Verwaltungsrecht

Untätigkeitsklage, Asylbewerber aus Algerien, in Griechenland anerkannte Schutzberechtigte, kein zureichender Grund für Untätigkeit, Verpflichtung des Bundesamts zur Bescheidung eines Asylantrags

Aktenzeichen  W 5 K 21.30952

Datum:
10.2.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 2930
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 75 S. 3
VwGO § 113 Abs. 5 S. 2

 

Leitsatz

Tenor

I. Die Beklagte wird verpflichtet, über die Asylanträge der Klägerinnen zu entscheiden. 
II. Die Kosten des Verfahrens hat die Beklagte zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben. 
III. Der Gerichtsbescheid ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Klägerinnen vorher in gleicher Höhe Sicherheit leisten. 

Gründe

Die Klage, über die das Gericht nach Anhörung durch Gerichtsbescheid entscheidet (§ 84 Abs. 1 Satz 1 und 2 VwGO), ist zulässig und begründet.
1. Die Klage ist als Verpflichtungsklage (§ 42 Abs. 1 VwGO) in Gestalt der Untätigkeitsklage (§ 75 Satz 1 VwGO) zulässig.
1.1. Die Klage wurde nach Ablauf der Dreimonatsfrist des § 75 Satz 2 VwGO erhoben. Dabei kann dahingestehen, ob die besonderen Zulässigkeitsvoraussetzungen des § 75 VwGO durch § 24 Abs. 4 AsylG modifiziert werden, da die Klägerinnen einen solchen Antrag gestellt haben und die Beklagte mitgeteilt hat, dass eine Entscheidung derzeit noch nicht getroffen werden könne.
1.2. Das Verfahren war nicht nach § 75 Satz 3 VwGO auszusetzen und der Beklagten eine Frist zur Sachentscheidung zu setzen, weil es an einem zureichenden Grund für die bisher ausgebliebene Entscheidung des Bundesamts über die Asylanträge fehlt.
Im maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 2 AsylG) liegt kein zureichender Grund i.S.v. § 75 VwGO dafür vor, dass die Beklagte noch nicht über den Asylantrag der Klägerinnen entschieden hat.
Ein Grund kann nur dann zureichend im Sinne des § 75 Satz 3 VwGO sein, wenn er mit der Rechtsordnung im Einklang steht und im Licht der Wertentscheidungen des Grundgesetzes als zureichend angesehen werden kann. Dabei sind in einer einzelfallbezogenen Abwägung neben den vielfältigen Umständen, die eine verzögerte behördliche Entscheidung dem Grunde nach zu rechtfertigen geeignet sind, auch eine etwaige besondere Dringlichkeit einer Angelegenheit für den Kläger zu berücksichtigen (BVerwG, U.v. 23.7.1991 – 3 C 56/90 – juris Rn. 10; BVerfG, B.v.16.1.2017 – 1 BvR2406/16 – juris Rn. 9).
Vorliegend hat die Beklagte angegeben, einer Entscheidung über den Asylantrag stehe aktuell noch die weitere Sachaufklärung durch die Beklagte entgegen; es seien erst weitere Ermittlungen zur Situation in Griechenland erforderlich, bevor über den Asylantrag der Klägerinnen entschieden werden könne. Zwar können noch einzuholende Ermittlungen grundsätzlich einen zureichenden Grund i.S.v. § 75 Satz 3 VwGO darstellen, vor allem wenn es andernfalls an einer hinreichenden Tatsachengrundlage für eine Entscheidung über den Asylantrag fehlt. Allerdings ist angesichts der zahlreichen Erkenntnismittel, die Informationen über die Situation anerkannt Schutzberechtigter in Griechenland vor allem im Hinblick auf die Wohnsituation und den Zugang zum Arbeitsmarkt und Sozialleistungen liefern, eine hinreichend gesicherte Tatsachengrundlage gegeben. Konkrete Anhaltspunkte, die darauf schließen ließen, dass sich die Lage in Griechenland in letzter Zeit maßgeblich geändert hätte und die vorliegenden Erkenntnismittel daher nicht mehr hinreichend aktuell seien, sind nicht erkennbar und wurden von der Beklagten auch nicht vorgetragen. Auch hat die Beklagte weder auf die Anfrage des Klägerbevollmächtigten hin noch im gerichtlichen Verfahren dargelegt, welche Ermittlungen aus ihrer Sicht noch erforderlich seien und welche konkreten Ermittlungsmaßnahmen in die Wege geleitet worden seien. Es wurde lediglich der allgemein gehaltene Hinweis gegeben, es sei angesichts der Dynamik der Versorgungssituation und Arbeitsmarktlage auch unter Berücksichtigung der Auswirkungen der Corona-Pandemie eine weitere Sachaufklärung durch die Beklagte erforderlich. Auch lassen sich den übermittelten Behördenakten keine Anhaltspunkte entnehmen, dass irgendwelche Aufklärungsmaßnahmen durch das Bundesamt seit Dezember 2019 vorgenommen worden wären. Den Klägerinnen kann jedenfalls nicht zugemutet werden, auf unbegrenzte Zeit zu warten, bis möglicherweise eine Überstellung nach Griechenland möglich wird (vgl. VG Freiburg, U.v. 30.9.2021 – A 7 K 2387/21; VG Osnabrück, U.v. 7.4.2021 – 5 A 515/20 – juris). Dies genügt insbesondere nicht im Hinblick auf das asylrechtliche Beschleunigungsgebot, das eine Entscheidung grundsätzlich innerhalb von sechs Monaten ab förmlicher Asylantragstellung verlangt (vgl. Art. 31 Abs. 3 UAbs. 1 und 2 der EU-Verfahrensrichtlinie 2013/32/EU sowie § 24 Abs. 4 AsylG). Andere Umstände, die hier für eine Verlängerung der Entscheidungsfrist sprechen könnten, sind weder substantiiert vorgetragen noch sonst ersichtlich (vgl. Art. 31 Abs. 3 Unterabs. 3 und Abs. 5 der EU-Verfahrensrichtlinie 2013/32/EU).
1.3. Die Klägerinnen haben auch das erforderliche besondere Rechtsschutzbedürfnis für eine auf Bescheidung beschränkte Untätigkeitsklage.
Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (U.v. 11.7.2018 – 1 C 18/17 – juris Rn. 32 ff.) begründen die besondere Ausgestaltung des behördlichen Asylverfahrens und die daran anknüpfenden Verfahrensgarantien in ihrer Gesamtschau ein berechtigtes Interesse eines Asylantragstellers für eine reine Bescheidungsklage jedenfalls dann, wenn der Antragsteller nach Stellung seines Asylantrages nicht zu seinen Asylgründen angehört worden ist. Dies begründet das Bundesverwaltungsgericht damit, dass das gerichtliche Asylverfahren die Durchführung des behördlichen Asylverfahrens nicht insgesamt gleichwertig ersetzen kann. Das gerichtliche Verfahrensrecht ist insgesamt auf Kontrolle einer behördlichen Entscheidung in einem transparenten, vom Grundsatz der Öffentlichkeit geprägten kontradiktorischen Verfahren durch den gesetzlichen Richter angelegt. Die spezifischen Kommunikationsprobleme im (behördlichen wie gerichtlichen) Asylverfahren vermitteln dann aber ein besonderes schutzwürdiges Interesse des Asylantragstellers an der Durchführung des behördlichen Erstverfahrens und der Möglichkeit einer daran erst anschließenden gerichtlichen Kontrolle (BVerwG, a.a.O., Rn. 48 bis 52). Auch kann dem unionsrechtlichen Gebot eines wirksamen Rechtsbehelfs mit einer umfassenden ex-nunc-Prüfung, die sich sowohl auf Tatsachen als auch auf Rechtsfragen erstreckt (vgl. Art. 46 Abs. 3 der RL 2013/32/EU vom 26. Juni 2013), in Fällen, in denen es – wie hier – an einer zu überprüfenden behördlichen Entscheidung bislang fehlt, keine unionsrechtliche Pflicht des Gerichts zum „Durchentscheiden“ entnommen werden. Art. 46 der RL 2013/32/EU setzt erkennbar voraus, dass eine behördliche Erstentscheidung ergangen ist, und verhält sich nicht zum gerichtlichen Rechtsschutz in Fällen der Untätigkeit. Dessen Ausgestaltung ist Sache der nationalen Gesetzgeber (BVerwG, a.a.O., Rn. 54).
Auch in der vorliegenden Konstellation, in der der Asylantragsteller zwar angehört worden ist, das Bundesamt aber danach nicht weiter tätig geworden ist, folgt ein Rechtsschutzbedürfnis für die Beschränkung auf den reinen Bescheidungsantrag aus den Besonderheiten des behördlichen Asylverfahrens und seinen spezifischen Verfahrensgarantien (vgl. hierzu VG Dresden, U.v. 23.11.2018 – 12 K 5750/17.A – juris Rn. 14). Zwar hat das Gericht bei einer gebundenen, nicht im Ermessen stehenden Entscheidung der Verwaltung die Sache grundsätzlich nach § 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO spruchreif zu machen und Unklarheiten und Lücken in der behördlichen Sachverhaltsermittlung zu schließen (§ 86 Abs. 3 VwGO). Doch kann dies bei asylrechtlichen Erstverfahren angesichts der besonderen, auf Beschleunigung und Konzentration auf eine einzige Behörde gerichteten Ausgestaltung des Asylverfahrens nicht gelten. Auch wenn – wie hier – die Verpflichtung des Bundesamtes zur persönlichen und nicht öffentlichen Anhörung des Antragstellers (§ 24 Abs. 1 Satz 3, § 25 Abs. 6 Satz 1 AsylG) zur Geltung gekommen ist, ist das Bundesamt jedenfalls der Verpflichtung zur umfassenden Sachaufklärung und zur Erhebung der erforderlichen Beweise von Amts wegen (§ 24 Abs. 1 Satz 1 AsylG), für die – anders als im Gerichtsverfahren (§ 74 Abs. 2 Satz 1 und 2 AsylG) – keine Präklusionsfrist vorgesehen ist, nicht abschließend nachgekommen. Auch in dieser Situation kann das gerichtliche Asylverfahren die Durchführung des behördlichen Asylverfahrens nicht gleichwertig ersetzen. Die Untätigkeit des Bundesamtes darf letztlich nicht dazu führen, dass das Verwaltungsgericht erstmals in der Sache entscheidet, ohne dass sich das Bundesamt als fachlich zuständige und kompetente Asylbehörde inhaltlich mit dem Asylbegehren auseinandergesetzt hat (vgl. Göbel-Zimmermann/Skrzypczak, Die Untätigkeitsklage im asylgerichtlichen Verfahren, ZAR 2016, 357, 363 ff.). Im Falle des sog. Durchentscheidens würde dem Betroffenen auch in der vorliegenden Konstellation die Tatsacheninstanz mit der inhaltlichen Überprüfung der Entscheidung des Bundesamtes genommen. Ausgehend vom Gewaltenteilungsgrundsatz gehört es aber gerade zur Kernkompetenz des Verwaltungsgerichts, staatliche Entscheidungen zu überprüfen. Mit Blick auf den Grundsatz der Gewaltenteilung (Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG) begegnete es erheblichen rechtlichen Bedenken, würde eine gerichtliche Entscheidung über die materiellen asylrechtlichen Voraussetzungen ohne vorangegangene behördliche Entscheidung getroffen. Das Verwaltungsgericht befände in dieser Konstellation anstelle des für die Entscheidung über Asylanträge zuständigen Bundesamtes sachlich über den Asylantrag. Hiermit würde es die gemäß Art. 20 Abs. 2 Satz 2 GG verfassungsrechtlich der Exekutive und gemäß § 5 AsylG einfachgesetzlich dem Bundesamt zugewiesene Aufgabe der Vollziehung des Asylgesetzes, mithin der Sache nach exekutive Tätigkeiten wahrnehmen, und nicht lediglich eine bereits vom Bundesamt getroffene Sachentscheidung im Rahmen der Rechtsprechungstätigkeit überprüfen (vgl. BVerwG, U.v. 7.3.1995 – 9 C 264.94 – juris Rn. 15 u.a. auch mit Verweis auf den in § 113 Abs. 3 VwGO enthaltenen Rechtsgedanken, dass die Verwaltungsgerichte auch bei der Kontrolle eines rechtlich gebundenen Verwaltungsakts nicht in jedem Falle selbst die Spruchreife herbeiführen müssen, sondern bei erheblichen Aufklärungsdefiziten zunächst der Behörde Gelegenheit geben können, eine den Streitstoff erschöpfende Sachentscheidung zu treffen). Der Wortlaut des Art. 32 Abs. 1 der EU-Verfahrensrichtlinie 2013/32/EU, wonach die Mitgliedstaaten einen Antrag nur dann als unbegründet betrachten können, wenn die „Asylbehörde“ – und nicht das „Gericht“ (siehe Art. 2 lit. f der EU-Verfahrensrichtlinie 2013/32/EU) – festgestellt hat, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des internationalen Schutzes nicht vorliegen, sowie der Wortlaut des Art. 34 Abs. 1 S. 1 der EU-Verfahrensrichtlinie 2013/32/EU, wonach die „Asylbehörde über die Zulässigkeit eines Antrags auf internationalen Schutz entscheidet“, stützen diese Betrachtungsweise.
2. Die Klage ist auch begründet.
Der Anspruch der Klägerinnen auf eine Entscheidung über ihre Asylanträge folgt aus §§ 3 ff. AsylG und Art. 16a Abs. 1 GG (§ 113 Abs. 5 Satz 2 i.V.m. Satz 1 VwGO).
Es ist nicht nötig, der Beklagten eine Frist für die Entscheidung über den Asylantrag zu setzen (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 11.7.2018 – 1 C 18/17 – juris Rn. 56 f.). Denn § 75 VwGO sieht eine Fristsetzung ausdrücklich nur in den Fällen vor, in denen ein zureichender Grund für die Nichtbescheidung besteht. Besteht ein solcher Grund nicht, ist die Behörde nach Ablauf der angemessenen Entscheidungsfrist nach § 75 Satz 1 VwGO gehalten, unverzüglich zu entscheiden (BVerwG, a.a.O.).
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden nicht erhoben (§ 83b AsylG).
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.


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