Verwaltungsrecht

Kein Anspruch auf „Bewährungsduldung“ aus einer Vereinbarung der Beteiligten

Aktenzeichen  19 CE 21.2020

Datum:
7.10.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 30627
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60a Abs. 2 S. 3
EMRK Art. 8
StGB § 67d Abs. 2

 

Leitsatz

1. Bei einer „Bewährungsduldung“, bei der die Behörde unter bestimmten Voraussetzungen für einen festgelegten Zeitraum den Vollzug der mit der Ausweisung bezweckten Aufenthaltsbeendigung aussetzt, um dem Betroffenen die Gelegenheit der Bewährung und damit einer Grundlage für einen weiteren (legalen) Aufenthalt zu ermöglichen, ist jedenfalls für die damit verbundene Voraussetzung der Straffreiheit bzw. des Wohlverhaltens ausschlaggebend, dass nicht weitere Ausweisungsgründe bzw. -interessen vorliegen oder entstehen. (Rn. 8) (redaktioneller Leitsatz)
2. Aus dem Umstand, dass eine Strafvollstreckungskammer die Vollstreckung des Maßregelvollzugs gem. § 67d Abs. 2 StGB zur Bewährung ausgesetzt hat, ergibt sich kein Abschiebungshindernis iSd § 60a AufenthG. (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

W 7 E 21.898 2021-07-22 Bes VGWUERZBURG VG Würzburg

Tenor

I. Die Beschwerde wird zurückgewiesen.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Beschwerdeverfahrens zu tragen.
III. Der Streitwert für das Beschwerdeverfahren wird auf 1.250,00 EUR festgesetzt.

Gründe

Mit seiner Beschwerde verfolgt der Antragsteller, ein im Alter von 5 Jahren 2003 in das Bundesgebiet eingereister türkischer Staatsangehöriger, der wegen wiederholter Straffälligkeit (insb. Verurteilung vom 18.5.2018 u.a. wegen Betäubungsmitteldeliktes zu einer Jugendstrafe von 2 Jahren; nachfolgende Verurteilung vom 8.4.2019 wegen Betrugs, Unterschlagung, Diebstahls und vorsätzlicher Körperverletzung unter Einbeziehung vorangegangener Verurteilungen zu einer Einheitsjugendstrafe von 4 Jahren unter Anordnung der Unterbringung in einer Entziehungsanstalt) mit bestandskräftigem Bescheid vom 20. Juli 2018 aus der Bundesrepublik Deutschland ausgewiesen wurde (Klagerücknahme in der mündlichen Verhandlung vom 3.6.2019, Az.: W 7 K 18.1153), sein Begehren weiter, den Antragsgegner zu verpflichten, bis zu einer Entscheidung im gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 15. Juni 2021 gerichteten Hauptsacheverfahren von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen abzusehen. Mit diesem Bescheid wurde der Antragsteller aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb von 14 Tagen nach Bekanntgabe des Bescheides zu verlassen (Nr. 1), und für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde die Abschiebung in die Türkei angedroht (Nr. 2); hinsichtlich der Nrn. 1 und 2 wurde die sofortige Vollziehung angeordnet (Nr. 3).
Das Verwaltungsgericht hat mit Beschluss vom 22. Juli 2021 den Antrag mit der Begründung abgelehnt, ein Anordnungsanspruch liege nicht vor. Aufgrund des bestandkräftigen Ausweisungsbescheides vom 20. Juli 2018 sei der Antragsteller ausreisepflichtig. Eine rechtliche oder tatsächliche Unmöglichkeit im Sinne von § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG werde von der Antragstellerseite auch nicht geltend gemacht. Der Antragsteller habe einen Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über eine sog. Bewährungsduldung nach § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG. Zwar stelle das Bestreben des Antragstellers, seine im Maßregelvollzug begonnene Suchttherapie in Deutschland zu Ende zu bringen, keinen dringenden humanitären oder persönlichen Grund in diesem Sinne dar. Die Möglichkeit der Erteilung einer Bewährungsduldung sei jedoch explizit Gegenstand der mündlichen Verhandlung vom 3. Juni 2019 gewesen, wie sich aus dem zugehörigen Protokoll ergebe. Zwar sei von der Antragsgegnerseite keine Zusicherung dahingehend getroffen worden, dass dem Kläger nach Abschluss des Maßregelvollzugs eine entsprechende Duldung erteilt werde; die Antragsgegnerseite habe jedoch erklärt, über eine solche Bewährungsduldung (nach pflichtgemäßem Ermessen) zu entscheiden, woraufhin letztendlich die Klage zurückgenommen worden sei. Unabhängig davon ergebe sich eine solche Verpflichtung schon aus dem Wortlaut des Gesetzes; ein expliziter Antrag auf eine solche Entscheidung sei jedenfalls spätestens mit E-Mail des Bevollmächtigten des Antragstellers vom 9. April 2021 gestellt worden. Nach Auffassung der Kammer sei eine ablehnende Entscheidung über die Erteilung einer Bewährungsduldung jedoch mit Schriftsatz vom 29. Juni 2021 im Verfahren W 7 S 21.819 ergangen. Auch wenn es sich hierbei nicht um einen formellen Bescheid mit Rechtsmittelbelehrunghandele, so sei der effektive Rechtsschutz des Antragstellers jedenfalls dadurch gewahrt, dass ihm aufgrund der Vorschrift des § 58 Abs. 2 VwGO die Jahresfrist offenstehe, um seinen eventuell bestehenden Anspruch durchzusetzen. Die im Schriftsatz vom 29. Juni 2021 getroffene Ermessensentscheidung des Antragsgegners sei rechtlich nicht zu beanstanden (vgl. § 114 VwGO). Sie enthalte eine Würdigung der Umstände seit der mündlichen Verhandlung vom 9. Juni 2019 und berücksichtige auch, dass der Antragsteller nunmehr aus dem Maßregelvollzug entlassen worden sei. Es bestünden in diesem Zusammenhang auch keine Bedenken, dass die Straffälligkeit des Klägers in der Haft (wegen Diebstahls oder Hehlerei, Tatzeitpunkt vor der mündlichen Verhandlung vom 3.6.2019) berücksichtigt werde, da die daraus folgende Verurteilung zu einer neunmonatigen Freiheitsstrafe erst nach diesem Zeitpunkt erfolgt sei (Urteil des AG B. vom 10.3.2020 i.V.m. Urteil des LG B. vom 21.10.2020). Darüber hinaus sei berücksichtigt worden, dass es im Maßregelvollzug zu einem Suchtmittelrückfall des Antragstellers im Juni 2019 gekommen sei und des Weiteren im Beschluss des Amtsgerichts G. vom 22. April 2021 die Dauer der Führungsaufsicht auf fünf Jahre festgesetzt und dem Antragsteller zur Auflage gemacht worden sei, sich innerhalb von zwei Wochen nach der Entlassung bei der forensischen Ambulanz des Bezirkskrankenhauses L. vorzustellen, also seine begonnene Therapie fortzusetzen. Ebenso wenig sei zu beanstanden, dass daraus der Schluss gezogen worden sei, dass nach wie vor eine Gefahr vom Antragsteller ausgehe und die Bewährungszeit gerade dazu dienen solle, dass sich der Antragsteller bewähre und mit Unterstützungen und der Aufsicht sich neu gefestigte Strukturen in Freiheit aufbaue. Etwaige Anhaltspunkte dahingehend, dass der Antragsteller in der Bundesrepublik Deutschland nunmehr über weitere als die bereits im Ausweisungsbescheid beschriebenen familiären Beziehungen verfüge, seien weder vorgetragen noch ersichtlich, noch weitere besondere Umstände, die sich nach der mündlichen Verhandlung vom 3. Juni 2019 oder seit der Entlassung aus dem Maßregelvollzug ergeben hätten. Es erscheine daher nicht rechtsfehlerhaft, wenn die Antragsgegnerseite die vom Antragsteller ausgehende Wiederholungsgefahr von weiteren Straftaten in den Vordergrund stelle. Die Ermessensentscheidung sei damit rechtlich nicht zu beanstanden. Nachdem schon keine Ermessenfehler ersichtlich seien, liege erst recht keine Ermessensreduzierung auf Null vor, was jedoch für die Annahme eines Anordnungsanspruchs im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzes nach § 123 VwGO erforderlich wäre.
Die hiergegen gerichtete Beschwerde bleibt ohne Erfolg. Die zur Begründung der Beschwerde dargelegten Gründe, auf die der Verwaltungsgerichtshof nach § 146 Abs. 4 Satz 6 VwGO seine Prüfung zu beschränken hat, rechtfertigen nicht die Abänderung oder Aufhebung der angefochtenen Entscheidung.
Mit seiner Beschwerde trägt der Antragsteller vor, der Auffassung, die Ausländerbehörde hätte im Schriftsatz vom 29. Juni 2021 eine Ermessensentscheidung nachgeholt, werde entgegengetreten. Die für sofort vollziehbar erklärte Ausreiseaufforderung mit Ausgangsbescheid vom 15. Juni 2021 beruhe auf der Auffassung der Ausländerbehörde, dass der Antragsteller aufgrund seiner bestandskräftigen Ausweisung keinen Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung über eine Bewährungsduldung nach § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG mehr habe. Eine erneute Prüfung des Sachverhaltes der vom Antragsteller ausgehenden Gefährdung werde für „obsolet“ gehalten, da es sich um eine (automatische) Maßnahme des Verwaltungsvollzugs handele. Nach Auffassung des Antragsgegners erschließe sich nicht, auf welcher Grundlage über eine Bewährungsduldung noch entschieden werden sollte. Unter dieser Vorgabe könnten die Ausführungen unter Ziff. 3 des Schriftsatzes vom 29. Juni 2021 nicht als nachgeholte Ermessensentscheidung gewertet werden. Die Ausführungen dienten lediglich dazu, die bereits getroffene Entscheidung, dass über eine Bewährungsduldung nicht mehr entschieden werden könne und müsse, zu rechtfertigen. Aus diesem Grund würden sämtliche negativen Gesichtspunkte zusammengestellt, die gegen den Antragsteller sprächen. Die positiven Gesichtspunkte, die sich insbesondere nach Abschluss der stationären Maßnahme aus der Entlassungsprognose der behandelnden Ärzte der R.- Klinik für Forensische Psychiatrie ergäben, würden nicht erwähnt geschweige denn gewürdigt und gewichtet. Dazu hätte jedoch Anlass bestanden, weil sich der von der Ausländerbehörde negativ gewertete strafvollstreckungsrechtliche Bewährungsbeschluss vom 22. April 2021 in der Begründung ausdrücklich auf die prognostische Einschätzung des behandelnden Arztes stütze. Dem Antragsteller sei diese Einschätzung auf Nachfrage bei der Klinik nicht vorgelegt worden. Es sei Sache der Ausländerbehörde, diese Einschätzung anzufordern. Die von der Ausländerbehörde unverändert gesehene Gefährdungsprognose sei nicht auf dem neuesten Stand und als nachgeholte Ermessensentscheidung nicht geeignet, eine ohne jegliches Ermessen getroffene Ausgangsentscheidung zu heilen.
Auf die Mitteilung der Antragsgegnerseite vom 23. August 2021, wonach gegen den Antragsteller ein erneutes strafrechtliches Ermittlungsverfahren wegen Verstoßes gegen das Anti-Doping-Gesetz anhängig sei, nachdem im Rahmen einer am 8. Juli 2021 erfolgten Personenkontrolle und Durchsuchung beim Antragsteller Testosteron und Amphetamin gefunden worden sei, trägt der Antragsteller weiter vor, dem Vorwurf, er sei erneut straffällig geworden und habe gegen das Betäubungsmittelgesetz oder das Anti-Doping-Gesetz verstoßen, werde widersprochen. Der Sachbericht werde von der Polizei unzutreffend dargestellt. Der Kläger habe beim Friseur am Bahnhof, den er kenne, einen kurzen Termin gehabt, um sich lediglich eine Kontur im Bart schneiden zu lassen. Dabei habe sich der Kläger nicht auffällig verhalten. Allerdings sei der Kläger dem Polizeibeamten aus seiner Zeit vor seiner Haftstrafe persönlich bekannt. Richtig sei, dass bei der polizeilichen Durchsuchung in der Sporttasche des Antragstellers eine Glasampulle mit Testosteron und eine Plombe mit weißem Pulver gefunden worden sei, das sich als Amphetamin herausgestellt habe. Ebenso eine noch verpackte sterile Nadel zur Verabreichung des Testosterons. Dabei habe es sich jedoch um Utensilien gehandelt, die der Kläger aus seinen Fitnessstunden noch in seiner Sporttasche gehabt habe. Durch die Drogenkontrollen, denen sich der Kläger regelmäßig unterziehe, sei jedoch nachgewiesen, dass der Kläger nach seiner Haftzeit weder Testosteron noch Amphetamin eingenommen habe. Der Kläger habe wegen des Vorfalls vom 8. Juli 2021 mit seinem Bewährungshelfer gesprochen und sei zuversichtlich, dass die Angelegenheit im Ermittlungsverfahren noch aufgeklärt werde. Zu widersprechen sei der Vermutung der Ausländerbehörde, der Kläger könne mit Unterstützung von Familie oder Bekannten in der Türkei rechnen. Der Kläger habe zur Türkei keinerlei Kontakte.
Diese Rügen greifen nicht durch. Das Verwaltungsgericht hat zutreffend festgestellt, dass der Antragsteller einen Anspruch auf Aussetzung aufenthaltsbeendender Maßnahmen bis zum rechtskräftigen Abschluss des gegen die Ausreiseaufforderung unter Setzung einer Ausreisefrist und gegen die Abschiebungsandrohung gerichteten Klageverfahrens im Verfahren gemäß § 123 VwGO nicht glaubhaft gemacht hat. Der Antragsteller ist aufgrund der bestandskräftigen Ausweisung mit Bescheid vom 20. Juli 2018 vollziehbar ausreisepflichtig (§§ 51 Abs. 1 Nr. 5, 50 Abs. 1 AufenthG). Weder ergibt sich der vorliegend geltend gemachte Anspruch auf „Bewährungsduldung“ nach strafvollstreckungsrechtlicher Aussetzung des Maßregelvollzugs aus einer Vereinbarung der Beteiligten im Rahmen der mündlichen Verhandlung der gegen die Ausweisung gerichteten Klage vor dem Verwaltungsgericht vom 3. Juni 2019 (1.), noch ist glaubhaft gemacht, dass die Abschiebung des Antragstellers aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG unmöglich ist (2.), noch ist gemäß § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG im Wege der Ermessensreduktion auf Null ein Anspruch auf Ermöglichung eines vorübergehend erforderlichen Aufenthalts aus dringenden humanitären oder persönlichen Gründen oder erheblichen öffentlichen Interessen zu erkennen (3.).
1. Sowohl das Verwaltungsgericht als auch der Antragsteller selbst haben zutreffend erkannt, dass ausweislich des Sitzungsprotokolls der mündlichen Verhandlung vom 3. Juni 2019 keine Vereinbarung oder Zusicherung über die Erteilung einer Bewährungsduldung getroffen wurde, vielmehr wurde laut Sitzungsprotokoll lediglich seitens des Klägerbevollmächtigten die Erteilung einer „Bewährungsduldung“ angesprochen.
Bei einer „Bewährungsduldung“, bei der die Behörde unter bestimmten Voraussetzungen für einen festgelegten Zeitraum den Vollzug der mit der Ausweisung bezweckten Aufenthaltsbeendigung aussetzt, um dem Betroffenen die Gelegenheit der Bewährung und damit einer Grundlage für einen weiteren (legalen) Aufenthalt zu ermöglichen, ist jedenfalls für die damit verbundene Voraussetzung der Straffreiheit bzw. des Wohlverhaltens ausschlaggebend, dass nicht weitere Ausweisungsgründe bzw. -interessen vorliegen oder entstehen (vgl. BayVGH, B.v. 2.4.2020 0 – 10 ZB 19.1552 – juris Rn. 7).
Für die im Rahmen der mündlichen Verhandlung vom 3. Juni 2019 lediglich von Klägerseite angeregte Entscheidung über die Erteilung einer Bewährungsduldung ist somit – worauf sowohl der Antragsgegner als auch das Verwaltungsgericht zutreffend hingewiesen haben – entscheidend, dass der Antragsteller sowohl nach Erlass der Ausweisungsverfügung mit Urteil vom 8. März 2019 zu einer (erhöhten) Einheitsjugendstrafe von 4 Jahren verurteilt wurde als auch wegen einer am 13. Dezember 2018 in der Haft begangenen Straftat wegen Diebstahl oder Hehlerei erneut durch Urteil vom 20. März 2020 zu einer Freiheitsstrafe von 9 Monaten verurteilt werden musste, mithin die in der mündlichen Verhandlung von Klägerseite geäußerte Erwartung von Straffreiheit und Wohlverhalten gerade nicht gegeben war.
2. Andere Duldungsgründe im Sinne von § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG sind vom Antragsteller weder vorgetragen noch glaubhaft gemacht worden und auch ansonsten nicht ersichtlich.
2.1. Aus dem Umstand, dass die Strafvollstreckungskammer die Vollstreckung des Maßregelvollzugs gem. § 67d Abs. 2 StGB zur Bewährung ausgesetzt hat, ergibt sich kein Abschiebungshindernis im Sinne des § 60a AufenthG (vgl. ebenso OVG Bremen, B.v. 16.11.2020 – 2 B 220/20 – juris Rn. 30). Insoweit ist zu berücksichtigen, dass der Antragsteller die Klage gegen die Ausweisung zurückgenommen, also aus freien Stücken auf die Weiterführung des Rechtsstreits verzichtet hat. Dies hat grundsätzlich die Folge, dass der angefochtene Bescheid und die darin getroffene Gefahrenprognose in Bestandskraft erwächst und damit einer weiteren Überprüfung durch die Verwaltungsgerichte entzogen ist. Im Hinblick auf die Bestandskraft der Ausweisung ist daher eine Berücksichtigung der strafvollstreckungsrechtlichen Aussetzungsentscheidung im Rahmen der in der Ausweisungsentscheidung getroffenen Gefahrenprognose nicht möglich (vgl. BVerfG, B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 – juris Rn. 21 ff.); die Bestandskraft der Ausweisung steht einer inhaltlichen Überprüfung der Entscheidung entgegen.
2.2. Nur wenn der Eintritt der Bestandskraft der Ausweisung schon mehrere Jahre zurückliegt, ist im einstweiligen Rechtsschutzverfahren gegen die Abschiebung zu prüfen, ob inzwischen eine Verwurzelung eingetreten ist, die zu einem Abschiebungs- bzw. Ausreisehindernis aus Art. 8 EMRK führt. Selbst ein Entfallen der Wiederholungsgefahr würde hierfür indes allein nicht ausreichen (vgl. OVG Bremen, a.a.O. Rn. 32 ff. m.w.N.).
Soweit sich der Antragsteller im Beschwerdevorbringen sinngemäß auf eine „Entwurzelung“ vom Land seiner Staatsangehörigkeit bzw. eine „Verwurzelung“ im Bundesgebiet und damit auf ein aus Art. 8 EMRK resultierendes Abschiebehindernis beruft, verkennt er, dass bei dem geltend gemachten Duldungsgrund die von ihm selbst am 3. Juni 2019 durch Klagerücknahme herbeigeführte Bestandskraft des Ausweisungsbescheids vom 20. Juli 2018 mit zu berücksichtigen ist. Denn bei der Entscheidung über die Ausweisung des im Alter von 5 Jahren eingereisten Antragstellers hatte die Ausländerbehörde bereits berücksichtigt, welche Auswirkungen die Ausweisung auf das Privatleben des Antragstellers und seine familiären Bindungen an Personen hat, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten.
Auch unter Berücksichtigung des Zeitablaufs seit der eingetretenen Bestandskraft der Ausweisungsentscheidung und der zwischenzeitlich erfolgten Entwicklung kann sich der Antragsteller nicht auf ein sich aus Art. 8 EMRK ergebendes Abschiebungshindernis wegen „Verwurzelung“ im Bundesgebiet berufen.
Die Abschiebung kann einen unverhältnismäßigen Eingriff in das durch Art. 8 EMRK geschützte Recht auf Achtung des Privatlebens darstellen, wenn sich ein seit langem oder schon immer in Deutschland lebender Ausländer persönlich, wirtschaftlich und sozial integriert hat, hier verwurzelt, in seinem Herkunftsland entwurzelt (oder nicht verwurzelt war) und nach alledem zum „faktischen Inländer“ geworden ist (vgl. Koch in Kluth/Hornung/Koch ZuwanderungsR-HdB, 3. Aufl. 2020, § 5 Rn. 298). Abgesehen von grundsätzlichen gesetzessystematischen Einwänden, den Schutz der Privatsphäre nicht nur auf die Beendigung eines bestehenden Aufenthaltsrechts, sondern auch auf die Aussetzung des Vollzugs bestehender Ausreisepflichten anzuwenden, kommt ein Rekurs auf die Rechtsprechung des EGMR zu Art. 8 EMRK nur dann in Betracht, wenn ein Ausländer in so hohem Maße aufgrund seiner Lebensumstände in Deutschland verwurzelt ist, dass er aufgrund einer abgeschlossenen und gelungenen Integration faktisch in so erheblichem Maße vom Aufenthalt im Bundesgebiet abhängig ist, dass ihm ein Leben im Staat seiner Staatsangehörigkeit schlechterdings nicht mehr zugemutet werden kann (vgl. Hailbronner in: Hailbronner, Ausländerrecht, Stand: 2/2020, § 60a AufenthG, Rn. 97).
Der Schutz auf Achtung des Privatlebens umfasst die Summe aller sonstigen familiären, persönlichen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Beziehungen, die für das Privatleben eines jeden Menschen konstitutiv sind und denen angesichts der zentralen Bedeutung dieser Bindungen für die Entfaltung der Persönlichkeit eines Menschen bei fortschreitender Dauer des Aufenthalts wachsende Bedeutung zukommt (vgl. BVerfG, B.v. 21.02.2011 – 2 BvR 1392/10 -, InfAuslR 2011, 235, juris Rn. 19). Eine danach den Schutz des Privatlebens auslösende Verbindung mit der Bundesrepublik Deutschland als Aufenthaltsstaat kommt grundsätzlich für solche Ausländer in Betracht, die aufgrund eines Hineinwachsens in die hiesigen Verhältnisse bei gleichzeitiger Entfremdung von ihrem Heimatland so eng mit der Bundesrepublik Deutschland verbunden sind, dass sie gewissermaßen deutschen Staatsangehörigen gleichzustellen sind, während sie mit ihrem Heimatland im Wesentlichen nur noch das formale Band ihrer Staatsangehörigkeit verbindet (vgl. BVerwG, U.v. 29.9.1998 – 1 C 8.96 – NVwZ 1999, 303, VGH Baden-Württemberg, U.v. 13.12.2010 – 11 S 2359.10 – juris). Allerdings ist ein langfristiger Aufenthalt im Gastland allein grundsätzlich noch kein den Schutzbereich eröffnendes Kriterium. Das Bundesverwaltungsgericht führt aus, eine nach Art. 8 Abs. 1 EMRK schützenswerte Verwurzelung eines Ausländers komme grundsätzlich nur auf der Grundlage eines rechtmäßigen Aufenthalts und eines Vertrauens auf den Fortbestand des Aufenthalts in Betracht (BVerwG, U.v. 30.4.2009 – 1 C 3.08, U.v. 26.10.2010 – 1 C 18.09, B.v. 1.3.2011 – 1 B 2.11 – jeweils juris, ebenso BayVGH, U.v. 23.11.2010 – 10 B 09.731 – U.v. 21.12.2011 – 10 B 11.182 – jeweils juris). Eingriffe in dieses Recht sind nach Art. 8 Abs. 2 EMRK zulässig, soweit sie zum Zwecke der „öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ sowie „des wirtschaftlichen Wohls des Landes“ in einer „demokratischen Gesellschaft notwendig“ sind, mithin wenn der Eingriff durch ein dringendes gesellschaftliches Bedürfnis gerechtfertigt ist und zu dem mit ihm verfolgten Zweck in einem angemessenen Verhältnis steht (EGMR, U.v. 22.7.2004 – 42703/98 Rn. 31 – Radovanovic; EGMR, U.v. 28.06.2007 – 31753/02 – Kaya, BeckRS 2008, 06725 Rn. 51). Nach der Rechtsprechung des EGMR bietet Art. 8 EMRK auch bei sog. „Zuwanderern der zweiten Generation“ keinen absoluten Schutz vor einer Aufenthaltsbeendigung (vgl. EGMR , U.v. 18. 10. 2006 – 46410/99 Rn. 54 – Üner, NVwZ 2007, 1279). Das Ausmaß der „Verwurzelung“ bzw. die für den Ausländer mit einer „Entwurzelung“ verbundenen Folgen sind unter Berücksichtigung der verfassungsrechtlichen Vorgaben sowie der Regelung des Art. 8 EMRK zu ermitteln, zu gewichten und mit den Gründen, die für eine Aufenthaltsbeendigung sprechen, abzuwägen. Von erheblichem Gewicht sind dabei die Dauer des Aufenthalts, wo der Ausländer die Schulzeit verbracht hat und geprägt wurde, sowie der Schulabschluss und die Deutschkenntnisse, die er erworben hat. Von Bedeutung ist auch die Legitimität des bisherigen Aufenthalts. Was die berufliche Verwurzelung in Deutschland betrifft, ist zu prüfen, ob der Ausländer berufstätig und dadurch in der Lage ist, den Lebensunterhalt dauerhaft zu sichern, und ob er über längere Zeit öffentliche Sozialleistungen bezogen hat. Ferner ist von Bedeutung, ob der Betreffende eine Berufsausbildung absolviert hat und ihn diese Ausbildung gegebenenfalls für eine Berufstätigkeit qualifiziert, die nur oder bevorzugt in Deutschland ausgeübt werden kann. Bei der sozialen Integration ist das Ausmaß sozialer Bindungen bzw. Kontakte des Ausländers außerhalb der Kernfamilie von Belang. Auch strafrechtliche Verurteilungen sind in die Betrachtung einzustellen. Alle diese Umstände sind im Wege einer Gesamtbewertung zu gewichten (vgl. OVG LSA, B.v. 27.11.2014 – 2 B 98/14 – juris Rn. 27).
Nach diesen Maßgaben ist entsprechend der bestandskräftigen Abwägung im Ausweisungsbescheid vom 20. Juli 2018 zu berücksichtigen, dass der Antragsteller seit seinem 15. Lebensjahr wiederholt massiv straffällig geworden ist (im Wesentlichen wegen Betäubungsmitteldelikten, Diebstahlsdelikten, Beleidigungsdelikten, versuchter Erpressung, Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte), er keine Berufsausbildung absolviert hat und daher von keiner wirtschaftlichen Integration ausgegangen werden kann. Die lange Aufenthaltsdauer des Antragstellers und seine Beziehungen zu volljährigen Familienangehörigen vermögen sich in Übereinstimmung mit den bestandskräftigen Feststellungen im Ausweisungsbescheid in Anbetracht dessen im Rahmen der Gesamtbewertung nicht durchzusetzen. Vielmehr ist davon auszugehen, dass dem Antragsteller über die Sozialisation im türkischen Elternhaus eine Reintegration im Heimatland zumutbar sein wird.
Eine abweichende Beurteilung gebietet auch nicht die zwischenzeitlich erfolgte Suchttherapie im Rahmen des Maßregelvollzugs. Die Aussetzung des Maßregelvollzugs zur Bewährung mit Beschluss vom 22. April 2021 stellt sich weder als maßgeblicher Integrationsfaktor im Sinne einer „Verwurzelung“ im Bundesgebiet dar noch steht sie unter den Umständen des vorliegenden Einzelfalls der (negativen) Gefahrenprognose entgegen, dass weitere Straftaten des Antragstellers ernsthaft drohen.
Der Senat hat bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass ungeachtet der indiziellen Bedeutung eines strafvollstreckungsrechtlichen Aussetzungsbeschlusses (BVerfG, B.v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 – juris Rn. 21) aufgrund breiterer Tatsachengrundlage und der Unterschiedlichkeit der Prognosen bei Strafrestaussetzungen und Ausweisungsentscheidungen eine sicherheitsrechtliche Gefahr der Begehung weiterer Straftaten fortbestehen kann (vgl. BayVGH, B.v. 2.5.2017 – 19 CS 16.2466 – juris Rn. 8 ff.; KommunalPraxis BY 2017, 275 – Leitsatz, NVwZ 2017, 1637/1638 – Leitsatz – und ZAR 2017, 339 – Leitsatz; B.v. 16.7.2021 – 19 ZB 18.1022 – juris Rn. 38 m.w.N.). Die Unterbringung in einer Entziehungsanstalt hat nicht das Ziel, Gefahren für die öffentliche Sicherheit längerfristig zu unterbinden. Für eine Aussetzung dieser Maßregel nach § 67d Abs. 2 StGB genügt die hinreichend konkrete Aussicht („erwarten“ bedeutet keine unbedingte Gewähr, ein vertretbares Risiko ist einzugehen vgl. Kinzig in Schönke/Schröder, StGB, 30. Aufl. 2019, § 67d Rn. 3), dass der Untergebrachte außerhalb des Maßregelvollzugs keine erheblichen rechtswidrigen Taten mehr begehen wird. Eine langfristige Bewahrung vor dem Rückfall kann bereits deshalb nicht als Ziel der Unterbringung festgelegt werden, weil ansonsten entsprechend lange Unterbringungszeiten erforderlich wären. Bei dieser strafvollstreckungsrechtlichen Entscheidung sowie bei der Erstellung eines Prognosegutachtens hierfür sind diese begrenzte Zielsetzung der Unterbringung und der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu beachten. Insgesamt ist das erforderliche Maß an die Erfolgswahrscheinlichkeit für eine Aussetzung des Strafrestes zur Bewährung und für eine entsprechende vorläufige Beendigung der Maßregel wesentlich kleiner als dasjenige für eine positive ausländerrechtliche Gefahrenprognose, weil aus der Sicht des Strafrechts auch die kleinste Resozialisierungschance genutzt werden muss (vgl. BayVGH, B.v. 16.7.2021, a.a.O., Rn. 40).
Bei Straftaten, die auf einer Suchterkrankung des Ausländers beruhen, kann nach der ständigen Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes von einem Wegfall der Wiederholungsgefahr nicht ausgegangen werden, solange der Ausländer nicht eine Drogentherapie erfolgreich abgeschlossen und die damit verbundene Erwartung eines künftig drogen- und straffreien Verhaltens auch nach Therapieende glaubhaft gemacht hat (vgl. BayVGH, B.v. 2.8.2021 – 19 CS 21.330 – juris m.w.N.). Solange sich der Ausländer nicht außerhalb des Straf- bzw. Maßregelvollzugs bewährt hat, kann nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung geschlossen werden, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen würde.
Unbesehen der Bestandskraft der Ausweisung ist nach diesen Maßgaben darauf hinzuweisen, dass der Antragsteller erst vor kurzer Zeit aus dem Maßregelvollzug entlassen wurde, die Bewährungszeit bzw. Führungsaufsicht auf fünf Jahre (und damit die Höchstfrist) festgesetzt wurde und eine Bewährung in Freiheit somit noch (fast) vollständig aussteht. Dem Antragsteller wurde die Weisung erteilt, sich innerhalb von zwei Wochen nach Entlassung bei der Institutsambulanz des Bezirkskrankenhauses zur ambulanten Fortsetzung der Therapie vorzustellen. In diesem Zusammenhang ist auch zu berücksichtigen, dass der Antragsteller sogar unter Aufsicht und den schützenden Bedingungen der Haft am 13. Dezember 2018 nochmals erheblich straffällig wurde und deshalb mit seit 10. Juni 2020 rechtskräftigem Urteil des Amtsgerichts B. vom 10. März 2020 zu einer Freiheitsstrafe von 9 Monaten wegen Diebstahls oder Hehlerei verurteilt wurde. Zweifel an einer positiven Legalprognose im Sinne eines zu erwartenden drogen- und straffreien Verhaltens sind trotz des strafvollstreckungsrechtlichen Aussetzungsbeschlusses vom 22. April 2021 des Weiteren auch im Hinblick auf das erneute strafrechtliche Ermittlungsverfahren angezeigt, das wegen des Besitzes von Testosteron und Amphetamin anlässlich einer Kontrolle am 8. Juli 2021 gegen den Antragsteller eingeleitet wurde.
Im Wege der Gesamtbewertung ist somit ein etwaiger Eingriff in das durch Art. 8 Abs. 1 EMRK geschützte Recht auf Privatleben als in einer demokratischen Gesellschaft notwendig für die nationale oder öffentliche Sicherheit und insbesondere zur Verhütung von Straftaten als gerechtfertigt anzusehen (Art. 8 Abs. 2 EMRK).
2.3. Schließlich erweist sich die Abschiebung des Antragstellers auch nicht wegen seines Wunsches, seine Bewährungszeit und weiterhin seine Drogentherapie im Bundesgebiet zu durchlaufen, als unmöglich im Sinne von § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG. Eine solche Maßnahme kann er auch in seinem Heimatland durchführen. Seine Anwesenheit im Bundesgebiet ist dafür nicht erforderlich.
3. Der Wunsch, eine im Bundesgebiet begonnene Therapie hier auch zu Ende zu führen und sich in dem Sinne zu bewähren, dass eine Lebensführung ohne weitere Straffälligkeit nachgewiesen wird, ist vorliegend auch nicht als dringender oder humanitärer Grund im Sinne des § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG anzuerkennen, der eine Ermessensduldung rechtfertigen würde. Abgesehen davon setzt sich das Beschwerdevorbringen mit der insoweit tragenden Begründung des Verwaltungsgerichts, wonach ein Anspruch im Wege der Ermessensreduktion auf Null zu verneinen sei, nicht auseinander. Das Beschwerdevorbringen, der Antragsgegner habe eine Ermessensentscheidung über die Erteilung einer Bewährungsduldung nicht getroffen und entsprechende Ermessenserwägungen nicht nachgeholt, ist in Anbetracht der Verfahrenshistorie (auf die Anträge des Antragstellerbevollmächtigten auf Erteilung einer Bewährungsduldung per E-Mail vom 9.4.2021 und 4.5.2021 hat die Behörde bereits mit E-Mail vom 5.5.2021 eine ablehnende Mitteilung übermittelt, auf das Begehren des Antragstellers nach einem rechtsmittelfähigen Bescheid mit Schreiben vom 18.5.2021 hat die Behörde am 2.6.2021 darauf hingewiesen, dass die Duldungsversagung im Bescheid vom 12.03.2021 enthalten sei; an der ablehnenden Haltung wurde mit ausführlicher Begründung im Schriftsatz der Behörde vom 29.6.2021 festgehalten) nicht nachvollziehbar und unbehelflich. Das Verwaltungsgericht und der Antragsgegner haben vorliegend zu Recht einen Anspruch des Antragstellers auf Erteilung einer Bewährungsduldung verneint.
Resozialisierungsinteressen können im Einzelfall ein dringender persönlicher Grund im Sinne von § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG sein, der es der Ausländerbehörde ermöglicht, im Ermessenswege eine Duldung unter Bewertung des Gefährdungspotentials bei einem das öffentliche Interesse überwiegendem Resozialisierungszweck zu erteilen (vgl. Funke-Kaiser in GK-AufenthG, Stand: 3/2021, § 60a Rn. 308). Eine sog. „Bewährungsduldung“ stellt sich als ein Instrument dar, eine bereits erfolgreich begonnene und weit fortgeschrittene Bewährung zu honorieren, beispielsweise wenn im Zeitpunkt der Entscheidung über die Klage gegen die Ausweisungsentscheidung schon die strafrechtliche Bewährungszeit abgelaufen und eine weitere Bewährung in Freiheit erfolgt ist und der Betroffene in gesicherten persönlichen und materiellen Verhältnissen lebt, indem auf einen Vollzug der Ausweisung einstweilen verzichtet wird. Die Bewährungsduldung setzt dabei – wie ausgeführt – zwingend eine Straffreiheit bzw. ein Wohlverhalten voraus und dient indes nicht dazu, eine Bewährung erst zu ermöglichen. Ein neuerlich anhängiges strafrechtliches Ermittlungsverfahren legt jedenfalls Zweifel am Resozialisierungserfolg nahe und steht zumindest bis zur Ausräumung eines Tatverdachts der Erteilung einer Bewährungsduldung entgegen.
Ungeachtet der mithin nicht gegebenen Voraussetzungen für eine Bewährungsduldung sind mit dem Verwaltungsgericht daher die Ermessenserwägungen des Antragsgegners, im Hinblick auf eine erneute Straffälligkeit des Antragstellers während der Haft, die erst kürzlich erfolgte Aussetzung seines Maßregelvollzugs und das neuerlich eingeleitete strafrechtliche Ermittlungsverfahren wegen Besitzes von Testostoron und Amphetamin die Erteilung einer Bewährungsduldung zu versagen, nicht zu beanstanden. Trotz der Behauptungen des Antragstellers, er habe sich nicht auffällig verhalten, der Polizeibeamte habe ihn gekannt, die Substanzen hätten sich „noch“ von seinen Fitnessstunden in seiner Tasche befunden und die (stichprobenartigen) Drogenscreenings seien negativ gewesen, sind im Hinblick auf den kurzen Zeitablauf seit Aussetzung des Maßregelvollzugs und in Anbetracht des neuerlichen strafrechtlichen Ermittlungsverfahrens wegen Verstoßes gegen das Anti-Doping-Gesetz Zweifel am Willen des Antragstellers zu künftig rechtstreuem Verhalten gerechtfertigt.
Die Hoffnung des Antragstellers, die Verdachtsmomente ausräumen zu können, und die bei laufendem Strafverfahren geltende Unschuldsvermutung stehen einer Berücksichtigung der das neuerliche Ermittlungsverfahren begründenden Umstände nicht entgegen. Denn die im Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) wurzelnde Unschuldsvermutung schützt nur vor Nachteilen, die einem Schuldspruch gleichkommen, nicht jedoch vor Rechtsfolgen ohne Strafcharakter (vgl. BVerwG, B.v. 24.1.2017 – 2 B 75.16 – juris Rn. 12 m.w.N.). Daher ist eine Berücksichtigung der in dem Strafverfahren bislang zutage geförderten Erkenntnisse – auch wenn es sich zunächst nur um „Verdachtsmomente“ handelt – in einem Verfahren, in dem es um die Aussetzung der Abschiebung wegen Wohlverhaltens bzw. zur weiteren Bewährung und in diesem Zusammenhang um die Frage einer fortdauernden Gefährlichkeit, mithin um präventives sicherheitsbehördliches Handeln geht, möglich und geboten (vgl. OVG Bremen, Beschluss 8.1.2019 – 2 B 235/20 – juris Rn. 36; B.v. 22.10.2019 – 2 B 138/19, juris Rn. 29). Unabhängig vom Beschwerdevorbringen, der Antragsteller habe weder Betäubungsmittel noch Testostoron konsumiert, erscheint nach den bisherigen Ermittlungsergebnissen zumindest der Besitz von Amphetamin in einer Größenordnung von 2,9 Gramm sowie der Besitz von Testosteron in nicht geringer Menge nach dem Anti-Doping-Gesetz als gesichert. Die Verdachtsmomente sind daher geeignet, der Annahme eines Wohlverhaltens als Voraussetzung für eine Bewährungsduldung entgegen zu stehen.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 161 Abs. 1, 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 53 Abs. 2 Nr. 1, § 52 Abs. 1, 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO).


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