Verwaltungsrecht

Offensichtlichkeitsurteil des Bundesamtes aufgrund eines Gutachtens der Sprach- und Textanalyse

Aktenzeichen  W 1 S 16.31069

Datum:
23.8.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 36 Abs. 3, Abs. 4
ZPO ZPO § 178 Abs. 1 Nr. 3

 

Leitsatz

Wird das Offensichtlichkeitsurteil des Bundesamtes auf ein Gutachten der Sprach- und Textanalyse gestützt, so dürfen an der Einschätzung, der Asylsuchende stamme aus Pakistan und nicht aus Afghanistan, keine Zweifel verbleiben, denen im Rahmen einer mündlichen Verhandlung nachgegangen werden muss. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die aufschiebende Wirkung der Klage des Antragstellers vom 25. Juli 2016 Az. W 1 K 16.31068 gegen den Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 11. Juli 2016, Geschäftszeichen 6374218-461, wird angeordnet.
II.
Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

I.
Der Antragsteller, nach eigenen Angaben ein am … 1997 im Dort K., Provinz Laghman, geborener afghanischer Staatsangehöriger, reiste zu einem nicht näher bekannten Zeitpunkt im Sommer 2015 (Blatt 37 der Bundesamtsakte) über verschiedene Länder in das Bundesgebiet ein. Hier beantragte er am 19. Januar 2016 Asyl.
In der persönlichen Anhörung durch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bundesamt) am 21. April 2016 gab der Antragsteller im Wesentlichen an, er habe immer nur in seinem Heimatdorf gelebt und keine Schule besucht. Im Laufe der Anhörung stellte sich heraus, dass der Antragsteller bei What’s App angemeldet ist und dort in deutscher Sprache kommuniziert. Zu seinem Verfolgungsschicksal gab der Antragsteller an, dass abends fünf Taliban in sein Elternhaus gekommen seien, von denen einer verletzt gewesen sei. Die Taliban hätten die Familie in einem Zimmer des Hauses eingesperrt, danach hätten der Antragsteller und seine Angehörigen Schüsse gehört. Sie seien erst durch die Polizei wieder aus dem Zimmer befreit worden. Diese habe die männlichen Familienmitglieder verhaftet und mitgenommen, weil von den Taliban, die den Überfall verübt hätten, einer getötet und einer schwer verletzt worden sei. Der Antragsteller und seine Angehörigen seien verdächtigt worden, mit den Taliban zusammen zu arbeiten. Nach Aussagen verschiedener Dorfbewohner zu ihren Gunsten seien sie jedoch wieder freigelassen worden. Während des Aufenthaltes der Männer in der Polizeistation hätten die Taliban erneut die im Elternhaus des Antragstellers verbliebenen Frauen aufgesucht und sie bedroht, da sie aus Sicht der Taliban Verräter seien. Dem Antragsteller sei dann von seinem Vater und seinem Großvater geraten worden, das Land zu verlassen. Acht Tage später habe er Afghanistan verlassen.
Eine am 19. Mai 2016 durchgeführte Sprach- und Textanalyse zur Klärung der Herkunft des Antragstellers (Bl. 61/75 der Bundesamtsakte) ergab, dass der Antragsteller mit überwiegender Wahrscheinlichkeit aus Pakistan kommt. Das Sprechverhalten des Antragstellers sei ambivalent gewesen und habe in den Bereichen Phonologie, Morphologie, Syntax sowie Lexik insgesamt nicht seinem Herkunftsvorbringen entsprochen. Er habe mehrere Formen verwendet, die in Laghman nicht vorkämen, aber in anderen Dialekten sowohl in Afghanistan wie auch in Pakistan üblich seien. Einige Merkmale in diesen Bereichen hätten eine Verbundenheit mit den sprachlichen Gegebenheiten in Pakistan gezeigt. Es sei insbesondere auf die Verwendung eines Wortes aus der Sprache Urdu und auf einige Merkmale im phonologischen und morphologisch-syntaktischen Bereich zu verweisen. Entgegen den Erwartungen verfüge der Antragsteller nicht über Kenntnisse des Dari auf dem Niveau einer Zweitsprache. Die nachgewiesenen landeskundlich-kulturellen Kenntnisse könnten keine ausreichende Verbundenheit des Antragstellers mit seiner vorgeblichen Herkunftsregion in Afghanistan bestätigen. Seine Kenntnisse entsprächen nicht dem, was man von einer Person mit dem vorgeblichen Bildungsgrad und Migrationshintergrund des Antragstellers erwarten könne. Schriftproben hätten nicht vorgelegen. Aufgrund der sprachlichen Analyse könne zusammenfassend festgestellt werden, dass der Antragsteller mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht in seinem vorgeblichen Herkunftsgebiet im Bezirk A. der Provinz Laghman von Afghanistan sozialisiert worden sei, sondern sehr wahrscheinlich in Pakistan. Die Analyse der landeskundlich-kulturellen Kenntnisse stütze die Einschätzung, dass seine Sozialisation nicht in der Provinz Laghman von Afghanistan erfolgt sei. Das Vorbringen des Antragstellers, aus der Provinz Laghman in Afghanistan zu stammen, könne mit großer Wahrscheinlichkeit als nicht zutreffend angesehen werden. Eine zweifelsfreie Aussage sei wegen der hohen Mobilität im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet nicht möglich.
Mit Bescheid vom 11. Juli 2016 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als offensichtlich unbegründet ab (Ziffer 1 des Bescheides), lehnte den Antrag auf subsidiären Schutz ab (Ziffer 2), stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Ziffer 3) und forderte den Antragsteller zur Ausreise innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe des Bescheides auf; für den Fall der nicht fristgerechten Ausreise wurde die Abschiebung nach Pakistan angedroht (Ziffer 4). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 30 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Ziffer 5). In den Gründen des Bescheides wurde maßgeblich darauf abgestellt, dass der Antragsteller nach der Überzeugung des Bundesamtes pakistanischer Staatsangehöriger sei. Eine flüchtlingsrelevante Verfolgung bzw. ein ernsthafter Schaden drohten ihm in Afghanistan daher nicht. Abschiebungsverbote in Bezug auf Pakistan lägen ebenfalls nicht vor. Auf die Bescheidsgründe wird im Übrigen zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen.
In der beigefügten Rechtsbehelfsbelehrung war auf die Wochenfrist für die Klage sowie auf die fehlende aufschiebende Wirkung und die Möglichkeit eines Antrags auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe des Bescheides hingewiesen worden (Blatt 94 der Bundesamtsakte). Der Bescheid wurde laut Postzustellungsurkunde am 14. Juli 2016 im Wege der Ersatzzustellung unter der Anschrift des Landratsamtes … zugestellt (Blatt 103/104 der Bundesamtsakte). Wann der Antragsteller den Bescheid tatsächlich erhalten hat, geht daraus nicht hervor.
Mit am 25. Juli 2016 eingegangenem Schriftsatz ließ der Antragsteller Klage erheben (W 1 K 16.31068), über die noch nicht entschieden ist.
Des Weiteren wurde nach § 80 Abs. 5 VwGO beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage anzuordnen.
Zur Begründung von Klage und Antrag wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Antragsteller sei afghanischer Staatsangehöriger und Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen. Hinsichtlich der Fluchtgründe werde auf seine Angaben im Rahmen des Vorverfahrens Bezug genommen. Aus der vorgelegten Kopie der Tazkira des Vaters des Antragstellers gehe hervor, dass er afghanischer Staatsangehöriger sei. Vorgelegt wurde als Anlage K 1 eine fremdsprachige Urkunde mit Lichtbild, jedoch ohne Übersetzung in die deutsche Sprache. Der Antragsteller sei bei seiner Ankunft in Deutschland noch Analphabet gewesen, weil er in Afghanistan keine Schule besucht habe. Erst im Bundesgebiet habe er Lesen und Schreiben der deutschen Sprache gelernt. Der Antragsteller habe Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, weil ihm in Afghanistan seitens nichtstaatlicher Akteure eine politische und religiöse Verfolgung drohe und keine schutzfähigen und schutzbereiten Akteure vorhanden seien. Zumutbare Schutzalternativen stünden ihm in Afghanistan nicht zur Verfügung, wie sich aus verschiedenen Erkenntnismitteln ergebe. Der Antragsteller habe keinerlei Verbindung nach Kabul und habe sich dort noch nie aufgehalten, weshalb er die örtlichen Gegebenheiten nicht kenne. Er stamme vom Land und kenne sich mit den Regeln und Gefahren einer Großstadt allgemein nicht aus. Familiäre Verbindungen nach Kabul habe er überhaupt nicht. Daher habe der Antragsteller keine Möglichkeit, bei einer Rückkehr nach Afghanistan Kontakte oder Verbindungen zu nutzen, um zumindest eine erste Anlaufstation zum Auffinden einer Unterkunft und Arbeitsstelle finden zu können. Er besitze keinerlei Ausbildung oder auch nur praktische Erfahrungen, weshalb er auch keine Möglichkeit hätte, dort ein ausreichendes Einkommen zu erzielen, um seine wirtschaftliche Existenz zu erwirtschaften.
Die Antragsgegnerin beantragt,
den Antrag abzulehnen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Gerichts- sowie der vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag, die aufschiebende Wirkung der am 25. Juli 2016 erhobenen Klage anzuordnen, ist begründet.
1.
Der Antrag ist zulässig, insbesondere wurde er fristgerecht bei Gericht gestellt. Dem Antrag fehlt auch nicht das Rechtsschutzbedürfnis, weil auch die Klage gegen den streitgegenständlichen Ablehnungsbescheid des Bundesamtes vom 11. Juli 2016 fristgerecht erhoben wurde.
Nach § 36 Abs. 3 Satz 1 AsylG ist im Falle der Ablehnung eines Asylantrags als offensichtlich unbegründet – wie im vorliegenden Falle – der Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 VwGO innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe zu stellen. In diesem Falle ist gemäß § 74 Abs. 1 Halbsatz 2 AsylG auch die Klage innerhalb der Wochenfrist zu erheben. Da in der dem streitgegenständlichen Bescheid vom 11. Juli 2016 beigefügten Rechtsbehelfsbelehrung (Blatt 94/100 der Bundesamtsakte) mit beigefügter Übersetzung in eine dem Antragsteller geläufige Sprache (Blatt 89 der Bundesamtsakte) gemäß § 36 Abs. 3 Satz 2 AsylG ordnungsgemäß auf die Wochenfrist für Klage und Antrag hingewiesen wurde, war diese Frist grundsätzlich einzuhalten. Die Zustellung wurde jedoch nicht ordnungsgemäß an den Antragsteller bewirkt, weshalb für den Beginn der Wochenfrist nicht von der in der Postzustellungsurkunde (Blatt 103/104 der Bundesamtsakte) beurkundeten Zustellung am 14. Juli 2016 auszugehen ist. Der Antragsteller erlangte vielmehr erst durch die tatsächliche Aushändigung des Bescheides an ihn zu einem späteren Zeitpunkt Kenntnis. Zwar kann eine Zustellung im Wege der Ersatzzustellung gemäß § 10 Abs. 5 AsylG i. V. m. § 178 Abs. 1 Nr. 3 ZPO an den Leiter einer Gemeinschaftsunterkunft bzw. an einen zum Empfang berechtigten Vertreter desselben bewirkt werden. Der Antragsteller wohnte jedoch im Zeitpunkt der Zustellung nicht in einer Gemeinschaftsunterkunft i. S. d. § 178 Abs. 1 Nr. 3 ZPO, sondern in einer vom Landkreis … betriebenen dezentralen Unterkunft in E. Der Bescheid wurde jedoch, wie auch aus der Adressierung desselben erkennbar ist, an das Landratsamt … (…-straße …, …) zugestellt und dem Antragsteller nach den unwidersprochen gebliebenen Angaben seines Bevollmächtigten zu einem späteren Zeitpunkt, nämlich am 19. Juli 2016, ausgehändigt. Die Postzustellungsurkunde dokumentiert damit nur die Zustellung des Bescheides an das Landratsamt, nicht jedoch die Aushändigung desselben an den Antragsteller als Inhaltsadressaten. Die Vorschriften über die Ersatzzustellung in § 3 Abs. 2 Satz 1 VwZG i. V. m. § 178 ZPO lassen es zwar im Interesse der Verfahrensökonomie zu, die Zustellung ohne Verzögerung durch Übergabe an einen empfangsberechtigten Dritten zu bewirken, wenn der eigentliche Adressat (Zustellungsadressat) nicht angetroffen werden kann (Hüßtege in Thomas/Putzo, ZPO, 35. Aufl. 2014, § 178 Rn. 1). Die Zustellung des Bescheides mit der streitgegenständlichen Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung an das Landratsamt kann auch nicht im Wege eines Analogieschlusses als wirksame Ersatzzustellung i. S. d. § 178 Abs. 1 Nr. 3 ZPO angesehen werden. Denn als Ausnahme von dem in den §§ 3 ff. VwZG zum Ausdruck kommenden Grundsatz, dass eine Zustellung rechtswirksam nur an den Zustellungsadressaten und nicht an Dritte bewirkt werden kann, ist die Vorschrift des § 178 Abs. 1 Nr. 3 ZPO keiner erweiternden Auslegung oder analogen Anwendung auf nicht vom Wortlaut erfasste Fallgestaltungen fähig. Eine Heilung des Zustellungsmangels konnte allenfalls nach § 8 VwZG durch den tatsächlichen Zugang des Bescheides beim Antragsteller erfolgen. Es kann jedoch offen bleiben, ob ein Fehler beim Zustellungsadressaten im Unterschied zu Fehlern im Zustellungsvorgang überhaupt von der Heilungsvorschrift des § 8 VwZG erfasst wird. Legt man der rechtlichen Betrachtung diese Annahme zugrunde, so hätte der Antragsteller die Wochenfrist eingehalten, anderenfalls ist diese überhaupt nicht angelaufen.
Nach dem unwidersprochen gebliebenen Vortrag des Antragstellers wurde ihm der Bescheid am 19. Juli 2016 ausgehändigt. Darauf deutet auch die vom Antragstellerbevollmächtigten vorgelegte Kopie des Briefkuverts hin, welche einen Zustellvermerk enthält, der jedoch nicht eindeutig lesbar ist. Daraus könnte sowohl die Zustellung am „14.“ als auch am „19.“ Juli 2016 entnommen werden, da die Ziffer „4“ bzw. „9“ nicht eindeutig erkennbar ist. Selbst wenn der Zustellvermerk auf dem Briefkuvert jedoch „14.07.2016“ lauten sollte, würde dies nur die in der Postzustellungsurkunde dokumentierte Zustellung an das Landratsamt … an diesem Tag bestätigen, nicht jedoch die Aushändigung an den Antragsteller. Auf dem Briefkuvert befindet sich des Weiteren rechts oben ein handschriftlicher Vermerk, der „19.07.2016“ lautet und möglicher Weise die Übergabe an den Antragsteller dokumentieren soll. Dieser Vermerk stützt den Vortrag des Antragstellerbevollmächtigten hinsichtlich der Aushändigung des Bescheides an den Antragsteller am 19. Juli 2016. Damit wären die Antragstellung und Klageerhebung am 25. Juli 2016 noch innerhalb der Wochenfrist nach §§ 36 Abs. 3 Satz 1, 74 Abs. 1 Halbsatz 2 AsylG erfolgt.
2.
Der Antrag ist auch begründet, da nach Aktenlage ernstliche Zweifel an der Richtigkeit des Offensichtlichkeitsurteils des Bundesamtes bestehen.
a)
Gegenstand des verwaltungsgerichtlichen Eilverfahrens nach § 36 Abs. 3 AsylG i. V. m. § 80 Abs. 5 VwGO ist die von der Antragsgegnerin ausgesprochene Abschiebungsandrohung, beschränkt auf die sofortige Vollziehbarkeit. Prüfungsmaßstab zur Bestätigung oder Verwerfung des Sofortvollzugs ist die Frage, ob die für die Aussetzung der Abschiebung erforderlichen ernstlichen Zweifel bezogen auf das Offensichtlichkeitsurteil des Bundesamtes vorliegen. Nach Art. 16a Abs. 4 Satz 1 GG, § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG darf die Aussetzung der Abschiebung nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsaktes bestehen. Die Vollziehung der aufenthaltsbeendenden Maßnahme darf nur dann ausgesetzt werden, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (BVerfG, U. v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – DVBl. 1996, 729, juris).
b)
Offensichtlich unbegründet ist ein Asylantrag dann, wenn der Antragsteller aus einem sicheren Herkunftsstaat stammt, es sei denn, die von dem Ausländer angegebenen Tatsachen oder Beweismittel begründen die Annahme, dass ihm abweichend von der allgemeinen Lage im Herkunftsstaat politische Verfolgung droht (§ 29a Abs. 1 AsylG). Offensichtlich unbegründet ist ein Asylantrag des Weiteren dann, wenn die Voraussetzungen für eine Anerkennung als Asylberechtigter und die Voraussetzungen des § 3 Abs. 1 AsylG offensichtlich nicht vorliegen (§ 30 Abs. 1 AsylG). Das ist insbesondere dann der Fall, wenn nach den Umständen des Einzelfalles offensichtlich ist, dass sich der Ausländer nur aus wirtschaftlichen Gründen oder um einer allgemeine Notsituation zu entgehen, im Bundesgebiet aufhält (§ 30 Abs. 2 AsylG).
c)
Gemessen an diesen Grundsätzen ist die Beurteilung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet durch das Bundesamt mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht zutreffend.
Das Bundesamt stützt das Offensichtlichkeitsurteil im vorliegenden Falle maßgeblich auf den Umstand, dass nach dem eingeholten Gutachten der Sprach- und Textanalyse vom 31. Mai 2016 (Blatt 61/75 der Bundesamtsakte) der Antragsteller mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht in seinem vorgeblichen Herkunftsgebiet im Bezirk A. der Provinz Laghman in Afghanistan sozialisiert wurde, sondern sehr wahrscheinlich in Pakistan. Das Gutachten wiederum gründet diese Einschätzung maßgeblich darauf, dass die formulierte Hypothese über das zu erwartende Sprachverhalten des Antragstellers aufgrund der Angaben zu seiner Herkunftsregion und seinem Heimatdorf in der sprachlichen Analyse nicht bestätigt worden sei und die nachgewiesenen landeskundlich-kulturellen Kenntnisse des Antragstellers keine ausreichende Verbundenheit mit seiner vorgeblichen Herkunftsregion in Afghanistan bestätigen könnten, weil seine Kenntnisse nicht dem entsprächen, was von einer Person mit dem vorgeblichen Bildungsgrad und Migrationshintergrund des Antragstellers erwartet werden könne. In Bezug auf die sprachliche Analyse fällt jedoch auf, dass von den sechs untersuchten phonologischen Merkmalen zwei (nämlich die Merkmale [2] und [4]) durchgehend bzw. fast durchgehend erwartungsgemäß artikuliert wurden und drei Merkmale (Merkmal [1], [3] und [5]) vom Antragsteller ambivalent ausgesprochen wurden. Es lagen daher bei der phonologischen Analyse sowohl Anhaltspunkte für die Richtigkeit der Herkunftsangaben als auch für deren Unrichtigkeit vor. Auch bei den morphologisch-syntaktischen Merkmalen war das Merkmal [1] ambivalent, wohingegen die drei anderen Merkmale gegen eine Herkunft aus dem afghanischen Sprachraum sprachen. Bei den lexikalischen Merkmalen wurde festgestellt, dass der Antragsteller – für einen Paschto-Sprecher aus Afghanistan untypisch – kaum Dari-stämmige Lexeme verwendet habe, jedoch einige englisch-stämmige Lexeme, die sowohl in Afghanistan wie auch in Pakistan zum allgemeinen Wortschatz gehörten. Auffällig sei insoweit auch, dass der vorgebliche Herkunftsbezirk des Antragstellers, der Bezirk A., unter den verschiedenen Bezirken der Provinz Laghman den größten Anteil an Dari-Sprechern aufweise, der Antragsteller jedoch keine Kenntnisse des Dari auf dem Niveau einer Zweitsprache gezeigt habe. Auch in der zusammenfassenden Bewertung der sprachlichen Analyse (Unterpunkt 2.7, Blatt 72 der Bundesamtsakte) wird ausgeführt, dass das Sprechverhalten des Antragstellers ambivalent gewesen sei und einige Merkmale in den genannten Bereichen eine Verbundenheit mit den sprachlichen Gegebenheiten Pakistans zeigten. Bereits diese Feststellungen des Gutachtens weisen Unsicherheiten auf, denen im Rahmen des Klageverfahrens und insbesondere der mündlichen Verhandlung nachzugehen ist. Dies führt aber dazu, dass die Einschätzung des Bundesamtes, der Antragsteller stamme aus Pakistan, nicht mit der für das Offensichtlichkeitsurteil erforderlichen Sicherheit bestätigt werden kann.
Ausgehend von der Annahme, dass der Antragsteller tatsächlich aus Afghanistan stammt, ist das vorgetragene Verfolgungsgeschehen nicht derart pauschal, unklar, unschlüssig oder widersprüchlich, dass die Ablehnung des Asylantrags als offensichtlich unbegründet allein auf dieser Grundlage – d. h. unter Zurückstellen der Zweifel an seiner Herkunft – gerechtfertigt wäre. Vielmehr hat der Antragsteller vergleichsweise detailliert ein individuelles Verfolgungsgeschehen vorgetragen, nämlich einen Überfall durch Taliban auf sein Elternhaus, bei dem er persönlich zugegen gewesen sei, der zu einer vorübergehenden Verhaftung des Antragstellers, seines Vaters sowie seines Großvaters geführt habe, und aufgrund dessen gegen den Antragsteller und andere männliche Mitglieder seiner Familie Bedrohungen ausgesprochen worden seien, die ihn zur kurzfristigen Ausreise veranlasst hätten. Ein solches Geschehen ist aufgrund der vorliegenden Erkenntnisse über das vorgebliche Herkunftsland des Antragstellers, insbesondere über die angegebene Herkunftsregion, die Provinz Laghman, nicht unwahrscheinlich. Die Provinz Laghman gehört ebenso wie die Nachbarprovinz Kabul zu den Gebieten, in denen die Taliban wieder im Vordringen befindlich sind. Die Nachbarschaft zu Pakistan erleichtert es den pakistanischen Taliban, in die genannten afghanischen Provinzen einzudringen, dort um Unterstützung zu werben und Menschen aus verschiedenen Gründen und Motiven einzuschüchtern und zu bedrohen (vgl. z. B. EASO-Bericht über die Sicherheitslage in Afghanistan, Stand Januar 2016, S. 106; Anfragebeantwortung von Accord zu Afghanistan: Provinz Laghman, Disktrikt A., Sicherheitslage, Aktivitäten der Taliban u. a., Stand 10. Juni 2016; Schweizerische Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update – Die aktuelle Sicherheitslage, Stand September 2015, S. 9 ff.). Da der Antragsteller, seinem Vortrag folgend, auch bereits persönlich in das Blickfeld der Taliban geraten ist, erscheint es nicht ausgeschlossen, zu seinen Gunsten die Verfolgungsvermutung nach Art. 4 Abs. 4 QRL und somit auch das Fehlen einer internen Schutzalternative nach § 3e AsylG anzunehmen. Einzelne Unklarheiten seines Vortrags wird der Antragsteller möglicherweise in der mündlichen Verhandlung noch ausräumen können. Alle diese Gesichtspunkte sprechen dafür, dass die Einschätzung des Bundesamtes, der Asylantrag sei offensichtlich unbegründet, mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nicht zutreffend ist.
3.
Dem Antrag war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei (§ 83b AsylG).


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