Verwaltungsrecht

Kein Anspruch auf Aussetzung der Überstellung nach Italien

Aktenzeichen  M 9 S7 19.51104

Datum:
11.12.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 31533
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 7 S. 2
AufenthG § 60a Abs. 2
GG Art. 6
EMRK Art. 8

 

Leitsatz

1. Nach der Rechtsprechung des BVerfG ist Voraussetzung des Duldungsanspruchs eines Vaters das Vorliegen eines gesicherten Bleiberechts des Kindes oder der Kindsmuter, weil die Lebensgemeinschaft nur dann notwendigerweise in Deutschland zu führen wäre. (Rn. 18) (redaktioneller Leitsatz)
2. Es gibt keinen Grundsatz dergestalt, dass einem Ausländer der Verbleib im Bundesgebiet ermöglicht werden müsste, bis die Asylverfahren seiner Familienangehörigen abgeschlossen sind. (Rn. 22) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt die Abänderung eines Eilbeschlusses.
Mit Beschluss vom 13. März 2019, Az. M 9 S 17.50582, wurde der Eilantrag des Antragstellers nach § 80 Abs. 5 Satz 1 VwGO gegen die Abschiebungsanordnung nach Italien im Dublin-Bescheid vom 27. Februar 2017, Gz. 7032647-232, abgelehnt.
Der Bevollmächtigte des Antragstellers beantragt nunmehr,
die Überstellung des Antragstellers nach Italien auszusetzen, bis über die drei Verfahren der Ehefrau und der Söhne, die beim Verwaltungsgericht Regensburg anhängig sind, rechtskräftig entschieden ist.
In einer ersten Antragsbegründung vom 7. Oktober 2019 wurde Folgendes vorgetragen: Der Antragsteller habe sich seiner am 4. September 2019 geplanten Abschiebung bewusst entzogen. Grund hierfür sei, dass die Familie unweigerlich auseinandergerissen würde, wenn er nach Italien überstellt würde. Dies umso mehr, wenn die beim Verwaltungsgericht Regensburg anhängigen Asylklagen der Ehefrau und der Söhne abgewiesen und diese nach Nigeria abgeschoben würden. Der Schutz von Ehe und Familie sei nicht mehr gewährleistet. Die Mutter sei psychisch nicht stabil genug, um die Söhne allein erziehen zu können. Sie habe sich bei einem gegen den Antragsteller angestrengten weiteren Rückführungsversuch am 26. September 2019 in suizidaler Absicht verletzt.
In einer weiteren Antragsbegründung vom 10. Oktober 2019 wurde unter Vorlage eines Berichts des Klinikums P. vom 26. September 2019 Folgendes vorgetragen: Nach ärztlichem Attest habe die Ehefrau des Antragstellers bei dem geschilderten Rückführungsversuch einen dissoziativen Anfall erlitten. Der Antragsteller habe dem Unterzeichner (dagegen) in nur teilweise verständlichem Englisch berichtet, dass sich seine Ehefrau selbst verletzt habe. Inwieweit diese Schilderungen in Einklang zu bringen seien, könne der Unterzeichner momentan nicht beurteilen. Feststehe aber der jeweilige Zusammenhang mit dem Rückführungsversuch.
Unter dem 11. Dezember 2019 wurde schließlich vorgebracht: Die Antragsgegnerin bezweifele anscheinend, dass der Antragsteller mit seinen Kindern und seiner Ehefrau in einer tatsächlichen familiären bzw. ehelichen Beziehung lebe. Der Unterzeichner wolle dies durch Befragung des Antragstellers und seiner Angehörigen aufklären und ergänzend dazu vortragen.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Auf das Vorbringen wird Bezug genommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend Bezug genommen auf die Gerichtssowie die beigezogene Behördenakte; insbesondere wird für den weiteren Sachverhalt auf die Gründe zu I. des Eilbeschlusses vom 13. März 2019, Az. M 9 S 17.50582, Bezug genommen.
II.
Der Antrag hat keinen Erfolg.
Der Antrag ist zulässig. Es wird dabei antragstellergünstig nach § 122 Abs. 1, § 88 VwGO davon ausgegangen, dass ein Antrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO gestellt werden sollte. Da in der Hauptsache nach wie vor eine (statthafte) Anfechtungsklage, § 42 Abs. 1 Var. 1 VwGO, gegen einen sog. Dublin-Bescheid anhängig ist, scheiterte eine einstweilige Anordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO, die dem gestellten Antrag nach wohl angestrebt werden sollte, ansonsten bereits an der Subsidiaritätsklausel des § 123 Abs. 5 VwGO.
Der Antrag nach § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO wäre begründet, wenn gegenüber der Ausgangsentscheidung entscheidungserhebliche neue oder veränderte Umstände vorliegen oder solche entscheidungserheblichen Umstände im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemacht worden sind.
Dies ist nicht der Fall.
Auch aus dem neuerlichen Vorbringen ergeben sich keine Anhaltspunkte für ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG oder für ein inlandsbezogenes Vollzugshindernis nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG, das/die dazu führen würde(n), dass die Abschiebung nach § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG nicht (mehr) durchgeführt werden könnte.
Vortrag zu einem etwaigen Krankheitszustand des Antragstellers selbst erfolgte nicht. Ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot, § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG, ist damit ebenso ausgeschlossen wie ein etwaiges verfassungsunmittelbares Abschiebungsverbot aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG i. V. m. § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG.
Auch ein Duldungsanspruch nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG i. V. m. Art. 6 GG, Art. 8 EMRK kommt (weiterhin) nicht in Betracht. Er scheitert daran, dass die Kindsmutter und/oder die Kinder nicht über ein gesichertes Bleiberecht (bspw. auf Basis einer Aufenthaltserlaubnis) im Bundesgebiet verfügen. Nur bei Vorliegen eines solchen gesicherten Bleiberechts aber wäre ihnen das Verlassen des Bundesgebiets unzumutbar, was nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts Voraussetzung des Duldungsanspruchs des betroffenen Vaters ist, weil die Lebensgemeinschaft nur dann notwendigerweise hier zu führen wäre (vgl. BVerfG, B.v. 23.1.2006 – 2 BvR 1935/05 – NVwZ 2006, 682). Art. 6 Abs. 1 GG gewährleistet nicht das Recht, die familiäre Lebensgemeinschaft in Deutschland zu führen, wenn dies auch in einem anderen Land – Nigeria oder Italien – zumutbar möglich ist (BVerwG, U.v. 30.4.2009 – 1 C 3/08 – NVwZ 2009, 1239). Dass Aufenthaltsgestattungen nach § 55 Abs. 1 Satz 1 AsylG, über die sowohl die Kindsmutter als auch die Kinder angesichts ihrer Asylanträge verfügen müssen, keinen im obigen Sinne „gesicherten Status“ begründen, versteht sich von selbst (vgl. auch VGH BW, B.v. 26.4.2016 – 11 S 432/16 – juris). Ob eine „gelebte“ Vater-Kind-Beziehung besteht und dargetan werden könnte (dazu BVerfG, B.v. 9.1.2009 – 2 BvR 1064/08 – juris) – vgl. den letzten Schriftsatz der Antragstellerseite vom heutigen Tage -, ist deshalb nicht entscheidend.
Auch der Vortrag zu einem dissoziativen Anfall der Kindsmutter führt nicht weiter. Das ärztliche Attest hielt diesbezüglich fest, dass sich diagnostisch kein pathologischer Befund gezeigt habe; die Patientin sei klinisch stabil geblieben und habe keine Selbst- bzw. Fremdgefährdung aufgewiesen. Es ist mithin nichts dafür ersichtlich, dass die Kindsmutter sich und/oder die Kinder nicht mehr allein versorgen können sollte, was eine Beistandsverpflichtung des Antragstellers auslösen könnte (vgl. dazu BVerfG, B.v. 17.5.2011 – 2 BvR 2625/10 – BeckRS 2011, 52471). Damit scheidet auch eine (Ermessens-) Duldung nach § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG mangels dringender humanitärer oder persönlicher Gründe von vorn herein aus.
Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass auch § 43 Abs. 3 Satz 1 AsylG i. V. m. § 5 Abs. 1 Satz 2 AsylG nicht einschlägig ist, da bereits keine gemeinsame Ausreise der (Kern-) Familie ermöglicht werden könnte, hätten die Kindsmutter und die Kinder bei Abweisung ihrer Asylklagen doch Abschiebungsandrohungen nach Nigeria – und damit zumindest nicht zwingend (vgl. aber auch § 34 Abs. 1 AsylG i. V. m. § 59 Abs. 2 Satz 1 AufenthG a. E.) Rückführungen nach Italien – zu gewärtigen. Im Übrigen wird über die Ermächtigung in § 43 Abs. 3 AsylG (nur) der unbestimmte Rechtsbegriff der dringenden humanitären und persönlichen Gründe aus § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG bindend konkretisiert und damit ein Gleichlauf hergestellt zu obigen Erwägungen (zum Ganzen VGH BW, B.v. 26.4.2016, a. a. O.).
Auch aus der jüngsten Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 4.7.2019 – 1 C 45.18 – juris) zum Familienverband kann vorliegend nichts hergeleitet werden.
Dem Antragsteller ist es nach alledem nicht unzumutbar, nach Italien auszureisen; insbesondere gibt es keinen Grundsatz dergestalt, dass einem Ausländer der Verbleib im Bundesgebiet ermöglicht werden müsste, bis die Asylverfahren seiner Familienangehörigen abgeschlossen sind (vgl. nur BVerwG, B.v. 13.8.1990 – 9 B 100/90 – NVwZ-RR 1991, 215; B.v. 3.8.1984 – 1 B 159/83 – NVwZ 1985, 50; im Übrigen auch VG München, B.v. 26.2.2019 – M 12 E 19.892 – BeckRS 2019, 6730).
Nicht nachvollziehbar bleibt bei alledem, wieso der Bevollmächtigte wiederholt von der „Ehefrau“ des Antragstellers spricht – unabhängig davon, dass der Beziehungsstatus nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung für die Annahme eines Abschiebungshindernisses irrelevant ist (vgl. BVerwG, U.v. 9.12.1997 – 1 C 19/96 – NVwZ 1998, 742). Eine Eheschließung wurde im gesamten bisherigen Verfahrensverlauf weder behauptet noch belegt. Auch bleibt unklar, auf was die noch am 7. Oktober 2019 aufgestellte Behauptung gründete, die Kindsmutter habe sich in suizidaler Absicht selbst verletzt.
Im Übrigen wird vollumfänglich auf die Gründe zu II. des Eilbeschlusses vom 13. März 2019, Az. M 9 S 17.50582, Bezug genommen, insbesondere hinsichtlich der Feststellung, dass die Entscheidung des Bundesamts gegen die Ausübung des Selbsteintrittsrechts, Art. 17 Abs. 1 Dublin III-VO, nicht zu beanstanden ist.
Der Beschluss ist unanfechtbar, § 80 AsylG.


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