entgehen, im Bundesgebiet aufhält (§ 30 Abs. 2 AsylG).
Liegen nach alledem keine triftigen anderen Gründe für eine Offensichtlichkeitsentscheidung vor, bestehen an der mit Sofortvollzug wirkenden Abschiebungsandrohung ernstliche Zweifel, sodass dem Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung stattzugeben war (vgl. VG Ansbach, B.v. 4.10.2018 – AN 9 S 18.31173 – juris; VG Berlin, B.v. 15.3.2017 – 9 L 90.17 A – juris).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.


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