Verwaltungsrecht

Kein Wegfall der Wiederholungsgefahr nach Begehung erheblicher Straftaten

Aktenzeichen  10 ZB 18.2660

Datum:
18.4.2019
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2019, 8659
Gerichtsart:
VGH
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 124 Abs. 2 Nr. 1, Abs. 4, Abs. 5, § 124a Abs. 4 S. 4
AufenthG § 11 Abs. 3, § 53 Abs. 1, Abs. 2
EMRK Art. 8

 

Leitsatz

1. Soweit ein Kläger trotz begonnener Therapiemaßnahmen seine Gewalt- und Suchtproblematik noch nicht abschließend (erfolgreich) bearbeitet hat, kann noch nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung geschlossen werden, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen würde (stRspr, vgl. zuletzt BayVGH BeckRS 2019, 7299). (Rn. 4) (redaktioneller Leitsatz)
2. Auch unter Berücksichtigung des Art. 8 EMRK erscheint es nicht unzumutbar, wenn von einem Ausländer erwartet wird, dass er seine – wenn auch nur geringen – Sprachkenntnisse seines Heimatlandes ausbaut und erweitert, um in seinem Heimatland wieder Fuß fassen zu können (vgl. auch BayVGH BeckRS 2006, 22255). (Rn. 11) (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

M 12 K 18.1508 2018-08-23 Urt VGMUENCHEN VG München

Tenor

I. Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II. Der Kläger trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III. Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,- Euro festgesetzt.

Gründe

Der Antrag auf Zulassung der Berufung, mit dem der Kläger seine in erster Instanz erfolglose Klage gegen die mit Bescheid der Beklagten vom 8. März 2018 verfügte Ausweisung und das auf sieben bzw. fünf Jahre befristete Einreise- und Aufenthaltsverbot weiterverfolgt, ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat allein unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich weder die der Sache nach geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinn des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO, noch ist die Berufung wegen der gerügten Divergenz (§ 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO) oder einer Verletzung des rechtlichen Gehörs (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO) zuzulassen.
1. Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des angefochtenen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO bestünden dann, wenn der Kläger im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung des Erstgerichts mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B.v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11; B.v. 9.6.2016 – 1 BvR 2453/12 – juris Rn. 16). Dies ist jedoch nicht der Fall.
Das Verwaltungsgericht hat die Ausweisung gemäß § 53 Abs. 1 AufenthG als rechtmäßig angesehen und beim Kläger aufgrund seiner nicht abschließend bearbeiteten Gewalt- und Suchtproblematik eine hinreichende Wiederholungsgefahr insbesondere erneuter Gewaltdelikte angenommen. Im Hinblick auf die vom Kläger begangenen Straftaten, insbesondere Körperverletzungsdelikte und Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, hat es zudem generalpräventive Gründe für die Ausweisung bejaht.
Hiergegen macht der Kläger geltend, infolge seiner zwar noch nicht beendeten Teilnahme an einem Anti-Aggressionstraining und einer Drogentherapie habe er alles für eine straffreie Zukunft getan, weshalb bei ihm ein Gefährdungspotential nicht mehr vorliege. Dieses Vorbringen ist nicht geeignet, die Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils ernstlich in Zweifel zu ziehen. Denn zum einen setzt sich die Zulassungsbegründung mit den vom Erstgericht bejahten generalpräventiven Gründen für die Ausweisung nicht auseinander. Zum anderen wird auch die Richtigkeit der Gefahrenprognose des Verwaltungsgerichts bezüglich der Wiederholung vergleichbarer Straftaten nicht ernstlich in Zweifel gezogen. Dieses hat bei seiner Prognose zutreffend auf die vom Kläger begangenen zahlreichen Straftaten, die hohe Rückfallgeschwindigkeit, das mehrfache Bewährungsversagen, die fehlende Selbstkontrolle und das selbst in der Haft fortgesetzte aggressive Verhalten abgestellt und zu Recht darauf verwiesen, dass der Kläger trotz begonnener Therapiemaßnahmen seine Gewalt- und Suchtproblematik noch nicht abschließend (erfolgreich) bearbeitet hat. Vor diesem Hintergrund kann noch nicht mit der notwendigen Sicherheit auf einen dauerhaften Einstellungswandel und eine innerlich gefestigte Verhaltensänderung des Klägers geschlossen werden, die ein Entfallen der Wiederholungsgefahr rechtfertigen würde (stRspr, vgl. zuletzt BayVGH, B.v. 8.4.2019 – 10 ZB 18.2284 – Rn. 12 m.w.N.).
Bezüglich der Abwägung des Ausweisungsinteresses mit dem Bleibeinteresse wendet der Kläger ein, das Erstgericht habe keine ergebnisoffene Abwägung vorgenommen und seine Entwurzelung ermessensfehlerhaft nicht hinreichend berücksichtigt. Insbesondere sei es zu Unrecht davon ausgegangen, dass es für ihn zumutbar sei, seine Sprachkenntnisse des Herkunftslandes erst auszubauen und zu erweitern, um im Serbien wieder Fuß fassen zu können. Daneben habe das Verwaltungsgericht im Rahmen seiner Abwägung nicht ausreichend gewürdigt, dass er als faktischer Inländer noch nie in Serbien gelebt habe und alle berücksichtigungsfähigen familiären Bindungen in Deutschland bestünden.
Auch damit vermag er die vom Erstgericht vorgenommene Bewertung, dass das Ausweisungsinteresse das Bleibeinteresse überwiege und sich die Ausweisung auch mit Blick auf Art. 6 GG und Art. 8 EMRK nicht als unverhältnismäßig erweise, nicht ernsthaft in Zweifel zu ziehen. Denn das Verwaltungsgericht hat das dem besonders schwerwiegenden Ausweisungsinteresse (§ 54 Abs. 1 Nr. 1a AufenthG) gegenüberstehende besonders schwerwiegende Bleibeinteresse nach § 55 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG gesehen und bei der nach § 53 Abs. 1 und 2 AufenthG durchzuführenden Gesamtabwägung unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls ohne Rechtsfehler ein Überwiegen des Interesses an der Ausweisung des Klägers festgestellt. Es hat dabei seinen Status als „faktischer Inländer“ zutreffend gewürdigt, gleichzeitig jedoch rechtsfehlerfrei angenommen, dass dem Kläger ein Leben im Staat seiner Staatsangehörigkeit zumutbar sei, weil er Grundkenntnisse der serbischen Sprache habe und diese weiter ausbauen könne, er sich in Deutschland wirtschaftlich und beruflich nicht integriert habe, als erwachsener Mann nicht mehr auf die Unterstützung seiner Eltern bzw. seiner Familie angewiesen sei und sich mit der gebotenen Anstrengung auch in seinem Herkunftsland eine neue Existenz aufbauen können werde.
Schließlich greift auch die Rüge, das Verwaltungsgericht habe die Sperrfrist nach § 11 Abs. 3 AufenthG fehlerhaft beurteilt, ohne ausreichende Begründung eine Überschreitung der Regelfrist von fünf Jahren gebilligt und dabei die persönlichen, insbesondere familiären, Bindungen im Bundesgebiet nicht ausreichend berücksichtigt, nicht durch. Die in § 11 Abs. 3 Satz 2 AufenthG genannte Frist von fünf Jahren durfte überschritten werden, weil der Kläger – wie das Verwaltungsgericht zutreffend festgestellt hat – zum einen aufgrund einer strafrechtlichen Verurteilung ausgewiesen worden ist und zum anderen von ihm eine schwerwiegende Gefahr für die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgeht. Das Verwaltungsgericht dürfte dabei auf das hohe Gefahrenpotential des Klägers und die Bedeutung der bedrohten Rechtsgüter, insbesondere der körperlichen Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG), abstellen.
2. Auch die Divergenzrüge (§ 124 Abs. 2 Nr. 4 VwGO) hat keinen Erfolg.
Eine Divergenz in diesem Sinn ist gegeben, wenn das Verwaltungsgericht in Anwendung derselben Vorschrift (vgl. BVerwG, B.v. 28.1.2004 – 6 PB 15/03 – NVwZ 2004, 889/890) mit einem seine Entscheidung tragenden abstrakten Rechtssatz oder einem verallgemeinerungsfähigen Tatsachensatz von einem in der Rechtsprechung der genannten übergeordneten Gerichte aufgestellten tragenden Rechts- oder Tatsachensatz oder einer inhaltsgleichen Rechtsvorschrift ausdrücklich oder konkludent abweicht und die Entscheidung darauf beruht (vgl. Rudisile in Schoch/Schneider/Bier, VwGO, Stand September 2018, § 124 Rn. 42; Happ in Eyermann, VwGO, 15. Aufl. 2019, § 124a Rn. 73 m.w.N.).
Soweit zur Begründung des Zulassungsantrags geltend gemacht wird, das angefochtene Urteil verstoße gegen die Grundsätze des Bundesverfassungsgerichts in dessen Entscheidung vom 21. März 1985 (2 BvR 1642/83), fehlt es an der Darlegung (§ 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO), mit welchem entscheidungstragenden abstrakten Rechtssatz oder verallgemeinerungsfähigen Tatsachensatz das Erstgericht von einem durch das Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung (zu den verfassungsrechtlichen Voraussetzungen des Sofortvollzuges eine Ausweisungsverfügung) aufgestellten Rechts- oder Tatsachensatz abgewichen sein soll. Die Rüge eines Verstoßes gegen „Bundesverwaltungsgericht, 2007, 2005“ bezüglich der Bedeutung des Art. 8 EMRK für die Rechtmäßigkeit der Ausweisungsentscheidung ist schon nicht nachvollziehbar.
Auch der vermeintliche Widerspruch der erstinstanzlichen Entscheidung gegen den Beschluss des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 13. März 2006 (24 ZB 05.3191 – NVwZ-RR 2006, 507) ist nicht schlüssig dargelegt, da es nach dieser Entscheidung auch unter Berücksichtigung des Art. 8 EMRK nicht unzumutbar ist, wenn von einem Ausländer erwartet wird, dass er seine – wenn auch nur geringen – Sprachkenntnisse seines Heimatlandes ausbaut und erweitert, um in seinem Heimatland wieder Fuß fassen zu können (Ls. 2 des Beschlusses).
3. Der Zulassungsgrund der Verletzung rechtlichen Gehörs (§ 124 Abs. 2 Nr. 5 VwGO) wird ebenfalls nicht hinreichend im Sinne des § 124a Abs. 4 Satz 4 VwGO dargelegt.
Der Kläger macht insoweit geltend, das angefochtene Urteil setze sich nicht damit auseinander, welche Frist nach § 11 Abs. 3 AufenthG beim Kläger zur Gefahrenabwehr ausreichend sei und weshalb nach sieben Jahren ohne Nachweis der Drogenfreiheit die Gefahr entfallen sein sollte. Die Rüge der Verletzung rechtlichen Gehörs ist aber von vornherein nicht geeignet, eine vermeintlich unzutreffende Bewertung des Sachverhalts sowie seine rechtliche Würdigung zu beanstanden (stRspr, BayVGH, B.v. 29.1.2018 – 10 ZB 17.31788 – juris Rn. 2 m.w.N.).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO, die Streitwertfestsetzung auf § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3 sowie § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).


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