Verwaltungsrecht

Prüfung zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots – Ängste in Reaktion auf eine bevorstehende Abschiebung

Aktenzeichen  AU 6 E 16.32617

Datum:
5.12.2016
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2016, 110144
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 7 S. 1
AsylG § 71 Abs. 1 S. 1
VwVfG § 51

 

Leitsatz

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
Der Antragsteller wendet sich mit einer Klage gegen die Ablehnung seines Asylfolgeantrages und mit dem vorliegenden Eilantrag gegen seine kurzfristig angekündigte Abschiebung nach Afghanistan.
Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts im gegen die Ablehnung seines Asylerstantrags gerichteten Klageverfahren (VG Augsburg, U.v. 8.11.2012 – Au 6 K 12.30253 – S. 2 ff.) stammt der 1985 geborene Antragsteller aus dem Dorf, Provinz Paktia, und ist afghanischer Staatsangehöriger aus der Volksgruppe der Pashtunen. Nach eigenen Angaben reiste er auf dem Landweg nach Deutschland ein. Am 5. September 2011 beantragte er die Anerkennung als Asylberechtigter und berief sich u.a. auf eine drohende Zwangsrekrutierung durch die Taliban.
Das Bundesamt lehnte diesen ersten Asylantrag mit Bescheid vom 20. Juli 2012 ab und stellte u.a. fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG (Ziffer 3) nicht vorliegen. Die Abschiebung nach Afghanistan wurde angedroht (Ziffer 4). Zur Begründung führte das Bundesamt aus, Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG lägen nicht vor. Der Antragsteller laufe weder Gefahr, unter Missachtung der Menschenwürde schweren psychischen oder körperlichen Leiden ausgesetzt zu werden (§ 60 Abs. 2 AufenthG) noch drohe ihm die Todesstrafe (§ 60 Abs. 3 AufenthG). Im Übrigen sei sein Vortrag hinsichtlich der Bedrohung durch die Taliban unglaubhaft, da seine Familie weiterhin unbehelligt im Heimatdorf leben würde. Zudem müsse er sich darauf verweisen lassen, seinen Wohnsitz außerhalb seines Heimatorts zu nehmen, um weiteren Auseinandersetzungen mit Aufständischen zu entgehen. Ein Ausweichen nach Kabul sei möglich und zumutbar, Abschiebungsverbote seien daher weder nach § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG noch nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG gegeben.
Die gegen diesen Bescheid gerichtete Klage wies das Verwaltungsgericht ab (VG Augsburg, U.v. 8.11.2012 – Au 6 K 12.30253); sein Urteil wurde nach Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung durch den Bayerischen Verwaltungsgerichtshof (BayVGH, B.v. 13.8.2013 – 13a ZB 12.30459) rechtskräftig. Unter Würdigung der Schilderungen des Antragstellers in der mündlichen Verhandlung hatte das Verwaltungsgericht erhebliche Zweifel daran, dass die Taliban den Kläger tatsächlich gegen seinen Willen zwangsrekrutieren wollten. Es hielt den Antragsteller für nicht glaubwürdig und verneinte auch Abschiebungsverbote, denn der Kläger leide nicht an gesundheitlichen Einschränkungen und könne zu seiner Familie zurückkehren.
Mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 4. April 2014 stellte der Antragsteller einen Asylfolgeantrag beschränkt auf die Feststellung eines Abschiebungshindernisses nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG aus gesundheitlichen Gründen. Einem beigefügten fachärztlichen Attest (Dipl.-Psych. … vom 10.3.2014) ist zu entnehmen, der Antragsteller befinde sich seit dem 2. Dezember 2013 in psychiatrischer/psychotherapeutischer Behandlung wegen eines diagnostizierten Mischbilds einer ausgeprägten Angststörung (ICD 10: F41.1), einer überdauernden depressiven Störung mit somatischen Symptomen (ICD 10: F32.11) bei Verdacht auf das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung (ICD 10: F43.1). Der Antragsteller leide an ausgeprägten Angstzuständen sowohl bezüglich konkreter traumatisierender Ereignisse und Erlebnisse in Afghanistan als auch extrem hinsichtlich der befürchteten Abschiebung und damit antizipierter Todesängste. Er sei überzeugt, im Fall der Rückkehr wie sein Vater umgebracht zu werden. Eine weitergehende psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung einschließlich zustandsangepasster antidepressiver und angstlösender Medikation sei dringend erforderlich, was in seinem Heimatland sicher nicht gewährleistet sei; die medikamentöse antidepressive Behandlung bestehe derzeit in der Gabe von Citalopram und Mirtazapin.
Auf Sachstandsanfragen des Klägerbevollmächtigten teilte das Bundesamt mit, wegen der stark gestiegenen Antragszahlen erst im Jahr 2016 entscheiden zu können.
Am 3. November 2015 stellte das afghanische Generalkonsulat in Bonn für den Kläger einen Reisepass aus.
Mit Schriftsatz seines Bevollmächtigten vom 13. September 2016 ließ der Antragsteller ein weiteres fachärztliches Attest (Dipl.-Psych. … vom 25.8.2016) vorlegen, wonach sich der Antragsteller seit dem Dezember 2013 in psychiatrischer/psychotherapeutischer Behandlung nach nervenärztlicher Behandlung befinde. Er habe sich in Deutschland integriert, arbeite in einer Bäckerei, habe eine Wohnung gefunden und wolle aus dem Wohnheim ausziehen. Diese Fortschritte würden nun gefährdet durch die unbeschreibliche Angst, wie sein Zimmergenosse abgeschoben zu werden; der Antragsteller sehe für sich keinerlei Lebenschance in seiner Heimat und sei nach wie vor davon überzeugt, dass seine Rückkehr für ihn den sicheren Tod bedeute. Er leide erneut unter ausgeprägten depressiven Symptomen mit Ein- und Durchschlafstörungen, Albträumen etc.; er drohe nicht, sich im Fall seiner Auslieferung umzubringen. Es müsse jedoch mit größter Wahrscheinlichkeit damit gerechnet werden, dass er im Falle einer Abschiebung suizidal dekompensiere und sich lieber umbringe, als nach Afghanistan zurückzukehren.
Mit streitgegenständlichem Bescheid vom 10. Oktober 2016 lehnte das Bundesamt den Antrag des Antragstellers auf Abänderung des Bescheides vom 20. Juli 2012 bezüglich der Feststellung zu § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG ab. Zur Begründung ist u.a. ausgeführt, dass die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 VwVfG nicht vorlägen. Der Wiederaufgreifensantrag vom 4. April 2014 sei erst am 7. April 2014 eingegangen und verfristet, denn der Antragsteller habe sich ausweislich des damaligen Attests (Dipl.-Psych. … vom 10.3.2014) bereits seit Dezember 2013 in Behandlung befunden. Auch ein Widerruf des Bescheides vom 20. Juli 2012 im Ermessens Weg komme nicht in Betracht, denn eine durch einen nichtstaatlichen Akteur verursachte Misshandlung im Sinne von § 60 Abs. 5 Auf-enthG i.V.m. Art. 3 EMRK drohe dem Kläger durch die Taliban nicht. Seine Schilderungen über eine Zwangsrekrutierung seinen gerichtlich als unglaubwürdig bewertet worden; ihm stehe als Fluchtalternative Kabul zur Verfügung. Er könne dort zumindest durch Gelegenheitsarbeit auch sein Auskommen sichern, zumal er in Deutschland Berufserfahrung als Bäcker gesammelt und vor seiner Einreise nach Deutsch 5 land auch im Herkunftsstaat gearbeitet habe. Zudem lebe dort seine Familie. Eine individuelle erhebliche konkrete Gefahr im Sinne von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG durch eine Verschlimmerung einer Krankheit durch die Verhältnisse im Zielstaat drohe ihm nicht. Eine bloße ungünstige gesundheitliche Entwicklung genüge nicht, eine solche sei den Attesten auch nicht zu entnehmen. Eine suizidale Gefährdung auf Grund einer Abschiebung sei nicht zielstaatsbezogen. Psychische Erkrankungen seien im Übrigen auch in Afghanistan dem Grunde nach behandelbar; die verabreichten Medikamente Citalopram und Mirtazapin seien in Kabul auch grundsätzlich verfügbar. Der Bescheid wurde am 14. Oktober 2016 als Einschreiben zur Post gegeben (BAMF-Akte Bl. 36).
Der Antragsteller ließ hiergegen am 22. Oktober 2016 Klage erheben (Az. Au 6 K 16.32205), über die noch nicht entschieden worden ist, und beantragen,
1.Der Bescheid der Beklagten vom 10. Oktober 2016, zugestellt am 17. Oktober 2016, wird aufgehoben.
2. Die Beklagte wird verpflichtet, Abschiebungshindernisse nach § 60 Abs. 5 bzw. Abs. 7 Satz 1 AufenthG festzustellen.
Der Antragsteller ließ am 29. November 2016 zudem beantragen,
Die aufschiebende Wirkung der Klage wird festgestellt.
Zur Begründung wird im Wesentlichen vorgetragen, dem Antragsteller drohe kurzfristig und vor Abschluss des offenen Verfahrens eine Abschiebung nach Afghanistan; er befinde sich bereits in Abschiebehaft. Er sei jedoch vollumfänglich in die deutsche Gesellschaft integriert.
Die Antragsgegnerin hat am 1. Dezember 2016 ihre einschlägige Verfahrensakte vorgelegt. Eine Antragstellung ist nicht erfolgt.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Behördenakte verwiesen.
II.
Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes bleibt ohne Erfolg.
Der Antragsteller begehrt bei zutreffender Würdigung des Antragsziels (§ 88 i.V.m. § 122 Abs. 1 VwGO) sinngemäß den Erlass einer einstweiligen Anordnung gemäß § 123 VwGO, mit welcher der Antragsgegnerin aufgegeben werden soll, die Ausländerbehörde anzuweisen, keine Vollzugsmaßnahmen zur Durchführung der Abschiebung gegenüber dem Antragsteller durchzuführen.
1. Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung ist zulässig. Das Bundesamt hat zwar mit streitgegenständlichem Bescheid vom 10. Oktober 2016 den Antrag auf Abänderung des Bescheids vom 20. Juli 2012 bezüglich der Feststellung zu § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG abgelehnt, ohne aber eine Abschiebungsandrohung zu erlassen (§ 71 Abs. 5 Satz 1 AsylG). Daher bedarf es zum Vollzug der Abschiebung keiner erneuten Fristsetzung und Abschiebungsandrohung; die vollstreckende Behörde kann grundsätzlich auf die Abschiebungsandrohung im rechtskräftigen Bescheid des Asylerstverfahrens zurückgreifen (§ 71 Abs. 5 Satz 1 AsylG). Daher verbleibt es bei der vollziehbaren Ausreisepflicht des Antragstellers nach Maßgabe des unanfechtbaren Bescheids vom 20. Juli 2012.
Wegen seiner Bestandskraft ist gegen die in diesem Bescheid enthaltene Abschiebungsandrohung auch ein Antrag nach § 80 Abs. 5 VwGO unstatthaft. Die Mitteilung des Bundesamts an die Ausländerbehörde, kein weiteres Asylverfahren durchzuführen (§ 71 Abs. 5 Satz 2 AsylG), welche die durch den Folgeantrag bewirkte einstweilige Hemmung des Vollzugs der Abschiebungsandrohung aus dem Erstverfahren wieder aufhebt, stellt – anders als die Sachentscheidung über den Folgeantrag – keinen durch den Betroffenen angreifbaren Verwaltungsakt dar, sondern löst lediglich die gesetzliche Abschiebungssperre nach § 71 Abs. 5 Satz 2 AsylG und gibt dem Vollstreckungsverfahren mit dem Ziel einer Abschiebung seinen Lauf. Vorläufiger Rechtsschutz ist in diesem Fall durch einen entsprechend umgedeuteten Antrag nach § 123 VwGO gegen das Bundesamt statthaft, mit dem diesem aufgegeben werden soll, der für die Abschiebung zuständigen Ausländerbehörde mitzuteilen, dass vorläufig nicht auf Grund der nach Ablehnung des Folgeantrags an sie ergangenen Mitteilung gemäß § 71 Abs. 5 Satz 2 AsylG abgeschoben werden darf, also ein Vollstreckungshindernis vorliegt.
2. Der Antrag ist jedoch unbegründet. Ein Anordnungsanspruch nach § 123 VwGO liegt nicht vor, weil das Bundesamt den Antrag des Antragstellers auf Abänderung des Bescheides vom 20. Juli 2012 bezüglich der Feststellung zu § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG zu Recht abgelehnt hat. Auf die Ausführungen im angefochtenen Bescheid des Bundesamts wird in vollem Umfang Bezug genommen (§ 77 Abs. 2 AsylG) und ergänzend ausgeführt:
Nach der Regelung des § 71 Abs. 5 Satz 2 AsylG ist die Ausländerbehörde ledig- lich gehalten, mit dem Vollzug der Abschiebung abzuwarten, bis die Mitteilung des Bundesamts, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis Abs. 3 VwVfG nicht vorliegen, eingegangen ist, es sei denn, der Folgeantrag ist offensichtlich un- schlüssig oder der Ausländer soll in einen sicheren Drittstaat abgeschoben wer- den. Rechtsstaatliche Gründe nach Art. 19 Abs. 4 GG erfordern es allerdings, dem Ausländer Gelegenheit zu bieten, die ablehnende Entscheidung und die damit verbundene Mitteilung nach § 71 Abs. 5 Satz 2 AsylG zumindest im Verfahren nach § 123 VwGO summarisch mit in den Blick zu nehmen.
a) Die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens unter Abänderung des Bescheides vom 20. Juli 2012 bezüglich der Feststellung zu § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG sind nicht glaubhaft gemacht.
Gemäß § 71 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis Abs. 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes (VwVfG) vorliegen. Ein Antrag auf Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 Abs. 1 VwVfG setzt voraus, dass sich die Sach- oder Rechtslage nachträglich – nach Abschluss des früheren Asylverfahrens – zu Gunsten des Betroffenen geändert hat (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG), neue Beweismittel vorliegen, die eine für den Betroffenen günstigere Entscheidung über sein Asylbegehren herbeigeführt haben würden (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG) oder Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 der Zivilprozessordnung (ZPO) gegeben sind (§ 51 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG). Dies ist vorliegend nicht der Fall.
aa) Eine nachträgliche Änderung der Sach- oder Rechtslage zu Gunsten des Betroffenen im Sinne von § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG ist nicht glaubhaft gemacht.
Der Antragsteller macht hier unter Berufung auf zwei fachärztliche Atteste (Dipl.-Psych. … vom 10.3.2014 und vom 25.8.2016) geltend, er leide an einer zielstaatsbezogenen Erkrankung, die ein Abschiebehindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG darstelle. Der Antragsteller befinde sich seit dem 2. Dezember 2013 in psychiatrischer/psychotherapeutischer Behandlung wegen eines diagnostizierten Mischbilds einer ausgeprägten Angststörung (ICD 10: F41.1), einer überdauernden depressiven Störung mit somatischen Symptomen (ICD 10: F32.11) bei Verdacht auf das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung (ICD 10: F43.1). Der Antragsteller leide an ausgeprägten Angstzuständen sowohl bezüglich konkreter traumatisierender Ereignisse und Erlebnisse in Afghanistan als auch hinsichtlich der befürchteten Abschiebung und damit antizipierter Todesängste.
Diese Diagnosen – ihre Verwertbarkeit trotz der im hier entscheidungserheblichen Zeitpunkt nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG entgegen den Anforderungen des § 60a Abs. 2b AufenthG fehlenden Darstellung der tatsächlichen Umstände als Grundlage der fachärztlichen Beurteilung unterstellt – führen nicht zu einer Änderung der Sachlage zu Gunsten des Antragstellers, da es sich nicht um eine zielstaatsbezogene Erkrankung handelt. Nach den in der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entwickelten Grundsätzen ist die Gefahr, dass sich eine Erkrankung des Ausländers auf Grund der Verhältnisse im Abschiebezielstaat verschlimmert, in der Regel als individuelle Gefahr einzustufen, die am Maßstab von § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG in direkter Anwendung zu prüfen ist. Hingegen ist eine bereits im Bundesgebiet entstandene, auf die Abschiebung bezogene Erkrankung inlandsbezogen.
Soweit der Kläger also Ängste geltend macht, bei einer Rückkehr nach Afghanistan von den Taliban ermordet zu werden, beziehen sich seine Befürchtungen auf den bereits im ersten Asylverfahren gewürdigten und vom Verwaltungsgericht insgesamt als unglaubwürdig bewerteten Sachvortrag. Er hatte diese Sorge bereits damals ohne Erfolg geltend gemacht. Dass subjektiv empfundene Ängste die in einem unanfechtbar gewordenen Urteil niedergelegte Würdigung der Sachlage durch das Verwaltungsgericht insoweit nicht erschüttern können, liegt auf der Hand. Sie sind keine Änderung der Sachlage. Soweit der Kläger aber Ängste in Reaktion auf eine drohende Abschiebung entwickelt haben will, sind diese nicht zielstaatsbezogen sondern hängen an der Vollstreckung der Abschiebungsandrohung. Sie sind inlandsbezogen (vgl. zur Differenzierung BVerwG, U.v. 15.4.1997 -9 C 38.96 – BVerwGE 104, 265/278; BVerwGE, U.v. 21.9.1999 – 9 C 12.99 -BVerwGE 109, 305 ff., juris Rn. 14 f.) und führen daher ebenfalls nicht zu einer Änderung der Sachlage zu Gunsten des Antragstellers.
Auch die einzelnen Diagnosen einer ausgeprägten Angststörung (ICD 10: F41.1), einer überdauernden depressiven Störung mit somatischen Symptomen (ICD 10: F32.11) bei Verdacht auf das Vorliegen einer posttraumatischen Belastungsstörung (ICD 10: F43.1) führen zu keiner Änderung der Sachlage zu Gunsten des Antragstellers. Vielmehr ist dem neueren Attest (Dipl.-Psych. … vom 25.8.2016) zu entnehmen, der Antragsteller befinde sich zwar seit dem Dezember 2013 in psychiatrischer/psychotherapeutischer Behandlung nach nervenärztlicher Behandlung, er leide aber erneut unter ausgeprägten depressiven Symptomen mit Ein-und Durchschlafstörungen, Albträumen etc. Er drohe nicht, sich im Fall seiner Auslieferung umzubringen. Es müsse jedoch mit größter Wahrscheinlichkeit damit gerechnet werden, dass er im Falle einer Abschiebung suizidal dekompensiere und sich lieber umbringe, als nach Afghanistan zurückzukehren. Auch darin zeigt sich, dass die Erkrankung keineswegs durchgängig manifest ist, sondern der Leidensdruck sich erst im Zuge der eingeleiteten ausländerbehördlichen Vollstreckungsmaßnahmen erhöht habe. Eine „erhebliche konkrete Gefahr” durch eine zielstaatsbezogene Verschlimmerung einer Erkrankung ist aber nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden, gegeben (vgl. § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG); nicht – wie hier – bei einer Erkrankung oder potentiellen Suizidalität in Bezug auf den Abschiebungsvorgang als solchen (vgl. BVerwGE, U.v. 21.9.1999 – 9 C 12.99 – BVerwGE 109, 305 ff., juris Rn. 14 f.; BVerwGE, U.v. 21.9.1999 – 9 C 8.99 – juris Rn. 13).
bb) Aus denselben Gründen liegen in den beiden Attesten auch keine neuen Beweismittel im Sinne von § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG vor, die eine für den Antragsteller günstigere Entscheidung über sein Asylbegehren herbeigeführt haben würden.
Ein Beweismittel ist neu (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG), wenn es während des vorangegangenen Verfahrens entweder noch nicht existierte oder dem Asylbewerber nicht bekannt oder von ihm ohne Verschulden nicht beizubringen war (vgl. BVerwG, U.v. 21.4.1982 – 8 C 75/80 – NJW 1982, 2204). Erforderlich ist aber stets, dass sich das Beweismittel auf den im ersten Verfahren entschiedenen Sachverhalt bezieht, weil es anderenfalls keine günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würde. Hier hat der Antragsteller zwar zwei nach Abschluss des Asylerstverfahrens (hier: BayVGH, B.v. 13.8.2013 – 13a ZB 12.30459) ausgestellte und insofern tatsächlich „neue” Atteste vorgelegt, die allerdings eine Behandlung des Klägers seit dem Dezember 2013 (Dipl.-Psych. … vom 10.3.2014) beweisen, also nach dem Abschluss des Asylerstverfahrens. Selbst wenn die eigentliche Erkrankung früher begonnen hätte, ist doch nicht glaubhaft gemacht, dass sie vor Abschluss des Asylerstverfahrens aufgetreten ist. Dann allerdings hätte der Antragsteller sie nach § 51 Abs. 2 VwVfG bereits im Asylerstverfahren geltend machen müssen. Die Atteste beziehen sich daher nicht auf den im ersten Verfahren entschiedenen Sachverhalt.
Da das neue Vorbringen nach den Darlegungen des Antragstellers nicht Gegenstand des ersten Asylbegehrens gewesen ist, kann es sich insoweit bei den als Beleg vorgelegten Attesten nicht um rechtlich „neue” Beweismittel im Sinne von § 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG handeln. Vielmehr ist die Vorlage von Unterlagen zum Beleg eines neuen oder bislang nicht bekannten Sachverhalts stets als Unterfall des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG anzusehen (vgl. VBH BW, U.v. 23.3.2000 – A 12 S 423/00 – VGHBW-Ls 2000, Beilage 9, B 5, juris m.w.N.).
cc) Für Wiederaufnahmegründe im Sinne von § 51 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG fehlt es an jeglichem Vortrag.
b) Auch die Voraussetzungen ein Wiederaufgreifen des Verfahrens im Ermessensweg nach § 51 Abs. 5 durch Widerruf des Bescheides vom 20. Juli 2012 bezüglich der Feststellung zu § 60 Abs. 5 und Abs. 7 AufenthG sind ebenso wenig glaubhaft gemacht. Eine Reduzierung des behördlichen Ermessensspielraums der Antragsgegnerin auf Null mit der Folge ihrer Verpflichtung zu einem solchen Wiederaufgreifen ist auch mit Blick auf die zu schützenden Grundrechte des Antragstellers nach Art. 1 Abs. 1 und Art. 2 Abs. 2 GG nicht ersichtlich.
Eine Behörde kann ein – auch durch rechtskräftiges verwaltungsgerichtliches Urteil bestätigtes – abgeschlossenes Verwaltungsverfahren nach § 51 Abs. 5 VwVfG nach pflichtgemäßem Ermessen wieder aufnehmen und eine neue Sachentscheidung zu Gunsten des Betroffenen treffen (erste Entscheidungsstufe), um sodann im Fall einer Entscheidung für ein Wiederaufgreifen eine neue Sachentscheidung zu treffen (zweite Entscheidungsstufe), wobei sie den ursprünglichen Verwaltungsakt zurücknehmen, widerrufen oder aber auch durch Zweitbescheid bestätigen kann (vgl. BVerwG, U.v. 22.10.2009 – 1 C 15.08 – BVerwGE 135, 121 ff. juris Rn. 24 f. m.w.N.). Der behördlichen Befugnis zum Wiederaufgreifen im Ermessensweg entspricht ein subjektiver Anspruch des Betroffenen auf fehlerfreie Ermessensbetätigung (vgl. BVerwG, U.v. 22.10.2009 – 1 C 15.08 – BVerwGE 135, 121 ff. juris Rn. 24 f. m.w.N.). Dieses Ermessen verdichtet sich auf Null und mündet in einen Anspruch auf Wiederaufgreifen, wenn die Aufrechterhaltung der ursprünglichen Entscheidung etwa wegen offensichtlicher Fehlerhaftigkeit des sie bestätigenden gerichtlichen Urteils oder Verstoßes gegen Gemeinschaftsrecht (vgl. BVerwG, U.v. 22.10.2009 – 1 C 15.08 – BVerwGE 135, 121 ff. juris Rn. 30 m.w.N.) oder sonst drohender Verletzung elementarer Grundrechte des Betroffe- nen schlechthin unerträglich wäre. Dies ist hier nicht der Fall.
aa) Ein Abschiebungsverbot im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 und Satz 2 AufenthG wegen einer zielstaatsbezogenen erheblichen konkreten Gefahr für Leib oder Leben aus gesundheitlichen Gründen, die eine lebensbedrohliche oder schwerwiegende Erkrankung voraussetzt, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würde, ist aus den o.g. Gründen nicht ersichtlich. Die Erkrankung des Antragstellers ist abschiebungs- und damit inlandsbezogen. Zudem wäre er auf die in seinem Herkunftsstaat vorhandene medizinische Versorgung zu verweisen, die nach § 60 Abs. 7 Satz 3 und Satz 4 AufenthG weder landesweit gewährleistet noch der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig zu sein braucht.
bb) Auch sonst ist ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht glaubhaft gemacht.
Dass der Antragsteller im Falle einer Rückkehr an seinen Heimatort in der Provinz Paktia oder nach Kabul nicht der konkreten Gefahr unterliegt, der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Bestrafung bzw. der Todesstrafe unterworfen zu werden, steht nach Abschluss des Asylerstverfahrens durch das rechtskräftige Urteil hierzu fest (VG Augsburg, U.v. 8.11.2012 – Au 6 K 12.30253; BayVGH, B.v. 13.8.2013 – 13a ZB 12.30459). Diese Einschätzung gilt auch unter Berücksichtigung seines Vortrags zur Rekrutierung durch die Taliban. Auf eine entsprechende Gefahr kann sich der Antragsteller daher nicht mehr berufen; die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 VwVfG liegen nicht vor (vgl. oben); eine offensichtliche Fehlerhaftigkeit im Sinne des § 51 Abs. 5 VwVfG ebenso wenig.
Aber auch sonst ist eine der konkreten Gefahr der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung nicht glaubhaft gemacht. Dies betrifft sowohl die Möglichkeit eines abschiebungsbedingten Suizids, der als inlandsbezogenes Abschiebungshindernis nicht von der Antragsgegnerin geprüft werden und daher hier nicht zu einem Anordnungsanspruch führen kann, als auch die Gefahr eines Abbruchs der hier andauernden medikamentösen Behandlung: Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gebietet Art. 3 EMRK Staaten, die Drittstaatsangehörige in ihre Heimat abschieben wollen, zwar sicher 40 zustellen, dass den Betroffenen im Zielland keine unmenschliche Behandlung droht. Inlandsbezogene Abschiebungshindernisse nach deutschem Recht wie eine Suizidgefahr können in einer Art. 3 EMRK angemessenen Weise aber dadurch ausgeschlossen werden, dass der abschiebende Staat konkrete Maßnahmen zur Verhinderung eines Selbstmords trifft (vgl. EGMR, E.v. 7.10.2004 – 33743/03 (Dragan u. a./ Deutschland) – NVwZ 2005, S. 1043 ff. juris Rn. 84). Eine Selbstmordgefahr als solche kann daher eine Abschiebung nicht hindern.
Auch auf den Abbruch einer Therapie können sich fremde Staatsangehörige regelmäßig nicht als zielstaatsbezogenes Abschiebungshindernis berufen, denn sie können ein Recht auf Verbleib in dem Hoheitsgebiet des abschiebenden Staats grundsätzlich nicht beanspruchen, um weiterhin in den Genuss einer medizinischen, sozialen oder anderen Versorgung zu gelangen, die der abschiebende Staat während ihres Aufenthalts gewährt hat (vgl. EGMR, E.v. 7.10.2004 -33743/03 (Dragan u. a./ Deutschland) – NVwZ 2005, S. 1043 ff. juris Rn. 86). Dies gilt auch für die durch eine Abschiebung möglicherweise abgebrochene medikamentöse Therapie des Antragstellers wegen seiner durch die drohende Abschiebung ausgelösten psychischen Reaktionen, die allenfalls ein inlandsbezogenes Abschiebungshindernis betreffen.
Auch sonst ist ein zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot bezogen auf die Lebensverhältnisse für Rückkehrer in Afghanistan nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK nicht glaubhaft gemacht, denn der Kläger ist – wie im Asylerstverfahren festgestellt – grundsätzlich arbeitsfähig, hat als Bäcker in Deutschland vertiefte Berufserfahrungen erlangt und hebt sich damit deutlich aus der Gruppe anderer Rückkehrer nach Afghanistan ab. Dem Kläger droht auch keine erhebliche konkrete Gefahr für Leib oder Leben wegen der allgemeinen Versorgungslage in Kabul. Er ist volljährig und mit den Lebensverhältnissen in Afghanistan vertraut. Wie bereits im Urteil zum Asylerstverfahren ausgeführt, ist das Gericht der Überzeugung, dass der Antragsteller jedenfalls in Kabul seinen Lebensunterhalt sicherstellen kann. Dies gilt auch mit Blick auf die zwischenzeitlich verstrichenen vier Jahre Aufenthalt des Antragstellers im Bundesgebiet (s. hierzu auch BayVGH, B.v. 30.9.2015 – 3a ZB 15.30063; B.v. 26.5.2015 – 13a ZB 15.30075; U.v. 12.2.2015 13a B 14.30309 – alle juris). Sollte er nach einer Abschiebung noch der bisherigen Medikation durch Gabe von Citalopram und Mirtazapin bedürfen, sind diese Medikamente in Kabul grundsätzlich erlangbar und dem Kläger als arbeitsfähigem Mann auch grundsätzlich finanzierbar, wie das Bundesamt im angegriffenen Bescheid mit Belegen ausgeführt hat. Eine extreme allgemeine Gefahrenlage ergibt sich für den Kläger in Kabul als möglichem Zielort der Abschiebung weder aus seiner Volkszugehörigkeit noch hinsichtlich der allgemeinen Sicherheitslage. Nach den dem Gericht vorliegenden Erkenntnissen erreicht an seinem möglichen Aufenthaltsort Kabul der einen innerstaatlichen bewaffneten Konflikt kennzeichnende Grad willkürlicher Gewalt kein so hohes Niveau, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dieser Region einer ernsthaften individuellen Bedrohung ausgesetzt wäre (s. hierzu auch BayVGH, B.v. 23.9.2013 – 13a ZB 13.30252 – juris). Soweit Organisationen wie UNHCR und Pro Asyl sowie Presseberichte auf die Zunahme von Anschlägen in Kabul verweisen, folgen sie eigenen Maßstäben, aber nicht den von der Rechtsprechung gestellten Anforderungen an die Annahme eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts oder einer individuellen Gefährdung (vgl. BayVGH, B.v. 17.8.2016 – 13a ZB 16.30090 – Rn. 10 m.w.N.).
3. Dass ein Anordnungsgrund nach § 123 VwGO mit Blick auf die für den 14. Dezember 2016 terminierte Abschiebung vorliegt, ändert nichts am o.g. Fehlen eines Anordnungsanspruchs, so dass der Antrag nach § 123 VwGO erfolglos bleibt.
4. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist gerichtskostenfrei (§ 83 b AsylG).
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).

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