Verwaltungsrecht

Rechtswidrige Abschiebungsandrohung nach Italien

Aktenzeichen  Au 7 S 17.30261

Datum:
22.3.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, § 35, § 71a Abs. 1
VwVfG VwVfG § 51

 

Leitsatz

Geht das Bundesamt von der Unzulässigkeit eines Asylantrags nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG aus, so kann eine Abschiebungsandrohung mit dem Zielstaat Italien auch nicht auf die Ermächtigungsgrundlage des § 29 Abs. 1 Nr. 5 iVm § 71a AsylG gestützt werden, da keine Prüfung des Vorliegens der Voraussetzungen der § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG erfolgt ist. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die aufschiebende Wirkung der Klage vom 20. Januar 2017 gegen die Abschiebungsandrohung im Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 9. Januar 2017 wird angeordnet.
II.
Die Antragsgegnerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben,

Gründe

I.
Die Antragsteller zu 1 bis 3, nigerianische Staatsangehörige, begehren vorläufigen Rechtschutz gegen die im Bescheid vom 9. Januar 2017 verfügte Abschiebungsandrohung nach Italien.
1. Der Antragsteller zu 1, seine Ehefrau, die Antragstellerin zu 2, und ihr gemeinsames Kind, die Antragstellerin zu 3 (geboren am … 2011 in Italien) reisten am 31. März 2013 aus Italien per Flugzeug in die Bundesrepublik Deutschland ein. Die Antragsteller zu 1 und 2 waren jeweils im Besitz eines von den italienischen Behörden ausgestellten Reiseausweises für Ausländer („Titolo di Viaggio per Stranieri“), die am 19. Januar 2013 abgelaufen waren. Zudem legten sie Aufenthaltsgenehmigungen vor („Permesso di Soggiorno“), in denen als Art des Aufenthaltstitels („Tipo die Permesso“) die Angabe „Motivi Umanitari“ angegeben ist (s. Bl. 51 bis 57 der Bundesamtsakte); die Aufenthaltstitel sind am 12. September 2013 abgelaufen.
Am 11. April 2013 stellten die Antragsteller zu 1 bis 3 beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (nachfolgend: Bundesamt) Asylanträge.
Am 9. November 2016 wurden die Antragsteller zu 1 und 2 getrennt voneinander angehört. Der Antragsteller zu 1 gab u.a. an, er sei vier Jahre in Libyen und zwei Jahre in Italien gewesen. In Italien habe er die Flüchtlingsanerkennung bekommen und einen Aufenthaltstitel gehabt. Zwischen 2004 und 2007 sei er geschäftlich zwischen Nigeria und Libyen gereist. 2007 habe er sich entschlossen, Nigeria endgültig zu verlassen. Seine nationale ID-Card habe er dort zurückgelassen. Er mache hier die gleichen Asylgründe wie in Italien geltend. Im weiteren Verlauf der Anhörung gab der Antragsteller zu 1 an, er habe einen humanitären Aufenthaltstitel gehabt.
Die Antragstellerin zu 2 gab u.a. an, sie habe Nigeria 2007 verlassen. Ihren Mann habe sie 2007 in Libyen kennengelernt. Im Oktober 2010 seien sie nach Nigeria zurückgekehrt und hätten dort traditionell geheiratet. Libyen hätten sie wegen dem Krieg verlassen. In Italien habe sie einen Aufenthaltstitel gehabt. Sie hätten Italien aus wirtschaftlichen bzw. finanziellen Gründen verlassen.
Die Antragsteller zu 1 und 2 übergaben dem Bundesamt ihre nigerianischen Geburtsurkunden (Bl. 132 und 134 der Bundesamtsakte). Außerdem legten die Antragsteller zu 1 und 2 folgende Dokumente zu ihren in Italien betriebenen Asylverfahren vor:
– die italienischen Anhörungsprotokolle („Verbale di Audizione“) vom 26. August 2011 zu ihren Asylgründen in Italien (Bl. 136 bis 146 der Bundesamtsakte).
– die Entscheidungen der italienischen Behörde vom 12. September 2011über ihre Asylanträge, aus denen sich ergibt, dass dem Antragsteller zu 1 und der Antragstellerin zu 2 jeweils der internationale Schutz versagt wurde („DECIDE: di non riconoscere la protezione internazionale“), ihnen aber humanitärer Schutz („protezione umanitaria“) nach „art. 5, comma 6, del Decreto Legislativo n. 286/1998“ gewährt wurde (s. Bl. 147 bis 151 der Bundesamtsakte).
2. Mit Bescheid vom 9. Januar 2017 lehnte das Bundesamt die Anträge als unzulässig ab (Nr. 1 des Bescheids) und stellte fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG nicht vorliegen (Nr. 2 des Bescheids). Die Antragsteller wurden aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland innerhalb einer Woche nach Bekanntgabe der Entscheidung zu verlassen. Sollten sie die Ausreisefrist nicht einhalten, würden sie nach Italien abgeschoben. Sie könnten auch in einen anderen Staat abgeschoben werden, in den sie einreisen dürfen oder der zu ihrer Rückübernahme verpflichtet sei. Die Antragsteller dürften nicht nach Nigeria abgeschoben werden (Nr. 3 des Bescheids). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG wurde auf 60 Monate ab dem Tag der Abschiebung befristet (Nr. 4 des Bescheids).
Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, dass die Asylanträge nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG unzulässig seien, da den Antragstellern bereits in Italien internationaler Schutz gewährt worden sei.
Der Bescheid wurde am 17. Januar 2017 per Postzustellungsurkunde (PZU) zur Post gegeben.
3. Am 20. Januar 2017 wurde hiergegen Klage erhoben und beantragt, den Antragstellern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise festzustellen, dass sie die Voraussetzungen des subsidiären Schutzes erfüllen, hilfsweise festzustellen, dass für sie Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder 7 AufenthG vorliegen, hilfsweise das Einreise- und Aufenthaltsverbot aufzuheben bzw. kürzer zu befristen. Der Bescheid des Bundesamts vom 9. Januar 2017 sei aufzuheben, soweit er der o.g. Verpflichtung entgegenstehe.
Gleichzeitig wurde beantragt,
die aufschiebende Wirkung der Klage gegen Ziffer 3 des Bescheids vom 9. Januar 2017 anzuordnen.
Zur Begründung wurde vorgetragen, dass die Antragsteller zu 1 und 2 Eltern einer weiteren Tochter (geboren am … 2013 in …) geworden seien. Das Schicksal dieses kleinen Kindes sei ungewiss, wenn ihre Eltern ausreisen müssten oder abgeschoben würden, ein Ergebnis, was schon im Hinblick auf Art. 6 GG nicht rechtmäßig sein könne.
Das Bundesamt legte für die Antragsgegnerin am 26. Januar 2017 die Behördenakten vor.
4. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der zulässige Antrag auf Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage gegen die Abschiebungsandrohung in Nr. 3 des angefochtenen Bescheids hat auch in der Sache Erfolg.
1. Der Antrag nach § 80 Absatz 5 VwGO ist gemäß § 36 Abs. 3 Satz 1 Asylgesetz (AsylG) zulässig. Insbesondere ist die dort bestimmte Antragsfrist von einer Woche nach Bekanntgabe des streitgegenständlichen Bescheides gewahrt. Aus dem Vermerk des Bundesamtes vom 16. Januar 2017 (Bl. 178 der Bundesamtsakte) ergibt sich, dass der Bescheid am 17. Januar 2017 per PZU zur Post gegeben wurde. Die am 20. Januar 2017 erhobene Klage und der gleichzeitig gestellte Antrag auf vorläufigen Rechtschutz sind damit fristgemäß bei Gericht eingegangen.
2. Der Antrag ist auch begründet. Nach § 80 Abs. 5 VwGO kann das Gericht auf Antrag im Rahmen einer eigenen Ermessensentscheidung die aufschiebende Wirkung der Klage anordnen, wenn das Interesse des Antragstellers an der beantragten Aussetzung der Vollziehung das bezüglich der Abschiebungsandrohung bestehende öffentliche Interesse an der sofortigen Durchsetzbarkeit des Verwaltungsaktes überwiegt.
Die danach vorzunehmende Abwägung des öffentlichen Vollzugsinteresses der Antragsgegnerin mit dem privaten Aussetzungsinteresse der Antragsteller hat sich maßgeblich – nicht ausschließlich – an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu orientieren, wie diese sich bei summarischer Prüfung im vorliegenden Verfahren abschätzen lassen. Diese Interessenabwägung fällt vorliegend zu Gunsten der Antragsteller aus, denn die Abschiebungsandrohung in Nummer 3 des angefochtenen Bescheides des Bundesamtes begegnet nach diesen Maßstäben zu dem für die Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 AsylG) durchgreifenden rechtlichen Bedenken. Denn das Bundesamt hat zu Unrecht „Italien“ als denjenigen Zielstaat benannt, in den die Antragsteller abgeschoben werden sollen.
a) Die Voraussetzungen für eine Abschiebungsandrohung mit dem Zielstaat Italien gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2, § 35 AsylG liegen ganz offensichtlich nicht vor.
Gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Mitgliedsstaat der Europäischen Union dem Antragsteller bereits internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG, gewährt hat.
Die Antragsteller haben in Italien entgegen der Behauptung des Bundesamtes keinen internationalen Schutz im Sinne des § 1 Abs. 1 Nr. 2 AsylG (Flüchtlingsschutz oder subsidiären Schutz im Sinne der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 [EU-Qualifikationsrichtlinie, ABl. L 337 vom 20.12.2011, S. 9]), erhalten. Vielmehr ergibt sich aus den in der Bundesamtsakte befindlichen „permesso di soggiorno“ (Bl. 52 der Bundesamtsakte) ganz eindeutig, dass den Antragstellern (nur) ein Aufenthaltstitel aus humanitären Gründen (motivi umanitari) zugebilligt worden war. Dasselbe ergibt sich aus den von den Antragstellern zu 1 und 2 vorgelegten beiden Entscheidungen der italienischen Behörde („La Commissione Territoriale per il Riconoscimento della Protezione Internazionale – Siracusa“) vom 12. September 2011 über deren Asylanträge. Diese Entscheidungen enthalten jeweils den eindeutigen Ausspruch, dass internationaler Schutz nicht gewährt wird („DECIDE: di non riconoscere la protezione internazionale“), jedoch (unter Berücksichtigung der bestehenden Schwangerschaft der Antragstellerin zu 2) humanitärer Schutz („protezione umanitaria“) zugebilligt wird.
Eine solche Aufenthaltsgestattung aus humanitären Gründen beruht auf (nationalem) italienischem Recht und wird gerade dann erteilt, wenn die italienischen Behörden davon ausgehen, dass die Voraussetzungen für die Gewährung internationalen Schutzes nicht erfüllt werden (vgl. Bundesamt für Migration und Flüchtlinge: Leitfaden Italien, Aktualisierte Fassung Oktober 2014, S. 22, abrufbar unter http: …www…de).
Damit liegen die Voraussetzungen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG nicht vor.
b) Eine andere Rechtsgrundlage, auf die eine Abschiebungsandrohung mit dem Zielstaat Italien gestützt werden könnte, ist nicht ersichtlich.
Abgesehen davon, dass die Einleitung eines sog. „Dublin-Verfahrens“ wegen des Ablaufs der 3-Monatsfrist zur Stellung eines Übernahmeersuchens an Italien (Art. 23 Abs. 2 Unterabs. 2 Dublin III-VO) nicht mehr in Frage kommt (siehe hierzu auch Aktenvermerk des Bundesamtes, Bl. 101 der Bundesamtsakte), hätte das Bundesamt in einem solchen Fall eine Abschiebungsanordnung (s. § 34a Abs. 1 Satz 1 AsylG) erlassen müssen; eine Abschiebungsandrohung wäre unzulässig.
Eine Abschiebungsandrohung mit dem Zielstaat Italien kann auch ersichtlich nicht auf die Ermächtigungsgrundlage des § 29 Abs. 1 Nr. 5 i.V.m. § 71a AsylG gestützt werden.
Zwar spricht viel dafür, dass die Schutzanträge der Antragsteller Zweitanträge nach § 71a AsylG darstellen. Aber das Bundesamt hat die ihm obliegende Prüfung (s. § 71a Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG), ob ein weiteres Asylverfahren durchzuführen ist, also ob die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 des Verwaltungsverfahrensgesetzes vorliegen, bisher noch nicht durchgeführt. Zum anderen müsste, wenn das Bundesamt zu dem Ergebnis käme, dass ein weiteres Asylverfahren nicht durchzuführen ist und die Asylanträge der Antragsteller gemäß § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG als unzulässig abzulehnen sind, die Abschiebungsandrohung dann auf den Zielstaat Nigeria lauten (soweit das Bundesamt insoweit ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5, 7 Satz 1 AufenthG verneinen würde).
Da somit ernstliche bzw. durchgreifende Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Bescheids vom 9. Januar 2017 bestehen, überwiegen die Interessen der Antragsteller an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung der Klage im Hinblick auf die Abschiebungsandrohung hier das öffentliche Interesse an einer unverzüglichen Durchsetzung des Bescheids.
3. Da der Antrag somit erfolgreich ist, trägt die Antragsgegnerin die Kosten des Verfahrens (§ 154 Abs. 1 VwGO).
Die Gerichtskostenfreiheit beruht auf § 83b AsylG.
Diese Entscheidung ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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