Verwaltungsrecht

Keine Wiedereinsetzung in die Beihilfeausschlussfrist bei beginnender leichter Demenz

Aktenzeichen  M 17 K 16.4499

Datum:
8.11.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
BBhV BBhV § 54
VwVfG VwVfG § 32 Abs. 1

 

Leitsatz

Da es sich bei der in § 54 Abs. 1 S. 1 BBhV geregelten Jahresfrist um eine verhältnismäßig lange Ausschlussfrist handelt, ist im Rahmen der Wiedereinsetzung ein strenger Maßstab anzulegen. (redaktioneller Leitsatz)
Bei einer ernsthaften Krankheit ist grundsätzlich von fehlendem Verschulden im Sinne des § 32 Abs. 1 VwVfG auszugehen, wenn der Betroffene infolge der Krankheit die Frist nicht selbst wahren oder einen Bevollmächtigten beauftragen konnte. (redaktioneller Leitsatz)
Fehlendes Verschulden kann bei beginnender leichter Demenz nicht angenommen werden, wenn nicht erkennbar ist, dass der Betroffene nicht mehr in der Lage war, ein Antragsformular (rechtzeitig) auszufüllen oder einen Dritten damit zu beauftragen. (redaktioneller Leitsatz)
Eine schuldhafte Fristversäumnis ist nicht erst dann gegeben, wenn der Antragsteller insgesamt, das heißt über den gesamten Einjahreszeitraum hinweg ohne Einschränkung zur Antragstellung in der Lage gewesen wäre. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die Klage wird abgewiesen.
II.
Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Über die Klage konnte ohne mündliche Verhandlung entschieden werden, da die Beteiligten mit Schreiben vom 20. Oktober 2016 bzw. 26. Oktober 2016 einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren zugestimmt haben (§ 101 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO).
Die Klage ist dahingehend auszulegen (§ 88 VwGO), dass die Verpflichtung der Beklagten zur Gewährung von Beihilfe für die zwei Rechnungen vom … März 2015 sowie die Rechnungen vom … April 2015, … April 2015 und … April 2015 begehrt wird und die Bescheide vom 21. April 2016, 8. Juni 2016 und 30. August 2016 insoweit aufgehoben werden sollen.
Die Klage ist zulässig, aber unbegründet, da der Kläger keinen Anspruch auf die Gewährung weiterer Beihilfe hat (§ 113 Abs. 5 VwGO); die Bescheide vom 21. April 2016, 8. Juni 2016 und 30. August 2016 sind rechtmäßig und verletzen den Kläger daher nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
1. Da beihlferechtliche Streitigkeiten grundsätzlich nach der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt des Entstehens der Aufwendungen, für die Beihilfe beantragt wird, zu beurteilen sind (vgl. z. B. BVerwG, U. v. 8.11.2012 – 5 C 4.12 – juris Rn. 12), richtet sich die Beihilfefähigkeit hier nach der Verordnung über Beihilfe in Krankheits-, Pflege- und Geburtsfällen (Bundesbeihilfeverordnung – BBhV) in der Fassung der Änderungsverordnung vom 18. Juli 2014 (BGBl I, S. 1154), weil die streitgegenständlichen Rechnungen aus dem Zeitraum vom 20. März 2015 bis 9. April 2015 datieren.
2. Etwaige Ansprüche des Klägers auf Gewährung von Beihilfeleistungen für die streitgegenständlichen Rechnungen sind wegen der Versäumnis der Antragsfrist erloschen.
2.1 Gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1 BBhV in der oben genannten Fassung wird Beihilfe nur gewährt, wenn sie innerhalb eines Jahres nach Rechnungsdatum beantragt wird.
2.2 Im vorliegenden Fall ging der Beihilfeantrag für die Rechnungen vom … März 2015, … April 2015, … April 2015 und … April 2015 unstrittig erst am … April 2016 bei der Beihilfestelle ein. Die Jahresfrist endete aber gemäß § 31 Abs. 1 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) i. V. m. §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 Bürgerliches Gesetzbuch (BGB) selbst für die jüngste Rechnung vom … April 2015 mit Ablauf des … April 2016 (Montag). Demnach ist der Anspruch auf Gewährung von Beihilfeleistungen für die streitgegenständlichen Aufwendungen wegen der Versäumnis der Jahresfrist grundsätzlich gemäß § 54 Abs. 1 Satz 1 BBhV erloschen.
2.3 Hinsichtlich der Rechtmäßigkeit einer solchen materiellen Ausschlussfrist bestehen keine Bedenken (BVerwG, U. v. 28.6.1965 – VIII C 334.63 – BVerwGE 21, 258). Die Ausschlussfrist dient aus haushaltstechnischen Gründen dazu, eine baldige Klärung etwa noch bestehender Beihilfeansprüche herbeizuführen und ist mit dem Rechtsstaatsprinzip vereinbar. Im Hinblick auf die Fürsorgepflicht des Dienstherrn ist sie jedenfalls dann unbedenklich, wenn die Möglichkeit besteht, im besonderen Einzelfall Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu beantragen (vgl. z. B. BayVGH, U. v. 5.4.1990 – 3 B 89.2831 – juris Rn. 14; VG München, U. v. 9.6.2016 – M 17 K 15.66 – UA S. 7 f.). Obwohl es sich bei der Jahresfrist nach § 54 Abs. 1 Satz 1 BBhV um eine materielle Ausschlussfrist handelt, gehen Rechtsprechung und Literatur übereinstimmend von der Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand aus. Dies ist auch in Nr. 54.1.1 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zur BBhV ausdrücklich vorgesehen.
2.4 Die Voraussetzungen für die Gewährung der Wiedereinsetzung in die abgelaufene Ausschlussfrist sind im vorliegenden Fall allerdings nicht erfüllt.
2.4.1 Nach § 32 Abs. 1 VwVfG ist jemandem, der ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten, auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren.
2.4.2 Der Kläger war hier aber nicht ohne Verschulden daran gehindert, die Jahresfrist einzuhalten.
Verschuldet ist eine Fristversäumnis dann, wenn der Betroffene nicht die Sorgfalt walten lässt, die für einen gewissenhaften, seine Rechte und Pflichten sachgerecht wahrnehmenden Beteiligten geboten und ihm nach den gesamten Umständen zumutbar ist (BVerwG, U. v. 8.3.1983 – 1 C 34/80 – BayVBl 1983, 476).
Zwar ist bei einer Krankheit grundsätzlich von fehlendem Verschulden auszugehen, namentlich dann, wenn der Betroffene ernsthaft erkrankt war und infolgedessen die Frist nicht selbst wahren oder einen Bevollmächtigen beauftragen konnte (Kopp/Ramsauer, VwVfG, 16. Aufl. 2015, § 32 Rn. 29 m. w. N.). Ebenso, wenn dem Betroffenen „die Dinge über den Kopf gewachsen waren“ (Kopp/Ramsauer, a. a. O.).
Bei einer Ausschlussfrist, auf die die Wiedereinsetzungsregeln ohnehin nur ausnahmsweise Anwendung finden (vgl. oben), sind diese aber restriktiv zu handhaben, so dass an eine Entschuldigung der Fristversäumnis erhöhte Anforderungen gestellt werden dürfen. Es kommt darauf an, ob dem Beteiligten nach den Umständen des Falles ein Vorwurf daraus gemacht werden kann, dass er die Frist versäumt hat (Kopp/Ramsauer, VwVfG, 16. Aufl. 2015, § 32 Rn. 21).
Der klägerische Vortrag ergibt nicht, dass dieser seine ihm zumutbare Sorgfalt hat walten lassen, um eine rechtzeitige Antragstellung sicherzustellen. Bei der Beurteilung der Zumutbarkeit von Vorkehrungen ist auch deshalb ein strenger Maßstab anzulegen, da es sich bei der Jahresfrist des § 54 Abs. 1 Satz 1 BBhV um eine ohnehin schon sehr großzügig bemessene Frist handelt (vgl. VG München, U. v. 10.12.2015 – M 17 K 15.402 – UA S. 8; U. v. 23.4.2015 – M 17 K 14.517 – UA S. 15).
Den vorgelegten neurologischen Attesten vom … August 2016 und … September 2016 ist lediglich zu entnehmen, dass der Kläger gegenwärtig an leichter Demenz vom Alzheimertyp leidet. Erste Hinweise auf den Beginn der demenziellen Entwicklung hätten sich Ende 2015 ergeben. Aus diesen Attesten lässt sich jedoch nicht ableiten, dass der Kläger aufgrund seiner Erkrankung daran gehindert war (und ist), die gesetzliche Antragsfrist einzuhalten. Ein Hindernis in diesem Sinn ist ein Ereignis, das die Fristwahrung schlechthin unmöglich macht oder die erforderlichen Maßnahmen seitens des Betroffenen unzumutbar erscheinen lässt (vgl. VG München, U. v. 15.12.2008 – M 3 K 07.3183 – juris Rn. 47 m. w. N.). Dass der Kläger krankheitsbedingt generell nicht in der Lage gewesen wäre, ein Antragsformular (rechtzeitig) auszufüllen und der Beklagten zukommen zu lassen, ist nicht erkennbar (vgl. VG München, U. v. 15.12.2008 – M 3 K 07.3183 – juris Rn. 49).
Selbst wenn die Demenz aber ein derartiges Hindernis darstellen würde, lagen laut Attesten erste Hinweise auf die Erkrankung erst Ende 2015 vor, so dass es dem Kläger zumindest in dem Zeitraum zwischen Rechnungsstellung Ende März/Anfang April 2015 und Ende 2015 möglich gewesen wäre, Beihilfeanträge zu stellen. Ein Hinderungsgrund lag damit nicht ununterbrochen für die gesamte Dauer der Frist vor (vgl. VG München, U. v. 11.4.2013 – M 17 K 12.2893 – UA S. 6; VG Ansbach, U. v. 3.8.2011 – AN 15 K 11.01045 – juris Rn. 29). Eine schuldhafte Fristversäumnis ist nicht erst dann gegeben, wenn der Antragsteller insgesamt, das heißt über den gesamten Einjahreszeitraum hinweg ohne Einschränkung zur Antragstellung in der Lage gewesen wäre. Dem Kläger stand es selbstverständlich frei, die Jahresfrist bis zum Ende auszureizen. Das Risiko für während des Fristlaufs eintretende Hinderungsgründe trägt jedoch er (vgl. VG München, U. v. 11.4.2013 – M 17 K 12.2893 – UA S. 7).
Im Übrigen hätte der Kläger, als sich abzeichnete, dass die Bewältigung des Alltags für ihn schwierig wird, mit entsprechenden Maßnahmen, insbesondere mit der Beauftragung Dritter, reagieren müssen. Es ist weder belegt noch sonst ersichtlich, dass dem Kläger die ordnungsgemäße Auswahl eines Vertreters etwa aufgrund eigener Geschäftsunfähigkeit nicht möglich war (vgl. VG Köln, U. v. 18.10.2013 – 19 K 4301/12 – juris Rn. 30).
Nach alledem war die Klage mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.
Rechtsmittelbelehrung:
Nach §§ 124, 124 a Abs. 4 VwGO können die Beteiligten die Zulassung der Berufung gegen dieses Urteil innerhalb eines Monats nach Zustellung beim Bayerischen Verwaltungsgericht München,
Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder
Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München
beantragen. In dem Antrag ist das angefochtene Urteil zu bezeichnen. Dem Antrag sollen vier Abschriften beigefügt werden.
Innerhalb von zwei Monaten nach Zustellung dieses Urteils sind die Gründe darzulegen, aus denen die Berufung zuzulassen ist. Die Begründung ist bei dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof,
Hausanschrift in München: Ludwigstraße 23, 80539 München, oder
Postanschrift in München: Postfach 34 01 48, 80098 München
Hausanschrift in Ansbach: Montgelasplatz 1, 91522 Ansbach
einzureichen, soweit sie nicht bereits mit dem Antrag vorgelegt worden ist.
Über die Zulassung der Berufung entscheidet der Bayerische Verwaltungsgerichtshof.
Vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof müssen sich die Beteiligten, außer im Prozesskostenhilfeverfahren, durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Dies gilt auch für Prozesshandlungen, durch die ein Verfahren vor dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof eingeleitet wird. Als Prozessbevollmächtigte zugelassen sind neben Rechtsanwälten und den in § 67 Abs. 2 Satz 1 VwGO genannten Rechtslehrern mit Befähigung zum Richteramt die in § 67 Abs. 4 Sätze 4 und 7 VwGO sowie in §§ 3, 5 RDGEG bezeichneten Personen und Organisationen.
Beschluss:
Der Streitwert wird auf 894,79 € festgesetzt (§ 52 Abs. 3 Gerichtskostengesetz – GKG).
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen diesen Beschluss steht den Beteiligten die Beschwerde an den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof zu, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes EUR 200,– übersteigt oder die Beschwerde zugelassen wurde. Die Beschwerde ist innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, beim Bayerischen Verwaltungsgericht München,
Hausanschrift: Bayerstraße 30, 80335 München, oder
Postanschrift: Postfach 20 05 43, 80005 München
einzulegen.
Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, kann die Beschwerde auch noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden.
Der Beschwerdeschrift eines Beteiligten sollen Abschriften für die übrigen Beteiligten beigefügt werden.

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