Aktenzeichen AN 10 K 17.34736 ; AN 10 K 18.31039 ; AN 10 K 20.30992
GG Art. 16a
Leitsatz
1. Die Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung in Libyen wegen Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Palästinenser sind nicht gegeben. (Rn. 26) (redaktioneller Leitsatz)
2. Trotz der Waffenstillstandsvereinbarung im Oktober 2020 kann nicht von einer stabilen positiven Entwicklung hinsichtlich der Sicherheits- und Gefährdungslage in Libyen ausgegangen werden. (Rn. 40) (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
1. Unter Aufhebung der Ziffern 3, 4, 5 und 6 des Bescheides des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 5. Juli 2017 (Geschäftszeichen …), des Ergänzungsbescheides vom 16. August 2018 (Geschäftszeichen …) sowie Ziffern 3, 4, 5 und 6 des Bescheides vom 23. Oktober 2020 (Geschäftszeichen …) wird die Beklagte verpflichtet, den Klägerinnen den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen.
Im Übrigen werden die Klagen abgewiesen.
2. Die Kosten der gerichtskostenfreien Verfahren tragen die Klägerinnen und die Beklagte je zur Hälfte.
3. Das Urteil ist hinsichtlich der Kostenentscheidung vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der festgesetzten Kosten abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vor Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
Gründe
Die Klagen in den Verfahren AN 10 K 17.34736 und AN 10 K 20.30992 sind zulässig und teilweise begründet, die Klage im Verfahren AN 10 K 18.31039 hat vollumfänglich Erfolg.
Die Klägerinnen haben nach der maßgeblichen Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 AsylG) einen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus (§ 4 Abs. 1 AsylG), sodass insoweit die streitgegenständlichen Bescheide vom 5. Juli 2017 und 23. Oktober 2020 rechtswidrig und die Klagen begründet sind (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Dementsprechend waren die genannten streitgegenständlichen Bescheide in den Ziffern 3 bis 6 sowie der Ergänzungsbescheid vom 16. August 2018 insgesamt aufzuheben. Ein Anspruch auf Asylanerkennung im Sinne des Art. 16a GG und ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG besteht jedoch nicht, sodass die Klagen in den Verfahren AN 10 K 17.34736 und AN 10 K 20.30992 insoweit abzuweisen sind.
1. Die Klägerinnen haben keinen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG.
Nach § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylG besteht ein Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft dann, wenn sich der Ausländer aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt oder dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will und er keine Ausschlusstatbestände erfüllt. Eine solche Verfolgung kann nicht nur vom Staat ausgehen (§ 3c Nr. 1 AsylG), sondern auch von Parteien oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen (§ 3c Nr. 2 AsylG) oder nichtstaatlichen Akteuren, sofern die in Nrn. 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht (§ 3c Nr. 3 AsylG). Allerdings wird dem Ausländer die Flüchtlingseigenschaft nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zu Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt (§ 3e Abs. 1 AsylG).
Bei der Beurteilung der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist der asylrechtliche Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit zu Grunde zu legen. Der Wahrscheinlichkeitsmaßstab setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhaltes die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung anzulegen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – NVwZ 2013, 936 ff.; VG München, U.v. 28.1.2015 – M 12 K 14.30579 – juris Rn. 23).
Nach Art. 4 Abs. 4 der RL 2011/95/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 ist hierbei die Tatsache, dass ein Antragsteller bereits verfolgt wurde oder einen sonstigen ernsthaften Schaden erlitten hat bzw. von solcher Verfolgung oder einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweise darauf, dass die Furcht des Antragstellers vor Verfolgung begründet ist bzw. dass er tatsächlich Gefahr läuft, ernsthaften Schaden zu erleiden, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass der Antragsteller erneut von solcher Verfolgung und einem solchen Schaden bedroht wird. Diese Regelung privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis bei einer Vorverfolgung durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab. Die Vorschrift begründet für die von ihr begünstigten Antragsteller eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie erneut von einem ernsthaften Schaden bei einer Rückkehr in ihr Heimatland bedroht werden. Dadurch wird der Antragsteller, der bereits einen ernsthaften Schaden erlitten hat oder von einem solchen Schaden unmittelbar bedroht war, von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die einen solchen Schaden begründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Als vorverfolgt gilt ein Schutzsuchender dann, wenn er aus einer durch eine eingetretene oder unmittelbar bevorstehende politische Verfolgung hervorgerufenen ausweglosen Lage geflohen ist. Die Ausreise muss das objektive äußere Erscheinungsbild einer unter dem Druck dieser Verfolgung stattfindenden Flucht aufweisen. Das auf dem Zufluchtsgedanken beruhende Asyl- und Flüchtlingsrecht setzt daher grundsätzlich einen nahen zeitlichen (Kausal-)Zusammenhang zwischen der Verfolgung und der Ausreise voraus.
Es obliegt aber dem Schutzsuchenden, sein Verfolgungsschicksal glaubhaft zur Überzeugung des Gerichts darzulegen. Er muss daher die in seine Sphäre fallenden Ereignisse, insbesondere seine persönlichen Erlebnisse, in einer Art und Weise schildern, die geeignet ist, seinen geltend gemachten Anspruch lückenlos zu tragen. Dazu bedarf es – unter Angabe genauer Einzelheiten – einer stimmigen Schilderung des Sachverhalts. Daran fehlt es in der Regel, wenn der Schutzsuchende im Lauf des Verfahrens unterschiedliche Angaben macht und sein Vorbringen nicht auflösbare Widersprüche enthält, wenn seine Darstellungen nach der Lebenserfahrung oder auf Grund der Kenntnis entsprechender vergleichbarer Geschehensabläufe nicht nachvollziehbar erscheinen, und auch dann, wenn er sein Vorbringen im Laufe des Verfahrens steigert, insbesondere wenn er Tatsachen, die er für sein Begehren als maßgeblich bezeichnet, ohne vernünftige Erklärung erst sehr spät in das Verfahren einführt (VGH BW, U.v. 27.8.2013 – A 12 S 2023/11 – juris; Hess. VGH, U.v. 4.9.2014 – 8 A 2434/11.A – juris).
Ausgehend von diesen Grundsätzen führt das Begehren der Klägerinnen nicht zum Erfolg.
Da die Klägerinnen staatenlos sind und die Klägerin zu 1) ihren vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt in Libyen hatte, ist im Rahmen der Prüfung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b AsylG auf Libyen abzustellen.
Selbst bei Wahrunterstellung des Vortrages ist nicht ersichtlich, dass den Klägerinnen bei ihrer Rückkehr nach Libyen eine relevante Verfolgung im Sinne des § 3 AsylG mit der erforderlichen Wahrscheinlichkeit droht. Soweit die Klägerin zu 1) vorträgt, sie sei von Rebellen zwangsweise angehalten und kontrolliert worden, erreicht dies nicht das für eine Schutzgewährung erforderliche Maß an Intensität. Soweit sich die Klägerin zu 1) auf die schlechte Situation für Palästinenser bezieht, genügt dieser Vortrag ebenfalls nicht dem nach § 3a Abs. 1 AsylG für eine Qualifizierung als Verfolgungshandlung erforderlichen Schwergrad. Für die Klägerin zu 2) wurde keine konkret drohende individuelle und begründete Furcht vor Verfolgung geltend gemacht. Insgesamt ist deshalb eine Verfolgung der Klägerinnen im Falle ihrer Rückkehr nicht beachtlich wahrscheinlich. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird insoweit auf die angefochtenen Bundesamtsbescheide Bezug genommen, § 77 Abs. 2 AsylG.
Den Klägerinnen droht nach Überzeugung des Gerichts auch nicht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit allein wegen ihrer Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Palästinenser eine Verfolgung in Libyen. Die Voraussetzungen einer Gruppenverfolgung sind im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht gegeben.
Für die Annahme einer Gruppenverfolgung ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht (vgl. BVerwG, U.v. 21.4.2009 – 10 C 11/08; U.v. 1.2.2007 – 1 C 24/06, U.v. 18.7.2006 – 1 C 15/05 – jeweils juris).
Nach Auswertung der zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel und der hierzu ergangenen aktuellen Rechtsprechung (vgl. insbesondere VG Berlin, U.v. 18.8.2020 – 19 K 69.19 A – juris Rn. 19 ff.; VG Köln, U.v. 18.2.2020 – 6 K 7872/17.A – juris Rn. 20 ff.; VG Ansbach, U.v. 29.3.2018 – AN 10 K 16.32482 – juris Rn. 24 f.) fehlt es für die Annahme einer drohenden Gruppenverfolgung an der erforderlichen Intensität und Häufigkeit von Verfolgungshandlungen gegenüber Palästinensern in Libyen, mithin an der erforderlichen Verfolgungsdichte. Der Berichtslage lässt sich nicht entnehmen, dass Palästinenser in Libyen gezielt verfolgt werden. Soweit sich die Einstellung der Bevölkerung Libyens gegenüber Palästinensern zum Negativen gewendet hat, sind keine daraus folgenden konkreten Übergriffe belegt. Es ist nicht ersichtlich, dass spezifisch gegen Palästinenser gerichtete Verfolgungshandlungen dazu führen, dass die Kläger nur gerade wegen ihrer Zugehörigkeit zur Gruppe der Palästinenser einer Verfolgung ausgesetzt sind (VG Berlin, U.v. 18.8.2020 – 19 K 69.19 A – juris Rn. 20 ff. m.w.N.).
Die Klägerinnen haben auch keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft als ipso facto Flüchtlinge im Sinne des § 3 Abs. 3 Satz 2 AsylG (vgl. Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der RL 2004/83/EG; gleichlautend nunmehr Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Satz 2 der RL 2011/95/EU – sog. Qualifikationsrichtlinie). Flüchtling ist danach ein Ausländer, der den Schutz oder Beistand einer Organisation oder Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge nach Artikel 1 Abschnitt D des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Flüchtlingskonvention – GK) genießt, dem aber ein solcher Schutz nicht länger gewährt wird, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig geklärt worden ist.
Das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (UNRWA) fällt derzeit als einzige Organisation in den Anwendungsbereich dieser Bestimmungen, die Art. 1 Abschn. D GK sowie Art. 12 Abs. 1 Buchst. a RL 2011/95/EU aufgreifen bzw. umsetzen und gerade im Hinblick auf die besondere Lage der – regelmäßig staatenlosen – Palästinaflüchtlinge geschaffen worden sind, die den Beistand oder Schutz des UNRWA genießen (VG Berlin, U.v. 14.1.2021 – 34 K 540.18 A – juris Rn. 26 mit Verweis auf EuGH, U.v. 17.6.2010 – C-31/09, Bolbol – juris Rn. 44 und U.v. 19.12.2012 – C-364/11, El Kott – juris Rn. 48). Die behördliche und gerichtliche Prüfungsbefugnis ist demnach darauf beschränkt, festzustellen, ob der Ausländer, der einen Asylantrag gemäß § 13 AsylG gestellt hat, tatsächlich den Schutz und den Beistand einer Organisation oder Institution der Vereinten Nationen im Sinne des § 3 Abs. 3 Satz 1 AsylG genossen hat und dieser aus von seinem Willen unabhängigen Gründen entfallen ist und keine Ausschlussgründe nach § 3 Abs. 2 AsylG vorliegen (VG Berlin, U.v. 14.1.2021 – 34 K 540.18 A – juris Rn. 27).
Diese Voraussetzungen liegen in der Person der Klägerin zu 1) als staatenlose Palästinenser mit vorherigem gewöhnlichem Aufenthalt in Libyen nicht vor. Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs sind von Art. 1 Abschn. D GK, auf den Art. 12 Abs. 1 Buchst. a Qualifikationsrichtlinie verweist, nur diejenigen Personen erfasst, die die Hilfe des UNRWA tatsächlich in Anspruch genommen haben. Als Nachweis einer Inanspruchnahme des Schutzes oder Beistandes des UNRWA genügt es, wenn der Betroffene dort förmlich registriert wurde (vgl. EuGH, Urteile vom 25. Juli 2018 – C-585/16 – juris Rn. 84, vom 19. Dezember 2012, C-364/11 [El Kott] – juris Rn. 76, und vom 17. Juni 2010 – C-31/09 – juris Rn. 51 f.; BVerwG, Beschluss vom 14. Mai 2019 – 1 C 5.18 – juris Rn. 22). Die Hilfe des UNRWA kann allerdings auch bei fehlender Registrierung geleistet werden; in diesem Fall muss es dem Betroffenen möglich sein, den Nachweis auf andere Weise zu erbringen (Vgl. EuGH, Urteil vom 17. Juni 2010 – C-31/09 – juris Rn. 52). Die Klägerin zu 1) hat nicht vorgetragen und es ist auch nicht ersichtlich, dass sie dem Schutz und dem Beistand des UNRWA unterstanden hat. Sie hat weder vorgetragen, registriert zu sein noch tatsächlich Leistungen des UNRWA erhalten zu haben. Dies ist auch insofern nicht möglich, als Libyen als Land des gewöhnlichen Aufenthalts nicht zum Operationsgebiet des UNRWA gehört. Zum Operationsgebiet des UNRWA zählt nur der Gazastreifen, Jordanien, Libanon, Syrien und das Westjordanland (vgl. zum Ganzen VG Berlin, U.v. 13.8.2020 – 34 K 639.17 A – juris Rn. 18 ff.; vgl. auch ACCORD, Anfragebeantwortung zu Libyen vom 6. März 2015, Frage 2). Gleiches gilt für die Klägerin zu 2).
2. Aus den gleichen Gründen scheidet auch die geltend gemachte Anerkennung der Klägerinnen als Asylberechtigte im Sinne von Art. 16a GG aus.
3. Die Klägerinnen haben jedoch einen Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus nach § 4 Abs. 1 AsylG.
Subsidiär Schutzberechtigter ist ein Ausländer gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG dann, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht.
Auch insoweit ist für die staatenlosen Klägerinnen als Herkunftsland auf das Land des vorherigen gewöhnlichen Aufenthalts und damit Libyen abzustellen.
Den Klägerinnen droht bei einer möglichen Rückkehr nach Libyen ein ernsthafter Schaden i.S.d. § 4 Abs. 1 AsylG in der Form einer ernsthaften individuellen Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit von einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG).
Vom Vorliegen eines innerstaatlichen bewaffneten Konflikts ist auszugehen, wenn bewaffnete Konflikte im Hoheitsgebiet des betroffenen Staates zwischen dessen Streitkräften und abtrünnigen Streitkräften beziehungsweise anderen organisierten Gruppen stattfinden, die unter verantwortlicher Führung eine solche Kontrolle über einen Teil des Hoheitsgebietes des Staates ausüben, dass sie anhaltende und koordinierte Kampfhandlungen durchführen können. Bloße innere Unruhen oder Spannungen mit vereinzelt auftretenden Gewalttaten genügen nicht. Der Konflikt muss ein bestimmtes Maß an Intensität und Dauerhaftigkeit aufweisen, wie sie typischerweise in Bürgerkriegsauseinandersetzungen oder Guerilla-Kämpfen vorherrschen (vgl. EuGH, U.v. 30.1.2014 – Az. C 285/12 – juris; BVerwG, U.v. 27.4.2010 – Az. 10 C 4/09 – juris). Der Konflikt braucht sich dabei nicht auf das gesamte Staatsgebiet zu erstrecken, es ist ausreichend, wenn bewaffnete Gruppen Kampfhandlungen in einem Teil des Hoheitsgebietes durchführen. Für die Gewährung des subsidiären Schutzes ist grundsätzlich auf die Herkunftsregion des Betroffenen abzustellen, in die dieser typischerweise zurückkehren wird (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – Az. 10 C 15/12 – juris Rn.13).
Zur Frage des Vorliegens eines bewaffneten innerstaatlichen Konflikts in Libyen folgt die Kammer der Entscheidung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs vom 1. März 2021 (15 ZB 21.30100 – juris Rn. 12 ff.; erstinstanzliche Entscheidung VG München, U.v. 16.12.2020 – M 3 K 17.43871), in der zur Begründung – unter Bezugnahme insbesondere auf das Urteil des Verwaltungsgerichts Berlin (U.v. 18.8.2020 – 19 K 69.19 A – juris Rn. 20 ff. m.w.N.) – im Einzelnen Folgendes geführt wird:
Das Verwaltungsgericht Berlin hat […] – unter ausführlicher Würdigung der vorhandenen Erkenntnismittel – die von der Unterstützungsmission der Vereinten Nationen in Libyen (United Nations Support Mission in Libya = UNSMIL) ermittelten […] Opferzahlen, welche „direkte“ Opfer bewaffneter Auseinandersetzungen betreffen, um eine nicht näher konkretisierte „Dunkelziffer“ auch hinsichtlich der Opfer von Landminen und schwerwiegender „Menschenrechtsverletzungen, die durch Milizen außerhalb der unmittelbaren Kampfhandlungen begangen werden“, ergänzt (vgl. VG Berlin, U.v. 24.8.2020 – 19 K 69.19 A – beck-online Rn. 41 ff.). Es kommt zum Ergebnis, dass in allen Landesteilen jederzeit bewaffnete Kämpfe ausbrechen können und „die Wahrscheinlichkeit, in Libyen Opfer willkürlicher konfliktbedingter Gewalt zu werden, die vom Bundesverwaltungsgericht angenommene ‚Erheblichkeitsschwelle‘ deutlich“ übersteigt (vgl. z.B. VG Berlin, U.v. 24.8.2020 – 19 K 69.19 A – beck-online Rn. 40 ff.). Es nimmt – ebenso wie das erkennende Gericht im vorliegenden Rechtsstreit – in der Folge eine „qualitative“ Betrachtung der Gefahrenlage vor. […] Die Ermittlungen des Verwaltungsgerichts entsprechen der aktuellen Erkenntnislage. Danach ist die Lage in Libyen in „weiten Teilen des Landes sehr unübersichtlich und unsicher“ und eine erneute militärische Eskalation des sich seit dem Sturz Gaddafis im Jahr 2011 in Bürgerkriegswirren befindlichen Landes trotz der gegenwärtigen Waffenruhe „jederzeit möglich“ (vgl. die aktuellen „Reise- und Sicherheitshinweise“ des Auswärtigen Amtes vom 2.2.2021, die auch darauf hinweisen, dass es immer wieder zu gewaltsamen Auseinandersetzungen kommt und „vielerorts auch nach Ende von Kampfhandlungen eine Gefahr von Landminen“ besteht). […] Nach eigenen Erkenntnissen des Bundesamts (vgl. Länderinformation – Libyen vom November 2020) sind aufgrund von Beschädigung, Zerstörung oder Besetzung im Bürgerkrieg nach Schätzung der World Health Organization (WHO) insgesamt 75% der libyschen Gesundheitseinrichtungen geschlossen bzw. nur teilweise funktionstüchtig. Seit Anfang des Jahres 2020 gab es laut der WHO mindestens 28 Übergriffe gegenüber Gesundheitseinrichtungen oder medizinischem Personal. […] Vor diesem Hintergrund ist es nicht zu beanstanden, wenn das Verwaltungsgericht die vom Bundesverwaltungsgericht geforderte „annäherungsweise quantitative Ermittlung der Gesamtzahl der in dem betreffenden Gebiet lebenden Zivilpersonen einerseits und der Akte willkürlicher Gewalt andererseits, die von den Konfliktparteien gegen Leib oder Leben von Zivilpersonen in diesem Gebiet verübt werden“, im Wege einer gerichtlichen Würdigung der vorhandenen Erkenntnisse durch Schätzung ermittelt und dabei keine konkrete Verhältniszahl nennt. […] Das Verwaltungsgericht hat deshalb zu Recht neben der quantitativen Bewertung der Gefahrendichte auch eine „qualitative Betrachtung der Gefahrenlage unter Berücksichtigung der desolaten medizinischen Lage, der hohen Zahl von Binnenvertriebenen und der Tatsache, dass es sich bei den Klägern um eine Familie staatenloser Palästinenser mit kleinen Kindern handelt“ vorgenommen. Es hat bei den Klägern in diesem Sinne „mehrere gefahrerhöhende Merkmale“ festgestellt. Auch wenn – wie das Verwaltungsgericht entschieden hat – Palästinenser in Libyen (bisher) keine Gruppenverfolgung wegen ihrer Volkszugehörigkeit zu befürchten haben, geht es davon aus, dass sich infolge der zunehmend schlechten Lage in Libyen gegen die Palästinenser Aggressionen richten, gegen die kein staatlicher Schutz zu erlangen ist und ihnen „nicht nur von der Bevölkerung, sondern auch von den Konfliktparteien unterstellt“ wird, die „jeweils andere Seite zu unterstützen bzw. Terroristen oder Islamisten zu sein“. Eine besondere Vulnerabilität ergibt sich für die Kläger auch daraus, dass es sich um eine Familie mit (insgesamt) fünf jüngeren Kindern handelt, […] und denen es damit deutlich erschwert ist, bei „aufflammender Gewalt ihren Wohnort zu verlassen“. Diese Feststellungen hat die Beklagte […] nicht substantiiert in Zweifel gezogen. Dies gilt auch im Hinblick auf die Frage, ob Palästinenser in Libyen einer besonderen Bedrohung ausgesetzt seien. […] Unter Zugrundelegung dieser Ausführungen ist im Fall der Klägerinnen ebenfalls ein Anspruch auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus gegeben.
Im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung (§ 77 Abs. 1 AsylG) kann nach Auswertung der zur Verfügung stehenden Erkenntnismittel – trotz der Waffenstillstandsvereinbarung im Oktober 2020 – nicht von einer stabilen positiven Entwicklung hinsichtlich der Sicherheits- und Gefährdungslage in Libyen ausgegangen werden. Libyen ist seit der Revolution 2011 von einem Bürgerkrieg betroffen und hat einen beispiellosen Prozess des gewaltsamen Staatszerfalls erlebt. Die Lage ist in weiten Teilen des Landes sehr unübersichtlich und unsicher (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Libyen, Gesamtaktualisierung am 25.9.2020, S. 8). Bewaffnete Gruppen und Konfliktparteien in Libyen operieren mit Handfeuerwaffen, aber auch mit Mörser- und Artilleriegranaten sowie zuletzt oft mit Drohnenbasierten Luftangriffen und nehmen dabei zivile Opfer in Kauf. Kampfmittel wie Minen und Sprengfallen werden genutzt. Zwar scheint eine politische Lösung des Konflikts möglich. Gleichzeitig bleiben diese Fortschritte jedoch fragil. Die politische Lage Libyens ist weiterhin äußerst volatil. Die Gefahrenlage ist dabei nicht auf bestimmte Landesteile beschränkt (vgl. Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Libyen, Auswärtiges Amt, Stand: Dezember 2020, S. 2, 5, 7 u. 11).
Das Verwaltungsgericht Berlin führt hierzu nach umfassender Auswertung der Erkenntnismittel aus (U.v. 18.8.2020 – 19 K 69.19 A – juris Rn. 56 m.w.N.), dass die Gefahrenlage landesweit bestehe. Die von der zunächst auf Tripolis abzielenden Offensive der Truppen Haftars ausgehenden Kämpfe seien eskaliert und hätten sich geographisch erheblich ausgeweitet. In der jüngeren Vergangenheit sei es nach Angaben von UNSMIL zu Gefechten im Großraum Tripolis einschließlich des zivilen Teils des Flughafens Mitiga, in Garian und Taruna (jeweils ca. 100 km südlich bzw. südöstlich von Tripolis) in Zuwara, Sabrata und Surman (60 bis 120 km westlich von Tripolis), aber auch in und um die Küstenstadt Sirte, in Zintan, Zawia, Dschansur, Abugrein und in Bani Walid (Nordwestlibyen), in Darna (Nordostlibyen), in Al-Sddadah nahe Misrata, in Dschufra (Zentrallibyen), in Mursuq und Umm al Aranib (Südlibyen), in der Fessan-Region, in Sabbha und in Al-Feel (Südwestlibyen) gekommen. Es müsse davon ausgegangen werden, dass in allen Landesteilen jederzeit bewaffnete Kämpfe ausbrechen könnten; zudem gebe es im ganzen Land weiterhin Berichte über Gewalt, Rachemorde, Plünderungen und Menschenrechtsverletzungen.
Neben der quantitativen Bewertung der Gefahrendichte ist eine qualitative Betrachtung der Gefahrenlage unter Berücksichtigung von gefahrerhöhenden persönlichen Umstände vorzunehmen (vgl. BayVGH, B.v. 1.3.2021 – 15 ZB 21.30100 – juris Rn. 21). Im Rahmen der qualitativen Bewertung ist im Fall der Klägerinnen festzustellen, dass mehrere gefahrerhöhende Merkmale vorliegen mit der Folge, dass sie einer erhöhten Verfolgungsgefahr ausgesetzt sind. Zum einen handelt es sich bei den Klägerinnen um Palästinenser. Das Bundesamt geht selbst davon aus, dass sich spätestens mit dem Ausbruch verstärkter Kämpfe zwischen den konkurrierenden Regierungen ab Mai 2014 die Situation der Palästinenser deutlich verschlechterte und sich die Wahrnehmung der Palästinenser von dem Bild der Mit-Araber hin zu unerwünschten Ausländern verschlechterte (Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, Länderreport 10 Libyen, Stand: 10/2019, S. 8). Aufgrund der zunehmend schlechten Lage werden die Palästinenser, die nunmehr als Fremde angesehen werden, zu Sündenböcken gemacht, und gegen sie richten sich Aggressionen, gegen die kein staatlicher Schutz zu erlangen ist. Zudem wird Palästinensern nicht nur von der Bevölkerung, sondern auch von den Konfliktparteien unterstellt, die jeweils andere Seite zu unterstützen bzw. Terroristen oder Islamisten zu sein (vgl. VG Ansbach, U.v. 29.3.2018 – AN 10 K 16.32482 – juris Rn. 37). Angesichts dessen sind Palästinenser aufgrund ihrer sozialen Stellung den Folgen des bewaffneten Konflikts besonders schutzlos ausgeliefert, auch wenn in Bezug auf Palästinenser das Niveau einer Gruppenverfolgung nicht erreicht ist (vgl. VG Berlin, U.v. 27.5.2020 – juris 19 K 84.19A – juris Rn. 45). Sie können auch nicht auf den Schutz eines bestimmten Stammes zurückgreifen. Der sich aus der Stammeszugehörigkeit ergebende Schutz des Einzelnen ist in Libyen mangels Funktion der staatlichen Strukturen aber von ganz besonderer Bedeutung (vgl. Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Libyen, Auswärtiges Amt, Stand: Dezember 2020, S. 11; VG Berlin, U.v. 27.5. 2020 – 19 K 84.19A – juris Rn. 45).
Darüber hinaus handelt es sich bei den Klägerinnen um eine Mutter mit einem im Jahr 2020 neugeborenen Kind, was ebenfalls eine besondere Vulnerabilität begründet, insbesondere ist eine Flucht vor aufflammenden Konflikten und Gewalt erschwert (vgl. BayVGH, B.v. 1.3.2021 – 15 ZB 21.30100 – juris Rn. 21).
Hinzu kommt die schlechte medizinische Versorgungslage und die hohe Anzahl von Binnenvertriebenen (390.000 Binnenflüchtlinge, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in Libyen, Auswärtiges Amt, Stand: Dezember 2020, S. 9). Das libysche Gesundheitssystem steht am Rande des Zusammenbruchs. Aufgrund der anhaltenden Gewalt im Land sind 75% der Gesundheitseinrichtungen geschlossen oder nur teilweise funktionstüchtig. Es kommt immer wieder zu Angriffen auf und Beschuss von Spitälern, Ambulanzen und Gesundheitspersonal, bei denen auch zivile Todesopfer zu beklagen sind (vgl. Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Libyen, Gesamtaktualisierung am 25.9.2020, S. 19).
4. Die Abschiebungsandrohung nach § 34 Abs. 1 AsylG nach Libyen in Ziffer 5 der Bescheide vom 5. Juli 2017 und 23. Oktober 2020 sowie nach Jordanien im Ergänzungsbescheid vom 16. August 2018 (Klägerin zu 1) ist daher obsolet und aufzuheben (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO). Gleiches gilt für die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbotes in § 11 Abs. 2 AufenthG.
5. Nach alledem ist den Klägerinnen unter Aufhebung der Ziffern 3 bis 6 der Bescheide vom 5. Juli 2017 und 23. Oktober 2020 sowie des Bescheides vom 16. August 2018 der subsidiäre Schutzstatus gemäß § 4 AsylG zuzuerkennen. Im Übrigen waren die Klagen abzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben, § 83b AsylG.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.