Verwaltungsrecht

Rückkehrgefährdung eines syrischen Staatsangehörigen, der sich durch Ausreise der Reservedienstpflicht entzogen hat

Aktenzeichen  1 C 31/18

Datum:
4.7.2019
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BVerwG:2019:040719U1C31.18.0
Normen:
§ 3 AsylVfG 1992
§ 3a AsylVfG 1992
§ 3b AsylVfG 1992
Art 4 Abs 4 EURL 95/2011
Art 4 Abs 3 EURL 95/2011
Art 9 EURL 95/2011
§ 108 Abs 1 VwGO
Spruchkörper:
1. Senat

Leitsatz

1. Für eine begründete Furcht vor Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG bedarf es einer Gefahrenprognose anhand des Maßstabs der beachtlichen Verfolgungswahrscheinlichkeit; hierbei müssen sich die Tatsachengerichte auch bei unklarer Erkenntnislage die nach § 108 Abs. 1 VwGO erforderliche Überzeugungsgewissheit verschaffen.
2. Ein nicht vorverfolgt ausgereister Schutzsuchender trägt die (materielle) Beweislast für eine ihm bei Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohende Verfolgung.
3. Auch bei einer Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 2 Nr. 5 AsylG bedarf es einer Verknüpfung mit einem Verfolgungsgrund.

Verfahrensgang

vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Mecklenburg-Vorpommern, 21. März 2018, Az: 2 L 238/13, Urteilvorgehend VG Schwerin, 25. September 2013, Az: 5 A 402/11 As

Tatbestand

1
Der Kläger, nach eigenen Angaben ein 1987 geborener syrischer Staatsangehöriger, begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
2
Der Kläger reiste Anfang 2010 in das Bundesgebiet ein und beantragte seine Anerkennung als Asylberechtigter. Zur Begründung gab er an, er sei in Syrien Anhänger der Yekiti-Partei gewesen und von dort geflohen, nachdem eine Parteiversammlung von Sicherheitskräften überfallen worden sei. Wehrdienst habe er von Ende März 2006 bis Anfang April 2008 abgeleistet.
3
Mit Bescheid vom 24. Februar 2011 lehnte das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge – Bundesamt – den Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter und Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als offensichtlich unbegründet ab. Zugleich stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG nicht vorliegen und drohte dem Kläger die Abschiebung nach Syrien an. Mit Bescheid vom 23. März 2012 stellte es ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 2 AufenthG fest und hob die Abschiebungsandrohung auf.
4
Die auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gerichtete Klage hat beim Verwaltungsgericht keinen Erfolg gehabt. Das Oberverwaltungsgericht hat die Beklagte hingegen mit Urteil vom 21. März 2018 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Es hat seine Entscheidung damit begründet, dass dem nicht vorverfolgt ausgereisten Kläger bei einer Rückkehr nach Syrien wegen seiner Entziehung von der Reservedienstpflicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung drohe. In Fortführung der zu diesem Maßstab entwickelten Rechtsprechung könne eine volle richterliche Überzeugung der Prognose beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohender Verfolgung auch dann vorliegen, wenn wegen der Schwierigkeiten der Erkenntnisgewinnung eine eindeutige Faktenlage nicht ermittelt werden könne, sondern in der Gesamtsicht der Erkenntnisse ausreichende Anhaltspunkte für eine Prognose sowohl in die eine wie in die andere Richtung vorlägen, also eine Situation vorliege, die einem non liquet vergleichbar sei. Ob syrischen Staatsangehörigen, die sich der Pflicht zur jederzeitigen Verfügbarkeit für die Ableistung des Reservedienstes in der syrischen Armee durch Flucht nach Europa entzogen hätten, bei Rückkehr Verfolgung drohe, werde in der obergerichtlichen Rechtsprechung unterschiedlich beurteilt. Nach Auswertung der Erkenntnismittel lasse die Faktenlage keine eindeutigen Rückschlüsse oder Prognosen zu. Danach drohe bei Rückkehr die Einziehung zum Reservedienst und bestehe wegen der damit verbundenen Ermittlungen die Gefahr der Misshandlung. Es sei auch nicht ausgeschlossen, dass von den Sicherheitskräften der Vorwurf erhoben werde, Verbindungen zur Opposition zu haben oder dass in der Nichterfüllung des Reservedienstes eine oppositionelle Gesinnung gesehen werde. Zwar werde diese Verdächtigung nicht systematisch erhoben, sondern hänge von weiteren Faktoren ab. Vielfach bleibe es bei der zwangsweisen Durchsetzung der Reservedienstpflicht, ohne dass erkennbar sei, dass dies auch Ausdruck der Verfolgung einer unterstellten oppositionellen Gesinnung sei. Angesichts der völligen Willkürlichkeit des Vorgehens staatlicher Sicherheitskräfte könne aber nicht ausgeschlossen werden, dass die Einziehung zum Reservedienst, die für sich genommen keine politische Verfolgung darstelle, nicht regelmäßig mit der Verdächtigung oppositionellen Handelns und den dadurch verwirkten Verhaftungen, Kriminalstrafen sowie Misshandlungen und Folter verbunden sei. Unter diesen Umständen sei eine sichere Prognose nicht möglich, eine drohende Verfolgung aber keineswegs ausgeschlossen, sondern der Willkür der staatlichen Stellen überlassen. Damit bestehe ein tatsächliches Risiko politischer Verfolgung, das eine Rückkehr unzumutbar mache.
5
Die Beklagte rügt mit der Revision eine Verletzung des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG bei der Auslegung des Begriffs der begründeten Furcht vor Verfolgung und bei der Beweislastverteilung. Das Berufungsgericht bejahe eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit schon dann, wenn keine eindeutige Prognose möglich sei und eine Verfolgung nicht ausgeschlossen werden könne. Weder der Aspekt der Willkürlichkeit von Verfolgungshandlungen noch der Umstand, dass ein Verfolgungsgrund nicht auszuschließen sei, rechtfertige die Annahme einer beachtlichen Wahrscheinlichkeit. Da es sich beim Verfolgungsgrund um eine anspruchsbegründende Tatsache handele, liege die Beweislast beim Kläger.
6
Der Kläger verteidigt die angegriffene Entscheidung.
7
Der Vertreter des Bundesinteresses bei dem Bundesverwaltungsgericht hat sich nicht geäußert.


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