Verwaltungsrecht

unbegründete Aufstockungsklage einer syrischen Staatsangehörigen auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft aus eigenem und aus abgeleitetem Recht, unverzügliche Antragstellung bei Einreise mit Visum zur Familienzusammenführung

Aktenzeichen  AN 15 K 19.30225

Datum:
20.4.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 10587
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG §§ 3 Abs. 1 u. 4, 26 Abs. 1, 3 u. 5

 

Leitsatz

Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Klägerin trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Gründe

Das Gericht konnte aufgrund übereinstimmender Erklärungen der Parteien des Rechtsstreits eine Entscheidung ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung treffen, § 101 Abs. 2 VwGO.
Die zulässige, insbesondere fristgerecht erhobene Klage (§ 74 Abs. 1 Halbs. 1 AsylG i.V.m. §§ 57, 81 Abs. 1 Satz 1, 82 Abs. 1 VwGO i.V.m. § 222 Abs. 1 u. 2 ZPO u. §§ 187 Abs. 1, 188 Abs. 2 BGB – Ende der Klagefrist mit Ablauf des 18. Februar 2019) ist unbegründet. Der streitgegenständliche Bescheid erweist sich in seiner Ziffer 2. als rechtmäßig und verletzt die Klägerin nicht in ihren Rechten. Der Klägerin steht zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung des Gerichts (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 AsylG) die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft weder aus eigenem, noch aus abgeleitetem Recht zu (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO). Folglich war die Klage abzuweisen.
Da die Klageerhebung ohne nähere Begründung im Hinblick auf einen originären Anspruch der Klägerin auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4 i.V.m. Abs. 1 AsylG erfolgt ist und dazu auch im Laufe des gerichtlichen Verfahrens keine neuen tatsächlichen Anknüpfungspunkte für mögliche Asylgründe oder neue rechtliche Argumente vorgetragen wurden, macht das Gericht zunächst von der ihm gesetzlich eingeräumten Befugnis Gebrauch und sieht von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe insoweit ab, als es den Gründen des angefochtenen Bescheids folgt und sich diese zu eigen macht (§ 77 Abs. 2 Alt. 1 AsylG).
Insbesondere ergeben sich aus dem bisherigen Vortrag der Klägerin gegenüber dem Bundesamt und im gerichtlichen Verfahren keine Aspekte, die eine bereits erlittene oder unmittelbar vor ihrer Ausreise ihr drohende Verfolgung durch den syrischen Staat, staatlich gelenkten Stellen oder anderen Akteuren des vom Bürgerkrieg gezeichneten Landes Syrien belegen. Die Klägerin hat vielmehr angegeben, aufgrund der zunehmenden Kriegshandlungen und der Angst um ihre und die Zukunft ihrer Kinder das Land verlassen zu haben, dann aber noch einmal für die Dauer von mehreren Tagen zur Besorgung von Angelegenheiten dorthin wieder zurückgekehrt zu sein, ohne dass ihr dabei persönlich etwas passiert wäre.
Ergänzend bemerkt das Gericht, dass nach seiner Überzeugung auch keine tatsächlichen Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass die Klägerin aufgrund von Gründen, die erst nach ihrer Ausreise aus Syrien eingetreten sind, im Falle einer hypothetischen Rückkehr nach Syrien für diese mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit zu Verfolgungshandlungen des syrischen Staates oder anderer Machtakteure führen (§ 28 Abs. 1a AsylG). Insbesondere hält das Gericht an seiner bisherigen Rechtsprechung, die der überzeugenden Rechtsprechung des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofs und weiterer Oberverwaltungsgerichte folgt, fest, dass allein die Ausreise der Klägerin in das westliche Ausland und die hier erfolgte Asylantragstellung nicht beachtlich wahrscheinlich dazu führen, dass die Klägerin vom syrischen Regime als Oppositionelle oder Regimegegnerin angesehen werden könnte und allein deswegen Verfolgungshandlungen hieran anknüpfend drohen (vgl. bspw. BayVGH, U.v. 9.9.2019 – 20 B 19.32017 – BeckRS 2019, 25271 Rn. 29 f.; OVG Bremen, U.v. 29.1.2019 – 2 LB 127/18 – BeckRS 2019, 3972 Rn. 27 ff. und U.v. 24.3.2021 – 2 LB 123/18 – BeckRS 2021, 6455 Rn. 29; OVG Schleswig, U.v. 10.7.2018 – 2 LB 34/18 – BeckRS 2018, 32871 Rn. 36 ff.; OVG Lüneburg, B.v. 16.1.2020 – 2 LB 731/19 – BeckRS 2020, 168 Rn. 26 ff.).
Der Klägerin haften keine gefahrerhöhenden Umstände an, die das Risiko einer anderen Betrachtung durch den syrischen Staat als beachtlich wahrscheinlich erscheinen lassen. Insbesondere hat sich die Klägerin nach eigenem Bekunden nicht politisch – auch nicht exilpolitisch – betätigt und hat sie auch nicht vorgetragen, dass Familienangehörige der Klägerin sich in entsprechender und exponierter Weise betätigt hätten.
Auch der Umstand, dass zumindest einer der in Deutschland lebenden Söhne der Klägerin nunmehr volljährig ist und deswegen in Syrien der allgemeinen Wehrpflicht unterläge, rechtfertigt für sich genommen keine Annahme gefahrerhöhender Umstände in der Person der Klägerin. Dies wäre nur anzunehmen, wenn die Klägerin wegen der Nichtableistung des Militärdienstes durch ihren Sohn bzw. aufgrund der Entziehung des Sohnes vom Militärdienst durch Veranlassung der Ausreise vor Eintritt des Volljährigkeitsalters die Klägerin in unmittelbare Gefahr einer Verfolgung wegen einer hieraus vermuteten regimefeindlichen, oppositionellen politischen Haltung brächte, etwa auch in Form einer „Sippenhaft“. Dafür gibt es aufgrund der dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel im Allgemeinen und aufgrund der Schilderungen der Klägerin zur Situation ihrer in Syrien verbliebenen Familie auch im Speziellen keine validen Anhaltspunkte (vgl. auch: Danish Immigration Service, COI Syria – Military Service, Stand: Mai 2020, Punkt 3.4.1 „Possible consequences for family members of draft evaders“ S. 36 f.). Dass es bisher im Falle der noch in Syrien lebenden Familie der Klägerin zu Hausdurchsuchungen des syrischen Regimes aufgrund Nachschauen nach Söhnen im wehrpflichtigen Alter gekommen wäre, hat die Klägerin nicht vorgetragen.
Der Klägerin steht auch kein von ihrem in Deutschland lebenden Sohn abgeleiteter Flüchtlingsschutz nach § 26 Abs. 3 Satz 1, Abs. 5 Sätze 1 und 2 AsylG zu. Nach dieser Vorschrift wird Eltern eines minderjährigen ledigen international Schutzberechtigten (Stammberechtigter) oder ein anderer Erwachsener im Sinne des Artikels 2 Buchstabe j der RL 2011/95/EU auf Antrag als international schutzberechtigt anerkannt, wenn 1. die Anerkennung des Stammberechtigten unanfechtbar ist, 2. die Familie im Sinne des Artikels 2 Buchstabe j der RL 2011/95/EU schon in dem Staat bestanden hat, in dem der Stammberechtigte politisch verfolgt wird, 3. sie vor der Anerkennung des Stammberechtigten eingereist sind oder sie den Antrag auf internationalen Schutz unverzüglich nach der Einreise gestellt haben, 4. die Anerkennung des Stammberechtigten nicht zu widerrufen oder zurückzunehmen ist und 5. sie die Personensorge für den Stammberechtigten innehaben.
Im vorliegenden Fall fehlt es am Tatbestandsmerkmal der unverzüglichen Antragstellung nach Einreise, was sich insoweit als notwendig erweist, da die Klägerin nicht zusammen mit ihrem stammberechtigten Sohn nach Deutschland eingereist ist. Die Einreise der Klägerin ins Bundesgebiet erfolgt am 16. Juni 2018, die formgerechte förmliche Stellung des Antrags auf Gewährung internationalen Schutzes dann persönlich durch die Klägerin am 19. Dezember 2018.
„Unverzüglich“ im Sinne der Vorschrift des § 26 Abs. 1 u. 3 AsylG ist ein Asylantrag/Antrag auf internationalen Schutz dann gestellt, wenn er ohne schuldhaftes Zögern (§ 121 BGB) erfolgt (vgl. Bergmann/Dienelt/Bergmann, 13. Aufl. 2020, AsylG § 26 Rn. 9; BeckOK AuslR/Günther, 28. Ed. 1.1.2021, AsylG § 26 Rn. 12). In Konkretisierung dieses Tatbestandsmerkmales durch das Bundesverwaltungsgericht erfolgt die Antragstellung in der Regel ohne schuldhaftes Zögern, wenn sie innerhalb von zwei Wochen nach Einreise vorgenommen wird (BVerwG, U.v. 13.05.1997 – 9 C 35/96 – NVwZ 1997, 1137). Wird die Frist überschritten, müssen besondere Umstände dies rechtfertigen (BVerwG, a.a.O.). Soweit die Einreise des Antragstellenden zum Zwecke der Familienzusammenführung mit einem Visum der Beklagten erfolgt ist, wird im Zusammenhang mit der Beurteilung des Vorliegens besonderer Umstände vertreten, dass die Frist der unverzüglichen Antragstellung nach Ablauf von zwei Wochen auch noch gewahrt ist, wenn diese jedenfalls innerhalb der Geltungsdauer des erteilten Visums erfolgt bzw. der mit einem nationalen Visum einreisende Angehörige zunächst bei der Ausländerbehörde die Verlängerung des Aufenthaltstitels auf Grundlage von § 30 AufenthG beantragt und erst nach erfolgter Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis von mehr als sechs Monaten den Familienasylantrag stellt (BeckOK MigR/Blechinger, 7. Ed. 1.10.2019, AsylG § 26 Rn. 40). „Unverzüglich“ heiße in diesem Sinne nicht nur „möglichst schnell“, sondern auch „sachgemäß“. Sachgemäß sei es aber, dass ein rechtsunkundiger Asylsuchender mit einem Rechtsanwalt Kontakt aufnimmt, um sich von ihm beraten zu lassen (HessVGH, B.v. 24.6.2003 – 10 UE 843/03.A – juris). Wie lange das Zögern mit einer Antragstellung dauern darf, bevor es schuldhaft wird, hänge grundsätzlich von einer Würdigung der besonderen Verhältnisse im konkreten Fall ab (BeckOK MigR/Blechinger, 7. Ed. 1.10.2019, AsylG § 26 Rn. 38). Eine Hinweis- und Beratungspflicht der Ausländerbehörden gegenüber dem zum Zwecke des Familiennachzugs eingereisten Antragsteller ohne dessen Erkundigung bezüglich der Möglichkeiten des § 26 AsylG bestehe indes nicht (vgl. BayVGH, B.v. 17.01.2019 – 20 ZB 18.32762 – BeckRS 2019, 1675; VG Aachen, U.v. 5.3.2020 – 5 K 2046/18 – BeckRS 2020, 5404).
Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe ist weder aus der Behördenakte erkennbar noch substantiiert vorgetragen, dass die Klägerin ihren Antrag auf Gewährung internationalen Schutzes in Ableitung von ihrem seinerzeit minderjährigen, in Deutschland lebenden Sohn unverzüglich gestellt hat. Ohne Belang ist in diesem Zusammenhang, dass die Klägerin von den Möglichkeiten der Asylantragstellung als Familienflüchtlingsschutz zunächst nichts gewusst haben könnte, denn es entspricht ihrer Obliegenheit, sich umfassend über die rechtlichen Möglichkeiten der Festigung ihres Bleiberechts in Deutschland zu informieren, wobei ihr (lediglich) zugestanden werden muss, sich des Rats eines Rechtskundigen, d.h. eines Rechtsanwalts oder einer Beratungsstelle zu bedienen. Die Klägerin hat zur Frage, ob sie sich in irgendeiner Form einmal bei der Ausländerbehörde oder bei einem Rechtsanwalt hinsichtlich ihrer Bleibeperspektive und der Möglichkeiten, ggf. auch einen eigenen Asylantrag unabhängig von der Familienzusammenführung stellen zu können, erkundigt hat, nichts vorgetragen. Was letztlich die Klägerin dazu veranlasst hat, doch einen eigenen Antrag auf internationalen Schutz zu stellen, bleibt vor diesem Hintergrund spekulativ. Die Klägerin hat den Antrag auf Gewährung von internationalen Schutz auch nicht innerhalb der Gültigkeitsfrist des ihr erteilten Visums gestellt, sondern erst gut drei Monate später. Gerade dadurch unterscheidet sich der Fall der Klägerin von dem Fall, den das Verwaltungsgericht Göttingen in der von der Klägerseite zitierten Entscheidung vom 8. Oktober 2019 zu entscheiden hatte. Im Übrigen teilt der hier zur Entscheidung berufene Einzelrichter die Rechtsansicht des VG Göttingen, dass das Merkmal „unverzüglich“ einer Betrachtung des Einzelfalles zugänglich ist. Anders als im Fall des Verwaltungsgerichts Göttingen ist jedoch vorliegend nicht dargelegt, dass die Klägerin überhaupt Rechtsrat eingeholt oder bei der Ausländerbehörde vorgesprochen hat. Allein der Umstand, dass sie zunächst nach ihrer Einreise nach Deutschland ein Bleiberecht genoss und sich um die miteingereisten vier Kinder kümmern musste, entschuldigt nicht, sich um die eigene Situation augenscheinlich zunächst gar nicht weiter gekümmert zu haben. Denn dass die Klägerin zum Zwecke des Familiennachzugs nach Deutschland mit einem gültigen Visum eingereist war, kann nach Auffassung des Gerichts nicht zu einer zeitlich „endlos“ langen Streckung der Möglichkeit unverzüglicher Antragstellung führen. Dagegen spricht schon der Wortlaut und das Sinnverständnis, aber auch die Ratio des Tatbestandsmerkmals „unverzüglich“ im Sinne des § 26 Abs. 1 und 3 AsylG.
Auch der Umstand, dass die Klägerin nach eigenem Bekunden nur eine einfache Schulbildung genossen hat, reicht für sich genommen nicht aus, in ihrem Fall einen großzügigen Maßstab an das zeitliche Moment des Tatbestandsmerkmals „unverzüglich“ anzulegen. Zwar mag danach die Besorgung eigener Angelegenheiten, insbesondere der Umgang mit Behörden sich für die Klägerin ggf. schwieriger gestalten als bei einem Asylbewerber, der eine universitäre Ausbildung abgeschlossen hat. Der Klägerin aber dadurch gleichsam zu unterstellen, sie könne für ihre Angelegenheiten nicht sachlich angemessen Sorge tragen, ist aus ihrem Vortrag und dem Inhalt der Bundesamtsakte nicht begründbar. Vielmehr hat die Klägerin es vermocht, nach ihrer Ausreise aus Syrien noch einmal dorthin für die „Besorgung von Angelegenheiten“ für eine kurze Zeit zurückzukehren und überdies mit vier ihrer Kinder ohne Unterstützung ihres Ehemannes in der Türkei so lange zu leben, bis auch ihr die Ausreise zum Zwecke der Familienzusammenführung ermöglicht wurde. Der Niederschrift über die Anhörung der Klägerin vor dem Bundesamt sind auch keine sonstigen Anhaltspunkte dafür zu entnehmen, der Klägerin falle es persönlich besonders schwer, Umgang mit Behörden und behördlichen Angelegenheiten zu haben. Letztlich hat die Klägerin es zudem vermocht, eine Rechtsanwältin zur Durchführung des Klageverfahrens zu beauftragen, was ebenfalls dagegen spricht, die Klägerin könne sich um ihre Angelegenheiten nicht sachgerecht kümmern, so dass insoweit in der Folge ein großzügiger Maßstab an das Merkmal „unverzüglich“ anzusetzen wäre.
Nach alledem kommt auch die Zuerkennung abgeleiteten Flüchtlingsschutzes vom Ehemann der Klägerin nach § 26 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 AsylG nicht in Betracht, denn auch in diesem Fall hätte die Klägerin ihren Antrag unverzüglich stellen müssen, was nicht der Fall war.
Im Ergebnis war die Klage mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzuweisen. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG. Die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 Abs. 2 VwGO.


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