Verwaltungsrecht

Unzulässigkeitsentscheidung wegen Gewährung internationalen Schutzes in einem anderen Mitgliedstaat

Aktenzeichen  M 21 S 18.33539

Datum:
24.9.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 23368
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5
AsylG § 29 Abs. 1 Nr. 2, § 31 Abs. 3, § 35, § 36 Abs. 4, § 77 Abs. 2
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
RL 2011/95/EU Art. 20
Dublin III-VO Art. 34
GRCh Art. 4
EMRK Art. 3

 

Leitsatz

1. Bei der Prüfung, ob ein Fall des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG vorliegt, darf sich das Bundesamt nicht allein auf die Angaben der Antragsteller zum Verlauf von Asylverfahren in anderen Mitgliedstaaten stützen. Mit dem vom Bundesamt grundsätzlich zu nutzenden, sogenannten Info-Request nach Art. 34 Dublin III-VO ist unter den Mitgliedstaaten ein beschleunigtes Informationsaustauschsystem eingeführt worden, dessen Möglichkeiten zur Informationsgewinnung den Verwaltungsgerichten nicht offen stehen. (Rn. 20) (redaktioneller Leitsatz)
2. Die Ausgestaltung des internationalen Schutzes in Italien, namentlich die dortigen Lebensbedingungen für subsidiär Schutzberechtigte, verstößt nicht gegen Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK. Selbst im Fall der Bejahung eines über Art. 4 GRCh bzw. Art. 3 EMRK hinausgehenden Schutzbedarfs ergibt sich nicht die Notwendigkeit eines weiteren Asylverfahrens, weil sich als Alternative hierzu eine aufenthaltsrechtliche Lösung bietet. (Rn. 23 – 26) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Antrag wird abgelehnt.
II. Der Antragsteller hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.

Gründe

I.
Der Antragsteller, der bislang weder Personalpapiere noch andere Identitätsnachweise seines Herkunftslands vorlegte, ist nach eigenen Angaben ein in Lagos geborener Staatsangehöriger der Bundesrepublik Nigeria christlichen Glaubens.
Er stellte am 28. August 2017 bei der Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (kurz: Bundesamt) in Manching einen Asylantrag.
Zur Niederschrift über das persönliche Gespräch zur Bestimmung des zuständigen Mitgliedstaats zur Klärung der Zulässigkeit des gestellten Asylantrags gab der Antragsteller am 28. August 2017 gegenüber dem Bundesamt insbesondere an, er habe in Italien internationalen Schutz beantragt und zuerkannt bekommen.
Zur Niederschrift über die Anhörung am 30. August 2017 machte der Antragsteller gegenüber dem Bundesamt Angaben zu seinem Verfolgungsschicksal und führte dabei insbesondere aus, er habe in Dänemark, Island, Schweden, der Schweiz und Deutschland Asylanträge gestellt. In Italien habe er Schutz und eine Aufenthaltserlaubnis bekommen. Seine Reisepapiere habe er vernichtet, damit ihn keiner mehr nach Italien zurück schicken könne. In Nigeria hätten ihm Leute von der Mafia nach dem Leben getrachtet.
Am 17. Mai 2018 (Bl. 227 ff. der Bundesamtsakte) übermittelte das Bundesamt insbesondere der zuständigen Behörde der Republik Italiens unter Angabe von EURODAC-Treffern (IT1RM27LD6; IT1RM2AR28) ein auf Art. 34 der Verordnung (EG) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl EG Nr. L 180 S. 31) – Dublin III-VO – gestütztes Informationsersuchen hinsichtlich des Antragstellers. Die Republik Italien regierte darauf nicht.
Der Antwort der zuständigen isländischen Behörde auf das Informationsersuchen des Bundesamts war die Kopie der englischsprachigen Antwort der zuständigen Dublin-Einheit der Republik Italien vom 31. Juli 2017 (Bl. 260 der Bundesamtsakte) auf ein Wiederaufnahmegesuch beigefügt, das Island hinsichtlich des Antragstellers an die Republik Italien gerichtet hatte. In ihrer Antwort führte die Dublin-Einheit des italienischen Innenministeriums insbesondere aus, der Antragsteller habe in Italien internationalen Schutz und eine in Rom ausgestellte Aufenthaltserlaubnis wegen subsidiären Schutzes erhalten, die bis zum 7. April 2020 gültig sei.
Der Antwort der zuständigen schwedischen Behörde auf das Informationsersuchen des Bundesamts war die Kopie der englischsprachigen Antwort der zuständigen Dublin-Einheit der Republik Italien vom 6. August 2015 (Bl. 269 der Bundesamtsakte) auf ein Wiederaufnahmegesuch beigefügt, welches das Königreich Schweden hinsichtlich des Antragstellers an die Republik Italien gerichtet hatte. In ihrer Antwort führte die Dublin-Einheit des italienischen Innenministeriums insbesondere aus, der Antragsteller habe subsidiären Schutz in Italien erhalten.
Mit Bescheid vom 11. September 2018 lehnte das Bundesamt den Asylantrag des Antragstellers als unzulässig ab (Ziffer 1.), verneinte Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG (Ziffer 2.) und drohte ihm mit einer Ausreisefrist von einer Woche die Abschiebung nach Italien an (Ziffer 3.). Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, der Asylantrag sei unzulässig, weil dem Antragsteller in Italien im Rahmen des dortigen Asylverfahrens internationaler Schutz gewährt worden sei. Das ergebe sich insbesondere aus der schriftlichen Bestätigung der italienischen Behörden vom 31. Juli 2017. Abschiebungsverbote lägen nicht vor. Der Antragsteller habe insbesondere nichts dazu vorgelegt, dass ihm in Italien Folter oder eine unmenschliche bzw. erniedrigende Behandlung oder Bestrafung drohe. Die derzeitigen humanitären Bedingungen in Italien führten nicht zu der Annahme, dass bei Abschiebung des Antragstellers eine Verletzung des Art. 3 EMRK vorliege. Die Situation von Schutzberechtigten in Italien habe sich im Vergleich zu vorherigen Jahren im Jahr 2017 deutlich verbessert. Die vorhandenen Mängel begründeten keine grundlegenden Defizite des Unterkunftssystems in Italien. Wie italienische Bürger hätten Schutzberechtigte die Möglichkeit, dort zu arbeiten. Nach dem Urteil des OVG Lüneburg vom 6. April 2018 wiesen Asylverfahren und Aufnahmebedingungen für Flüchtlinge in Italien keine schwerwiegenden, systemischen Mängel auf. Auch individuelle Gefahren kämen nicht in Betracht. Der Antragsteller gehöre nicht zu einem vulnerablen Personenkreis, sondern zur Gruppe der erwerbsfähigen jungen Männer. Es drohe ihm auch keine individuelle Gefahr für Leib oder Leben, die zur Verstellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 AufenthG führen würde. Die Abschiebungsandrohung sei nach §§ 35, 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG zu erlassen gewesen. Die Ausreisefrist von einer Woche ergebe sich aus § 36 Abs. 1 AsylG.
Am 17. September 2018 ließ der Antragsteller beim Bayerischen Verwaltungsgericht München Klage erheben und beantragen, den Bundesamtsbescheid vom 11. September 2018 aufzuheben und die Antragsgegnerin zu verpflichten, ihn als Asylberechtigten anzuerkennen und ihm die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen, hilfsweise, ihm subsidiären Schutz zu gewähren, hilfsweise, festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
Über die Klage (M 21 K 18.33526) ist noch nicht entschieden.
Zugleich ließ der Antragsteller am 17. September 2018 beim Bayerischen Verwaltungsgericht München beantragen,
die aufschiebende Wirkung seiner Klage anzuordnen.
Zur Klage- und Antragsbegründung ließ der Antragsteller durch Schriftsatz vom 17. September 2018 auf seine Angaben gegenüber dem Bundesamt Bezug nehmen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakten zu Eil- und Klageverfahren und auf die vorgelegte Behördenakte Bezug genommen.
II.
Der Eilantrag ist zwar zulässig, aber unbegründet.
Insbesondere in den Fällen der Unzulässigkeit eines Asylantrags nach § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG – wenn also ein anderer Mitgliedstaat der Europäischen Union dem Ausländer bereits internationalen Schutz gewährt hat – darf die Aussetzung der Abschiebung im Rahmen eines Eilverfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO wegen § 36 Abs. 4 Satz 1 AsylG nur angeordnet werden, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angegriffenen Verwaltungsakts, hier der Abschiebungsandrohung, bestehen. Solche „ernstlichen Zweifel“ liegen dann vor, wenn erhebliche Gründe dafür sprechen, dass die Maßnahme einer rechtlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhält (vgl. BVerfG, U.v. 14.5.1996 – 2 BvR 1516/93 – juris Rn. 99). Diese Einschätzung ist hier nicht gerechtfertigt.
Zur näheren Begründung wird auf die Gründe des angefochtenen Bundesamtsbescheids Bezug genommen (vgl. § 77 Abs. 2 AsylG).
Ergänzend ist Folgendes auszuführen.
Insbesondere in den Fällen des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG droht das Bundesamt dem Ausländer die Abschiebung in den Staat an, in dem er vor Verfolgung sicher war (§ 35 AsylG). Nach hinreichender Sachverhaltsermittlung des Bundesamts bestehen keine ernstlichen Zweifel daran, dass beim Antragsteller zu Recht ein Fall des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG angenommen worden ist. Im Einzelnen:
Das Bundesverwaltungsgericht hat zwar durch Urteil vom 21. November 2017 (- 1 C 39.16 – Leitsatz) unter Hinweis auf verschiedene, zur Sachverhaltsermittlung in Betracht kommende Wege entschieden, dass die Verwaltungsgerichte den Sachverhalt aufklären müssen, wenn in einem Asylverfahren zweifelhaft ist, ob dem Schutzsuchenden bereits in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union internationaler Schutz gewährt worden ist. Davon abgesehen, dass dieses Urteil im Anschluss an asylrechtliche Hauptsacheverfahren ergangen ist, so dass aus ihm keine (erhöhten) Anforderungen an die Amtsermittlung des Verwaltungsgerichts in einem Eilverfahren wie dem vorliegenden abzuleiten sind (vgl. dementsprechend auch § 36 Abs. 3 Sätze 4 und 5 AsylG), hat das erkennende Gericht schon keine ernstlichen Zweifel daran, dass dem Antragsteller in Italien internationaler Schutz gewährt worden ist.
Bei der Prüfung, ob ein Fall des § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG vorliegt, darf sich das Bundesamt nicht allein auf die Angaben der Antragsteller zum Verlauf von Asylverfahren in anderen Mitgliedstaaten stützen. Denn diese haben in aller Regel den Verfahrensablauf nicht durchschaut und können dazu deshalb auch keine verlässlichen Angaben machen (vgl. nur BayVGH, U.v. 3.12.2015 – 13a B 15.50069 u.a. – juris Rn. 22 m.w.N.). Mit dem vom Bundesamt grundsätzlich zu nutzenden, sogenannten Info-Request nach Art. 21 Dublin-II-VO bzw. Art. 34 Dublin-III-VO ist unter den Mitgliedstaaten ein beschleunigtes Informationsaustauschsystem eingeführt worden, dessen Möglichkeiten zur Informationsgewinnung den Verwaltungsgerichten nicht offen stehen (vgl. nur BayVGH, U.v. 20.10.2016 – 20 B 14.30320 – juris Rn. 29, 41 m.w.N.).
Das Bundesamt hat von der Republik Italien zwar keine Antwort auf sein Info-Request erhalten. Das Bundesamt hat aber ausnahmsweise nach den besonderen Umständen des Einzelfalls tragfähig darauf schließen dürfen, dass dem Antragsteller in Italien internationaler Schutz gewährt worden ist. Das ergibt sich unzweifelhaft insbesondere aus der englischsprachigen Antwort der zuständigen Dublin-Einheit der Republik Italien vom 31. Juli 2017 auf das damalige Wiederaufnahmegesuch Islands hinsichtlich des Antragstellers.
Sachliche Einschränkungen der somit durch § 29 Abs. 1 Nr. 2 AsylG ermöglichten Unzulässigkeitsentscheidung sind nicht etwa aus Gründen vorrangigen Unionsrechts veranlasst.
Die Ausgestaltung des internationalen Schutzes in Italien, namentlich die dortigen Lebensbedingungen für subsidiär Schutzberechtigte, verstößt nicht gegen Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK.
Das Gericht schließt sich zu diesen allgemeinen Verhältnissen in Italien vollumfänglich den tatsächlichen Feststellungen des Urteils des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts vom 6. April 2018 (10 LB 109/18 – juris) an. Es teilt auch die rechtlichen Schlussfolgerungen dieser Entscheidung. In Italien sind Ausländer, die dort als subsidiär Schutzberechtigte anerkannt worden sind, italienischen Staatsangehörigen gleichgestellt. Es wird also von ihnen grundsätzlich erwartet, dass sie selbst für ihre Unterbringung und ihren Lebensunterhalt sorgen. Das ist nicht menschenrechtswidrig und entspricht im Übrigen auch den Vorgaben der Richtlinie 2011/95/EU.
Selbst wenn die Lebensbedingungen für subsidiär Schutzberechtigte in Italien – wovon das Gericht nicht ausgeht – den Anforderungen der Art. 20 ff. der Richtlinie 2011/95/EU nicht genügten, ohne bereits gegen Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK zu verstoßen, stünde dies in Übereinstimmung mit der Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts der Ablehnung des Asylantrags als unzulässig nicht entgegen.
In einer solchen Situation würde durch die Annahme des Anspruchs auf ein weiteres Anerkennungsverfahren zum einen das gemeinsame europäische Asylsystem und das ihm zugrunde liegende gegenseitige Vertrauen unterlaufen. Sie würde die schon in erheblichem Umfang stattfindende Sekundärmigration von Schutzberechtigten und das sogenannte „asylum shopping“ fördern, deren Verhinderung eines der Ziele des gemeinsamen europäischen Asylsystems ist. Zum anderen ergibt sich selbst im Fall der Bejahung eines über Art. 4 GRC bzw. Art. 3 EMRK hinausgehenden Schutzbedarfs nicht die Notwendigkeit eines weiteren Asylverfahrens, weil sich als Alternative hierzu eine aufenthaltsrechtliche Lösung bietet (vgl. zu all dem BVerwG, B.v. 27.6.2017 – 1 C 26/16 – juris Rn. 32 ff.).
Auch unter Berücksichtigung seiner individuellen Situation kann der Antragsteller als junger, gesunder und erwerbsfähiger Mann kein nationales Abschiebungsverbot für sich in Anspruch nehmen, das vorliegend nur als materiell-rechtliche Voraussetzung der Abschiebungsandrohung, gegen die sich die in der Hauptsache allein statthafte Anfechtungsklage richtet, zu prüfen ist (vgl. Berlit, NVwZ-Extra 6/2018, S. 10).
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 80 AsylG).

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