Aktenzeichen S 7 VG 16/15
StGB § 32, § 240
Leitsatz
Ein tätlicher Angriff im Sinne des OEG liegt vor bei einer in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielenden körperlichen Gewalteinwirkung. (Rn. 36) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
Gründe
Die Kammer konnte trotz des Nichterscheinens des Klägers eine mündliche Verhandlung durchführen und aufgrund dieser ein Urteil verkünden (sog. einseitige mündliche Verhandlung, vgl. Keller, in: Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, § 126 Rn. 4); der Kläger ist in der ordnungsgemäß zugestellten Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden.
Die zulässige Klage hat keinen Erfolg.
Der Kläger keinen Anspruch auf Feststellung, dass die von ihm im Antrag an den Beklagten aufgeführten Ereignisse Tatbestände nach dem OEG seien und die bei ihm bestehende seelische Störung eine Schädigungsfolge sei. Er hat dementsprechend auch keinen Anspruch auf entsprechende Entschädigungsleistungen.
Rechtsgrundlage des geltend gemachten Anspruchs ist § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG. Danach erhält, wer im Geltungsbereich des OEG in Folge eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs gegen seine oder eine andere Person oder durch dessen rechtmäßige Abwehr eine gesundheitliche Schädigung erlitten hat, wegen der gesundheitlichen und wirtschaftlichen Folgen auf Antrag Versorgung in entsprechender Anwendung der Vorschriften des Bundesversorgungsgesetzes (BVG).
In Altfällen – also bei Schädigungen zwischen dem Inkrafttreten des GG (23.5.1949) und dem Inkrafttreten des OEG (16.5.1976) – müssen daneben noch die besonderen Voraussetzungen gemäß § 10 S. 2 OEG iVm § 10a Abs. 1 S. 1 OEG erfüllt sein. Nach dieser Härteregelung erhalten Personen, die in der Zeit vom 23.5.1949 bis 15.5.1976 geschädigt worden sind, auf Antrag Versorgung, solange sie (1.) allein infolge dieser Schädigung schwerbeschädigt und (2.) bedürftig sind und (3.) im Geltungsbereich des OEG ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt haben.
Grundsätzlich ist der Rechtsbegriff des tätlichen Angriffs im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG unter Bezugnahme auf seine im Strafrecht gewonnene Bedeutung in den §§ 113, 121 Strafgesetzbuch – StGB – auszulegen. Danach liegt ein tätlicher Angriff bei einer in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielenden gewaltsamen Einwirkung vor (BSG SozR 4-3800 § 1 Nr. 17). Abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff im Sinne des § 240 StGB (Nötigung) zeichnet sich der tätliche Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG grundsätzlich durch eine körperliche Gewaltanwendung gegen eine Person aus, wirkt also körperlich (physisch) auf einen anderen ein. Dies entspricht in etwa dem strafrechtlichen Begriffsverständnis der Gewalt im Sinne des § 113 Abs. 1 StGB (BSG SozR 4-3800 § 1 Nr. 18). Je gewalttätiger die Angriffshandlung gegen eine Person nach ihrem äußeren Erscheinungsbild bzw. je größer der Einsatz körperlicher Gewalt oder physischer Mittel ist, desto geringere Anforderungen sind zur Bejahung eines tätlichen Angriffs in objektiver Hinsicht zu stellen. Je geringer sich die Kraftanwendung durch den Täter bei der Begehung des Angriffs darstellt, desto genauer muss geprüft werden, inwiefern durch die Handlung eine Gefahr für Leib oder Leben des Opfers bestand. Die Grenze zwischen einem sozial adäquaten Verhalten und einem tätlichen Angriff ist jedenfalls dann überschritten, wenn die Abwehr eines solchen Angriffs unter dem Gesichtspunkt der Notwehr gemäß § 32 StGB gerechtfertigt wäre. Die Angriffshandlung muss für sich genommen nicht gravierend sein, um – unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls – eine hinreichende Gefährdung von Leib oder Leben des Opfers und damit einen tätlichen Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG anzunehmen. Der tätliche Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG setzt über den natürlichen Vorsatz des Täters bezogen auf die Angriffshandlung hinaus eine „feindselige Willensrichtung“ voraus. Dieses – einem Angriff im Wortsinn immanente – Merkmal dient dem Opferentschädigungsrecht vor allem zur Abgrenzung sozialadäquaten bzw. gesellschaftlich noch tolerierten Verhaltens von einem auf Rechtsbruch gerichteten Handeln des Täters (BSG SozR 3800 § 1 Nr. 6). Lässt sich eine feindselige Willensrichtung im engeren Sinne nicht feststellen, kann alternativ darauf abgestellt werden, ob der Täter eine mit Gewaltanwendung verbundene strafbare Vorsatztat (zumindest einen strafbaren Versuch) begangen hat (st. Rspr. seit 1985 vgl. BSG SozR 3-3800 § 1 Nrn. 6 und 7). Anstelle einer feindseligen Absicht ist dann die Rechtsfeindlichkeit des Täters entscheidend, dokumentiert durch einen willentlichen Bruch der Rechtsordnung. Die einem Angriff innewohnende Feindseligkeit manifestiert sich insoweit durch die vorsätzliche Verwirklichung der Straftat (BSG SozR 4-3800 § 1 Nr. 18).
Hinsichtlich der entscheidungserheblichen Tatsachen kennt das soziale Entschädigungsrecht, also auch das OEG, drei Beweismaßstäbe. Grundsätzlich bedürfen die drei Glieder der Kausalkette (schädigender Vorgang hier: tätlicher Angriff, Schädigung und Schädigungsfolgen) des Vollbeweises. Für die Kausalität selbst genügt gemäß § 1 Abs. 3 BVG die Wahrscheinlichkeit. Nach Maßgabe des § 15 Satz 1 KOVVfG, der gemäß § 6 Abs. 3 OEG anzuwenden ist, sind hinsichtlich des schädigenden Vorgangs bei der Entscheidung die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, zugrunde zu legen, wenn sie nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen (BSG, Urteil vom 17.04.2013 – SozR 4-3800 § 1 Nr. 20).
Für den Vollbeweis muss sich das Gericht die volle Überzeugung vom Vorhandensein oder Nichtvorhandensein einer Tatsache verschaffen. Allerdings verlangt auch der Vollbeweis keine absolute Gewissheit, sondern lässt eine an Gewissheit grenzende Wahrscheinlichkeit ausreichen. Denn ein darüber hinausgehender Grad an Gewissheit ist so gut wie nie zu erlangen (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl. 2014, § 128 RdNr. 3b mwN). Daraus folgt, dass auch dem Vollbeweis gewisse Zweifel innewohnen können, verbleibende Restzweifel mit anderen Worten bei der Überzeugungsbildung unschädlich sind, solange sie sich nicht zu gewichtigen Zweifeln verdichten (BSG, Urteil vom 24.11.2010 – B 11 AL 35/09 R – Juris RdNr. 21). Eine Tatsache ist bewiesen, wenn sie in so hohem Grade wahrscheinlich ist, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen (vgl Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 128 RdNr. 3b mwN; BSG, Urteil vom 17.04.2013 – SozR 4-3800 § 1 Nr. 20).
Der Beweisgrad der Wahrscheinlichkeit im Sinne des § 1 Abs. 3 S. 1 BVG ist dann gegeben, wenn nach der geltenden wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen ursächlichen Zusammenhang spricht (vgl. BSG, Beschluss vom 08.08.2001 – B 9 V 23/01 B – SozR 3-3900 § 15 Nr. 4 S. 14 m.w.N.). Diese Definition ist der Fragestellung nach dem wesentlichen ursächlichen Zusammenhang angepasst, die nur entweder mit ja oder mit nein beantwortet werden kann. Es muss sich unter Würdigung des Beweisergebnisses ein solcher Grad von Wahrscheinlichkeit ergeben, dass ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Möglichkeit ausscheiden. Für die Wahrscheinlichkeit ist ein „deutliches“ Übergewicht für eine der Möglichkeiten erforderlich. Sie entfällt, wenn eine andere Möglichkeit ebenfalls ernstlich in Betracht kommt (BSG, Urteil vom 17.04.2013 – SozR 4-3800 Nr. 20).
Bei dem „Glaubhafterscheinen“ im Sinne des § 15 Satz 1 KOVVfG handelt es sich um den dritten, mildesten Beweismaßstab des Sozialrechts. Glaubhaftmachung bedeutet das Dartun einer überwiegenden Wahrscheinlichkeit (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 128 RdNr. 3d m.w.N.), d.h. der guten Möglichkeit, dass sich der Vorgang so zugetragen hat, wobei durchaus gewisse Zweifel bestehen bleiben können (vgl. BSG, Beschluss vom 08.08.2001 – B 9 V 23/01 B – SozR 3-3900 § 15 Nr. 4 S. 14 f m.w.N.). Dieser Beweismaßstab ist durch seine Relativität gekennzeichnet. Es muss nicht, wie bei der Wahrscheinlichkeit des ursächlichen Zusammenhanges, absolut mehr für als gegen die glaubhaft zu machende Tatsache sprechen. Es reicht die gute Möglichkeit aus, d.h. es genügt, wenn bei mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Möglichkeiten das Vorliegen einer davon relativ am wahrscheinlichsten ist (vgl. Keller in Meyer-Ladewig/Keller/Leitherer, SGG, 11. Aufl 2014, § 128 RdNr. 3d m.w.N.), weil nach Gesamtwürdigung aller Umstände besonders viel für diese Möglichkeit spricht. Von mehreren ernstlich in Betracht zu ziehenden Sachverhaltsvarianten muss einer den übrigen gegenüber ein gewisses (kein deutliches) Übergewicht zukommen. Wie bei den beiden anderen Beweismaßstäben reicht die bloße Möglichkeit einer Tatsache nicht aus, um die Beweisanforderungen zu erfüllen. Das Gericht ist allerdings im Einzelfall grundsätzlich darin frei, ob es die Beweisanforderungen als erfüllt ansieht (Freiheit der richterlichen Beweiswürdigung, § 128 Abs. 1 Satz 1 SGG; vgl. BSG, Beschluss vom 08.08.2001 – B 9 V 23/01 B – SozR 3-3900 § 15 Nr. 4 S. 15; BSG, Urteil vom 17.04.2013 SozR 4-3800 § 1 Nr. 20).
Nach § 15 Satz 1 KOVVfG sind die Angaben des Antragstellers, die sich auf die mit der Schädigung im Zusammenhang stehenden Tatsachen beziehen, der Entscheidung zugrunde zu legen, wenn Unterlagen nicht vorhanden oder nicht zu beschaffen oder ohne Verschulden des Antragstellers oder seiner Hinterbliebenen verlorengegangen sind, soweit die Angaben nach den Umständen des Falles glaubhaft erscheinen. Die Beweiserleichterung des § 15 Satz 1 KOVVfG ist auch dann anwendbar, wenn für den schädigenden Vorgang keine Zeugen vorhanden sind (vgl. grundlegend BSG, Urteil vom 31.05.1989 – 9 RVg 3/89 – BSGE 65, 123, 125 = SozR 1500 § 128 Nr. 39 S. 46). Nach dem Sinn und Zweck des § 15 Satz 1 KOVVfG sind damit nur Tatzeugen gemeint, die zu den zu beweisenden Tatsachen aus eigener Wahrnehmung Angaben machen können. Personen, die von ihrem gesetzlichen Zeugnisverweigerungsrecht (vgl. §§ 383 ff ZPO) Gebrauch gemacht haben, sind dabei nicht als Zeugen anzusehen. Entsprechendes gilt für eine als Täter in Betracht kommende Person, die eine schädigende Handlung bestreitet. Denn die Beweisnot des Opfers, auf die sich § 15 Satz 1 KOVVfG bezieht, ist in diesem Fall nicht geringer, als wenn der Täter unerkannt geblieben oder flüchtig ist. Die Beweiserleichterung des § 15 Satz 1 KOVVfG gelangt damit auch zur Anwendung, wenn sich die Aussagen des Opfers und des vermeintlichen Täters gegenüberstehen und Tatzeugen nicht vorhanden sind (vgl. bereits BSG, Beschluss vom 28.07.1999 – B 9 VG 6/99 B – Juris RdNr. 6; BSG, Urteil vom 17.04.2013 – SozR 4-3800 § 1 Nr. 20).
Vorliegend kommen als „tätlicher Angriff“ i.S.d. § 1 Abs. 1 S. 1 OEG nur die Tatkomplexe „Misshandlungen durch den Stiefvater“ sowie “„Misshandlungen im Kinderhort“ in Betracht. Bei den sonstigen geschilderten Vorfällen (z.B. übergriffiges Verhalten der Patin) handelt es sich zwar um zweifelhaften Umgang gegenüber Kindern, aber nicht um rechtswidrige tätliche Angriffe.
Denn der tätliche Angriff i.S.d. § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG zeichnet sich dadurch aus, dass die Einwirkung „unmittelbar“ auf den Körper der anderen Person zielen muss. Dieses Tatbestandsmerkmal begrenzt die Entschädigungspflicht des Staates auf konkrete Gefährdungen des Opfers durch zielgerichtete Angriffshandlungen (vgl. BSG, Urteil vom 7. April 2011, Az.: B 9 VG 2/10 R, SozR 4-3800 § 1 Nr. 18). Ein sich – wie vorliegend – über Jahre erstreckendes Geschehen, das aus einer Vielzahl einzelner, für sich abgeschlossener Sachverhalte besteht, kann nicht i.S.d. § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG als ein einheitlicher schädigender Vorgang gewertet werden, auch wenn nicht auszuschließen ist, dass hierdurch beim Kläger psychische Schädigungen verursacht wurden. Denn ein solcher umfasst nur den konkreten tätlichen Angriff und das diesem unmittelbar folgende gewaltgeprägte Geschehen.
Grundsätzlich ist der Rechtsbegriff des tätlichen Angriffs im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG unter Bezugnahme auf seine im Strafrecht gewonnene Bedeutung in den §§ 113, 121 Strafgesetzbuch (StGB) auszulegen. Danach liegt ein tätlicher Angriff bei einer in feindseliger Willensrichtung unmittelbar auf den Körper eines anderen zielenden gewaltsamen Einwirkung vor (BSG, Urteil vom 29. April 2010 – B 9 VG 1/09 R – SozR 4-3800 § 1 Nr. 17). Abweichend von dem im Strafrecht umstrittenen Gewaltbegriff im Sinne des § 240 StGB (Nötigung) zeichnet sich der tätliche Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG grundsätzlich durch eine körperliche Gewaltanwendung gegen eine Person aus, wirkt also körperlich (physisch) auf einen anderen ein. Dies entspricht in etwa dem strafrechtlichen Begriffsverständnis der Gewalt im Sinne des § 113 Abs. 1 StGB (BSG, Urteil vom 7. April 2011 – B 9 VG 2/10 R – SozR 4-3800 § 1 Nr. 18). Je gewalttätiger die Angriffshandlung gegen eine Person nach ihrem äußeren Erscheinungsbild bzw. je größer der Einsatz körperlicher Gewalt oder physischer Mittel ist, desto geringere Anforderungen sind zur Bejahung eines tätlichen Angriffs in objektiver Hinsicht zu stellen. Je geringer sich die Kraftanwendung durch den Täter bei der Begehung des Angriffs darstellt, desto genauer muss geprüft werden, inwiefern durch die Handlung eine Gefahr für Leib oder Leben des Opfers bestand. Die Grenze zwischen einem sozial adäquaten Verhalten und einem tätlichen Angriff ist jedenfalls dann überschritten, wenn die Abwehr eines solchen Angriffs unter dem Gesichtspunkt der Notwehr gemäß § 32 StGB gerechtfertigt wäre. Die Angriffshandlung muss für sich genommen nicht gravierend sein, um – unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls – eine hinreichende Gefährdung von Leib oder Leben des Opfers und damit einen tätlichen Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG anzunehmen. Der tätliche Angriff im Sinne des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG setzt über den natürlichen Vorsatz des Täters bezogen auf die Angriffshandlung hinaus eine „feindselige Willensrichtung“ voraus. Dieses – einem Angriff im Wortsinn immanente – Merkmal dient dem Opferentschädigungsrecht vor allem zur Abgrenzung sozialadäquaten bzw. gesellschaftlich noch tolerierten Verhaltens von einem auf Rechtsbruch gerichteten Handeln des Täters (BSG, Urteil vom 23. Oktober 1985 – 9a RVg 5/84 – SozR 3800 § 1 Nr. 6). Lässt sich eine feindselige Willensrichtung im engeren Sinne nicht feststellen, kann alternativ darauf abgestellt werden, ob der Täter eine mit Gewaltanwendung verbundene strafbare Vorsatztat (zumindest einen strafbaren Versuch) begangen hat (st. Rspr. seit 1985, vgl. BSG, Urteil vom 18. Oktober 1995 – 9 RVg 7/93 – SozR 3-3800 § 1 Nr. 7). Anstelle einer feindseligen Absicht ist dann die Rechtsfeindlichkeit des Täters entscheidend, dokumentiert durch einen willentlichen Bruch der Rechtsordnung. Die einem Angriff innewohnende Feindseligkeit manifestiert sich insoweit durch die vorsätzliche Verwirklichung der Straftat (BSG, Urteil vom 7. April 2011 – B 9 VG 2/10 R – SozR 4-3800 § 1 Nr. 18).
a) Stiefvater
Soweit Kinder Opfer körperlicher Gewalt ihrer Eltern werden, die die Erheblichkeitsschwelle überschreitet, liegt regelmäßig eine Körperverletzung i. S. des § 223 StGB und damit auch ein tätlicher Angriff nach § 1 Abs. 1 S. 1 OEG vor. Nach dem neuen § 1631 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) haben Kinder ein Recht auf gewaltfreie Erziehung. Körperliche Bestrafungen, seelische Verletzungen und andere entwürdigende Maßnahmen sind unzulässig. Daraus folgt jedoch nicht, dass jede Vernachlässigung von Kindern und jede missbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge, die das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes gefährdet, als Gewalttat angesehen werden kann (Rademacker in Knickrehm, Gesamtes Soziales Entschädigungsrecht 2012, § 1 OEG RdNr. 51). Auch insofern ist zu beachten, dass die erweiternde Auslegung des Begriffs des tätlichen Angriffs auf die Fälle sexuellen Missbrauchs von minderjährigen Kindern beschränkt ist. Anders als bei rein seelischen Misshandlungen liegen bei sexuellem Missbrauch Tätlichkeiten vor, die gegen den Körper des Kindes gerichtet sind (BSG, Urteil vom 17. April 2013 – B 9 V 1/12 R – SozR 4-3800 § 1 Nr. 20).
Das Schlagen eines Kindes durch seine Eltern kann jedoch aus einem anderen Gesichtspunkt – zumindest bis zum November 2000 – nicht die Voraussetzungen des § 1 Abs. 1 Satz 1 OEG erfüllen. Ohne Zweifel stellt die körperliche Züchtigung eines Kindes eine gewaltsame, auf den Körper eines anderen zielende Einwirkung dar. Diese gewaltsame Einwirkung müsste dabei aber auch in feindseliger Willensrichtung geschehen und rechtswidrig gewesen sein. Sowohl für die Frage der feindseligen Willensrichtung als auch der Rechtswidrigkeit kommt vorliegend zum Tragen, dass körperliche Züchtigungen bis zur Abschaffung des sog. elterlichen Züchtigungsrechts im Rahmen der Neufassung des § 1631 Abs. 2 Satz 1 BGB (Abschaffung durch das Gesetz zur Ächtung der Gewalt in der Erziehung und zur Änderung des Kindesunterhaltsrechts vom 2. November 2000, BGBl. I, S. 1477) nicht per se rechtswidrig gewesen sind. Zum Zeitpunkt der vorliegend angeschuldigten Taten verblieb Eltern bei der Erziehung von Kindern nach der damaligen Rechtslage (und Gesellschaftsauffassung) eine Befugnis zur maßvollen körperlichen Züchtigung. Sogar die Verwendung von Schlaggegenständen erfüllte nach den damaligen Maßstäben nicht zwingend das Merkmal einer verbotenen und damit ggfs. als Körperverletzung strafbaren Erziehungsmaßnahme. Zu Erziehungszwecken erlaubte Schläge von strafbaren Körperverletzungen abzugrenzen, erforderte vielmehr eine Würdigung der objektiven und subjektiven Umstände des Einzelfalls, die Anlass, Ausmaß und Zweck der Bestrafung berücksichtigte. So urteilte der BGH im Jahr 1952, dass Eltern, die ihre 16jährige sittlich verdorbene Tochter durch Kurzschneiden der Haare und Festbinden an Bett und Stuhl bestraften, nicht das elterliche Züchtigungsrecht überschritten (BGH, Urteil vom 25. September 1952, 3 StR 742/51). 1957 urteilte der BGH, dass Ohrfeigen und Rohrstockschläge eines Lehrers nicht strafbar seien, wenn der Lehrer zur Züchtigung rechtlich befugt sei und sich innerhalb der Grenzen dieser Befugnis halte (BGH, Urteil vom 23. Oktober 1957, 2 StR 458/56). Und noch im Jahr 1986 sah der BGH nicht per se das elterliche Züchtigungsrecht als überschritten an, als Eltern ihr Kind mit einem 1,4 cm starken und in sich stabilen Wasserschlauch auf Gesäß und Oberschenkel geschlagen hatten, wobei jeweils rote Striemen entstanden waren. Vielmehr forderte der BGH auch in diesem Fall eine Würdigung aller objektiven und subjektiven Umstände des Tatgeschehens und erkannte ausdrücklich, dass allein die Verwendung eines Schlaggegenstandes noch nicht das Merkmal der „entwürdigenden Erziehungsmaßnahme“ erfülle (BGH, Beschluss vom 25. November 1986, 4 StR 605/86). Bis zur Abschaffung des elterlichen Züchtigungsrechts im November 2000 können elterliche Schläge deshalb nicht grundsätzlich als „rechtswidrig“ eingestuft werden. Notwendig ist vielmehr die Abgrenzung zur maßvollen körperlichen Züchtigung und eine Würdigung aller objektiven und subjektiven Umstände des Einzelfalls, die Anlass, Ausmaß und Zweck der Bestrafung berücksichtigen.
Die Kammer ist an diese, bis November 2000 bestehende Rechtslage gebunden und hat sie bei seiner Beurteilung eines bis zu diesem Zeitpunkt geschehenen Angriffs heranzuziehen. Denn maßgeblich für die vorliegende rechtliche Bewertung ist das zum Tatzeitpunkt geltende Recht (vgl. BSG, Urteil vom 7. April 2011, B 9 VG 2/10 R, SozR 4-3800 § 1 Nr. 18).
Letztlich ist auch nach der Vernehmung der Zeugen A. und E. nicht mehr aufzuklären, ob die Schläge durch den Stiefvater das oben dargestellte elterliche Züchtigungsrecht überschritten haben. Während der Zeuge E. von „einem Klaps“ gesprochen hat, hat es sich nach den Erläuterungen des Zeugen A. um „richtige Schläge“ gehandelt, der „Stiefvater sei durch den Alkohol sicherlich enthemmt gewesen“.
Für die Kammer waren die vorhandenen Beweise nicht ausreichend, um unter Zugrundelegung des Vollbeweises das Vorliegen eines rechtswidrigen tätlichen Angriffs annehmen zu können. Dafür müsste das Vorliegen eines solchen – wie bereits dargestellt – in so hohem Grade wahrscheinlich sein, dass alle Umstände des Falles nach vernünftiger Abwägung des Gesamtergebnisses des Verfahrens und nach der allgemeinen Lebenserfahrung geeignet sind, die volle richterliche Überzeugung zu begründen. Die Kammer hält es zwar für möglich, dass die vom Zeugen E. ausgeübten Schläge das Maß des elterlichen Züchtigungsrechts überschritten haben. Es verbleiben jedoch – auch weil der Zeuge E. dies im Termin zur Beweisaufnahme bestritten und dabei durchaus auch einen glaubwürdigen Eindruck gemacht hat – diesbezüglich erhebliche Restzweifel.
b) Kinderhort
Auch hinsichtlich der vom Kläger geschilderten Vorfälle im städtischen Kinderhort kann der Nachweis eines rechtswidrigen tätlichen Angriffs nicht geführt werden.
Näher geschildert wird vom Kläger allein der Vorfall, bei dem ihm von anderen Kindern Hundekot in den Mund gestopft worden sein soll.
Zwar ist nicht ausgeschlossen, dass auch Kinder Täter eines vorsätzlichen, rechtswidrigen tätlichen Angriffs sein können. Das OEG kennt insoweit keine starre Altersgrenze. Es billigt Versorgung auch demjenigen zu, der durch den Angriff eines noch nicht 14-jährigen und damit nach strafrechtlichen Maßstäben schuldunfähigen Kindes geschädigt wird, und versagt sie prinzipiell ebenso wenig dem Opfer eines noch nicht 7-jährigen „Täters“, der zivilrechtlich für einen Schaden, den er einem anderen zufügt, nicht verantwortlich ist (vgl BT-Drucks 7/2506 S. 14; BSG SozR 3-3800 § 1 Nr. 14 S. 58 mwN) . Das OEG begrenzt die staatliche Entschädigungspflicht wegen der Folgen kindlicher Gewalttaten insoweit altersunabhängig allein mit dem Merkmal „vorsätzlich“. Grundsätzlich sind Kinder in dem Alter, in dem sich der Kläger damals befunden hatte, in der Lage, bei einfachen Handlungsabläufen die unmittelbaren Folgen ungefähr vorherzusehen.
Eine „Rangelei“ oder eine „Schubserei“ wird jedoch als unter Kindern im Vorschulalter übliche Verhaltensweise qualifiziert und die staatliche Entschädigungspflicht für daraus entstandene Verletzungsfolgen – mangels Rechtswidrigkeit – unter Hinweis auf Rechtsprechung des Senats verneint (vgl BSG SozR 3-3800 § 1 Nr. 14; SozR 3800 § 1 Nr. 6)
Letztlich ließ sich auch dieser Vorfall jedoch auch nicht mehr aufklären. Der Bruder des Klägers konnte hierzu in der Beweisaufnahme keine näheren Angaben mehr machen. Er konnte sich auch nicht mehr daran erinnern, ob die Initiative zu den Prügeleien ausschließlich von den anderen Kindern ausgegangen war.
Hinsichtlich der Vorfälle mit der „Nazi-Lehrerin“ bleibt der Kläger stets pauschal und kann keine Einzelheiten schildern. Sein Bruder, der mit ihm den Kinderhort besuchte, erinnert sich nur noch daran, dass es eine „strenge Lehrerin“ gegeben habe, ohne die Schilderungen des Klägers bestätigen zu können. Augenscheinlich ist dem Zeugen A. weder während seines Aufenthaltes im Kinderhort das vom Kläger geschilderte Verhalten der Erzieherin aufgefallen noch hat der Kläger ihm zu dieser Zeit etwas erzählt noch hat der Zeuge sich daraus ergebende Verhaltensänderungen bei seinem Bruder festgestellt.
Weitere Zeugen sind – wegen des langen Zeitablaufs – nicht mehr vorhanden, Unterlagen aus dieser Zeit existieren nicht mehr.
Auch hier ist ein entsprechender Geschehensablauf zwar aus Sicht der Kammer zwar möglich, der Vollbeweis kann jedoch auch diesbezüglich nicht geführt werden.
Letztlich sieht es die Kammer daher als wahrscheinlich an, dass sich die Störungen des Klägers aus der Gesamtsituation in der Familie (Lieblosigkeit der Mutter etc.) sowie aus endogenen Faktoren hinaus entwickelt haben, ohne dass es zu den geschilderten Übergriffen gekommen ist.
Zu weiteren – über die Auswertung der vorliegenden ärztlichen Unterlagen hinausgehenden – medizinischen Ermittlungen besteht für die Kammer kein Anlass. Ein Rückschluss von einer psychiatrischen Erkrankung auf die zugrundeliegende Tat ist nicht möglich, sondern zirkelschlüssig (vgl. (Bay. LSG, U.v. 30.4.2015 – L 15 VG 24/09 – juris, m.w.N.). Auch geben die psychischen Probleme des Klägers nicht einmal einen (brauchbaren) Hinweis auf die Möglichkeit der Faktizität des geltend gemachten Geschehens, auch wenn dies vom Kläger so beurteilt wird.
Im Ergebnis war die Klage daher mit der Kostenfolge des § 193 SGG abzuweisen.