Verwaltungsrecht

Versagung vorläufigen Rechtsschutzes einer iranischen Staatsangehörigen gegen aufenthaltsbeendende Maßnahmen

Aktenzeichen  AN 5 E 20.00349

Datum:
31.3.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 7128
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Ansbach
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 123
AufenthG § 25b, § 60a Abs. 2, § 81
GG Art. 6
EMRK Art. 8

 

Leitsatz

1. Art. 6 GG gewährt keinen selbständigen Anspruch auf Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet; die in Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach der der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, entfaltet hingegen aufenthaltsrechtliche Schutzwirkungen und verpflichtet die Ausländerbehörde, bei aufenthaltsrechtlichen Entscheidungen die bestehenden familiären Bindungen des Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten, zu berücksichtigen und entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen (BVerfG BeckRS 2005, 31114). (Rn. 20) (red. LS Clemens Kurzidem)
2. Erfüllt die Familie die Funktion einer Beistandsgemeinschaft, weil ein Familienmitglied auf die Lebenshilfe eines anderen Familienmitglieds angewiesen ist, und kann dieser Beistand nur in Deutschland erbracht werden, so kann dies zur Unverhältnismäßigkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen führen (BVerfG BeckRS 2010, 56848). (Rn. 20) (red. LS Clemens Kurzidem)
3. Der besondere verfassungs- und völkerrechtliche Schutz aus Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 8 Abs. 1 EMRK setzt voraus, dass sich der Ausländer nachhaltig in Deutschland integriert und zugleich nachhaltig von seinem Heimatstaat entfremdet hat. Zudem kommt eine nach Art. 8 Abs. 1 EMRK schützenswerte Verwurzelung des Ausländers grundsätzlich nur auf der Grundlage eines rechtmäßigen Aufenthalts und des Vertrauens auf den Fortbestand des Aufenthalts in Betracht (VGH München BeckRS 2017, 119292). (Rn. 24) (red. LS Clemens Kurzidem)
4. Außerhalb des Anwendungsbereichs des § 81 Abs. 3, 4 AufenthG muss der Ausländer Ansprüche auf Erteilung eines Aufenthaltstitels vom Ausland aus verfolgen (VGH München BeckRS2019, 12015). Es widerspräche daher der durch §§ 50, 58, 81 AufenthG vorgegebenen Systematik und Konzeption des Aufenthaltsgesetzes, nach der für die Dauer des Erteilungsverfahrens nur unter den in § 81 Abs. 3, 4 AufenthG geregelten Voraussetzungen ein vorläufiges Bleiberecht besteht, darüber hinaus derartige “Vorwirkungen” anzuerkennen (VGH München BeckRS 2018, 32939). (Rn. 31) (red. LS Clemens Kurzidem)
5. Eine aktuell nicht bestehende Duldung steht einem etwaigen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG entgegen, denn § 35b AufenthG setzt das Bestehen einer materiellen der formellen Duldung zum Entscheidungszeitpunkt voraus (BVerwG BeckRS 2019, 37863). (Rn. 33) (red. LS Clemens Kurzidem)

Tenor

1. Der Antrag wird abgelehnt.
2. Die Antragstellerin hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
3. Der Streitwert wird auf 1.250,00 EUR festgesetzt.

Gründe

I.
Die Antragstellerin begehrt im einstweiligen Rechtsschutzverfahren sinngemäß die Verpflichtung der Antragsgegnerin auf Erteilung einer Duldung gemäß § 60a AufenthG.
Die … 1962 geborene Antragstellerin ist ausweislich ihres mittlerweile vorliegenden Passes iranische Staatsangehörige. Sie reiste am 15. August 1996 zusammen mit ihrem irakischen Ehemann und ihren drei in den Jahren 1987, 1989 und 1993 geborenen Kindern unter dem Namen … … …, irakische Staatsangehörige, in das Bundesgebiet ein. Die Asylanträge der Antragstellerin und ihrer Familienmitglieder wurden mit Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge (Bundesamt) vom 22. Oktober 1996 abgelehnt. Es wurde festgestellt, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich des Irak vorlagen. Der Klägerin wurde daraufhin eine Aufenthaltsbefugnis nach § 30 AuslG erteilt. Mit Bescheid des Bundesamtes vom 15. September 2004 wurde diese Feststellung widerrufen. Die Klage gegen den Widerruf (Az.: AN 9 K 04.31765) blieb erfolglos. Im Zusammenhang mit einer am 21. November 2005 beantragten Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis wurde der Antragstellerin zunächst eine Fiktionsbescheinigung gem. § 81 Abs. 4 AufenthG ausgestellt. Ab 27. Juni 2008 war die Antragstellerin geduldet, bis ihr am 23. Juli 2008 eine zuletzt bis 31. Dezember 2011 gültige Aufenthaltserlaubnis nach § 104a AufenthG erteilt wurde.
Mit Bescheid vom 7. Oktober 2013 lehnte die Antragsgegnerin den am 16. November 2011 gestellten Antrag auf Verlängerung eines Aufenthaltstitels ab. Die Antragstellerin wurde aufgefordert, das Bundesgebiet bis spätestens 10. November 2013 zu verlassen. Andernfalls wurde die Abschiebung in den Irak angedroht. Die Nichterteilung des Aufenthaltstitels erfolgte im Hinblick auf den nicht gesicherten Lebensunterhalt und die Nichterfüllung der Passpflicht. Der Bescheid ist nach erfolglosem Eilrechtsschutz vor dem Bayerischen Verwaltungsgericht Ansbach und dem Bayerischen Verwaltungsgerichtshof (Az.: AN 5 S 13.01826 bzw. 19 CS 14.378) und erfolgloser Klage (Az.: AN 5 K 13.01827) seit 23. Dezember 2014 rechtskräftig.
Von 24. September 2014 bis 23. Februar 2020 war die Antragstellerin aufgrund Passlosigkeit und dem Umstand, dass sie dem (vermeintlich) nicht rückführbaren Personenkreis angehörte, geduldet. Der irakische Ehemann der Antragstellerin ist wegen Zugehörigkeit zum nicht rückführbaren Personenkreis aktuell ebenfalls geduldet.
Am 4. März 2019 beantragte der Bevollmächtigte der Antragstellerin bei der Antragsgegnerin die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. In diesem Zusammenhang legte die Antragstellerin am 12. März 2019 einen am 16. November 2015 ausgestellten iranischen Reisepass vor. Gestützt wurde der Antrag auf § 104a Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Zwar sei die Verlängerung des Aufenthaltstitels mit Bescheid vom 7. Oktober 2013 abgelehnt worden. Die Antragstellerin habe aber nunmehr die damals fehlenden Voraussetzungen eines Passes und der Lebensunterhaltssicherung erbracht. Sie habe sich viele Jahre um einen irakischen Nationalpass bemüht. Schließlich sei ihr mitgeteilt worden, dass sie keine irakische Staatsangehörige sei, obwohl sie sich durchgehend im Irak aufgehalten habe. Vielmehr sei die Antragstellerin iranische Staatsangehörige. Sie habe sich daraufhin an die iranischen Behörden gewandt und von dort einen Nationalpass erhalten.
Über den Antrag auf Erteilung der Aufenthaltserlaubnis wurde bislang noch nicht entschieden. Am 21. Februar 2020 wurde der Antragstellerin eine Grenzübertrittsbescheinigung ausgehändigt, in der sie zu einer unverzüglichen Ausreise aufgefordert wurde.
Mit Schriftsatz vom 26. Februar 2020 hat der Bevollmächtigte beantragt,
im Wege der einstweiligen Anordnung festzustellen, dass die Antragstellerin das Bundesgebiet nicht verlassen muss.
Zur Begründung führte der Antragstellerbevollmächtigte im Wesentlichen aus, die Antragstellerin habe einen Anspruch auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis. Der Ehemann und die drei Töchter lebten legal und integriert in der Bundesrepublik Deutschland. Die Antragstellerin habe eine dauerhafte Anstellung gefunden und ein Legitimationspapier vorgelegt. In der Vergangenheit habe sie nicht über ihre Personalien getäuscht; die Abweichungen der Personalien zwischen ihren eigenen Angaben und den Daten im iranischen Nationalpass ergäben sich aus der Familiengeschichte der Antragstellerin: Sie sei unstreitig in Bagdad geboren und gehöre dem Volksstamm der Kurd Vaylei an, der ursprünglich aus dem Iran stamme. Die Klägerin selbst habe von Geburt an im Irak gelebt. Über viele Jahre habe sie erfolglos versucht, über die irakischen Behörden einen Pass zu erhalten. Von dort sei die Antragstellerin schließlich an die Behörden im Iran verwiesen worden, wo ihr ein Pass ausgestellt worden sei. Bei dem im Pass eingetragenen Familiennamen handele es sich mutmaßlich um den früheren Namen der Familie, welcher der Antragstellerin nicht bekannt gewesen sei. Vorname, Vatersname und Geburtsort seien mit den Angaben der Antragstellerin identisch.
Die Antragstellerin lebe seit 25 Jahren in der Bundesrepublik Deutschland, spreche die deutsche Sprache und sei erwerbstätig. Ihre gesamte Familie befinde sich im Bundesgebiet. Sie habe keinerlei Bezug zum Iran, habe dort niemals gelebt und spreche nicht einmal die persische Sprache.
Mit Schriftsatz vom 18. März 2020 hat die Antragsgegnerin erwidert und Antragsablehnung beantragt. Zur Begründung wurde im Wesentlichen ausgeführt, die Antragstellerin habe über Jahre hinweg über ihre wahren Personalien und ihre Staatsangehörigkeit getäuscht. Mit Strafbefehl des Amtsgerichts … vom 29. Oktober 2019 sei sie wegen Erschleichen einer Duldung in vier Fällen zu einer Gesamtgeldstrafe in Höhe von 100 Tagessätzen zu je 10,00 EUR verurteilt worden. Es sei beabsichtigt, die Antragstellerin auszuweisen. Hinsichtlich des Iran seien keine Asylgründe vorgetragen worden. Duldungsgründe seien ebenfalls nicht ersichtlich. Auch die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis, insbesondere nach § 25b AufenthG, komme wegen Nichterfüllung der speziellen und allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen nicht in Betracht. Ungeachtet der beabsichtigten Ablehnung der Aufenthaltserlaubnis sei die Antragstellerin vollziehbar ausreisepflichtig und es sei ihr zumutbar, mit ihrem Ehemann in den Irak bzw. den Iran auszureisen. Die Konkretisierung des Zielstaates werde per Änderungsbescheid oder im Rahmen einer neuen Abschiebungsandrohung erfolgen.
Bezüglich der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die Gerichtsakte und die beigezogene Behördenakte verwiesen.
II.
Der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung, mit der der Antragsgegnerin untersagt wird, aufenthaltsbeendende Maßnahmen gegen die Antragstellerin zu vollziehen, ist zulässig, aber unbegründet.
Gemäß § 123 Abs. 1 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung in Bezug auf den Streitgegenstand treffen, wenn die Gefahr besteht, dass durch eine Veränderung des bestehenden Zustands die Verwirklichung eines Rechts des Antragstellers vereitelt oder wesentlich erschwert werden könnte. Einstweilige Anordnungen sind auch zur Regelung eines vorläufigen Zustands in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis zulässig, wenn diese Regelung, vor allem bei dauernden Rechtsverhältnissen, um wesentliche Nachteile abzuwenden oder drohende Gewalt zu verhindern oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Dabei hat der Antragsteller sowohl die Notwendigkeit einer vorläufigen Regelung, den Anordnungsgrund, als auch das Bestehen eines zu sichernden Rechts, den Anordnungsanspruch, glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i.V.m. § 920 Abs. 2 ZPO).
Zwar ist im vorliegenden Fall im Hinblick auf die ausgestellte Grenzübertrittsbescheinigung und die Aufforderung zur unverzüglichen Ausreise von einem Anordnungsgrund auszugehen.
Der für den Erlass einer einstweiligen Anordnung nach § 123 Abs. 1 VwGO erforderliche Anspruch auf vorübergehende Aussetzung der Abschiebung (Duldung) gem. § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG wurde jedoch nicht glaubhaft gemacht. Nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG ist die Abschiebung eines vollziehbar ausreisepflichtigen Ausländers auszusetzen, solange die Abschiebung aus tatsächlichen oder rechtlichen Gründen unmöglich ist und keine Aufenthaltserlaubnis erteilt wird. Diese Voraussetzungen sind vorliegend nicht gegeben.
Die Antragstellerin ist gemäß § 50 Abs. 1 AufenthG ausreisepflichtig, da sie den gemäß § 4 Abs. 1 Satz 1 AufenthG für den Aufenthalt im Bundesgebiet erforderlichen Aufenthaltstitel nicht besitzt.
Die Ausreisepflicht ist vorliegend gemäß § 58 Abs. 2 Satz 2 AufenthG auch vollziehbar aufgrund der im Bescheid der Antragsgegnerin vom 7. Oktober 2013 verfügten und mittlerweile bestandskräftigen Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung. Dass die Abschiebungsandrohung insbesondere bezüglich des Irak erfolgte, begründet nicht deren Unwirksamkeit, da explizit auch die Abschiebung in andere Staaten angedroht wurde, in die die Antragstellerin einreisen darf bzw. die zu ihrer Übernahme verpflichtet sind.
Tatsächliche oder rechtliche Gründe, die die Abschiebung unmöglich machen würden, wurden nicht substantiiert dargelegt und sind auch nicht ersichtlich. Insbesondere bestehen keine Duldungsansprüche aus Art. 6 Abs. 1 GG (1), aus Art. 8 Abs. 1 EMRK (2) oder aufgrund des noch nicht verbeschiedenen Antrags auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis (3).
1. Die Antragstellerin hat keinen Anspruch auf Aussetzung der Abschiebung im Hinblick auf den verfassungsrechtlich gewährleisteten Schutz der Familie nach Art. 6 Abs. 1 GG glaubhaft gemacht.
Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts gewährt Art. 6 GG keinen selbständigen Anspruch auf Einreise und Aufenthalt im Bundesgebiet; die in Art. 6 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 GG enthaltene wertentscheidende Grundsatznorm, nach welcher der Staat die Familie zu schützen und zu fördern hat, entfaltet jedoch aufenthaltsrechtliche Schutzwirkungen und verpflichtet die Ausländerbehörde, bei der Entscheidung über ein Aufenthaltsbegehren die bestehenden familiären Bindungen des Ausländers an Personen, die sich berechtigterweise im Bundesgebiet aufhalten zu berücksichtigen und entsprechend dem Gewicht dieser Bindungen in ihren Erwägungen zur Geltung zu bringen (BVerfG, B.v. 8.12.2005 – 2 BvR 1001/04 – juris Rn. 17 ff.). Erfüllt die Familie die Funktion einer Beistandsgemeinschaft, weil ein Familienmitglied auf die Lebenshilfe eines anderen Familienmitglieds angewiesen ist, und kann dieser Beistand nur in Deutschland erbracht werden, so kann dies zur Unverhältnismäßigkeit aufenthaltsbeendender Maßnahmen führen (vgl. BVerfG, B.v. 17.5.2011 – 2 BvR 2625/10 – juris Rn.5). Bei der Prüfung schutzwürdiger familiärer Belange ist grundsätzlich eine Betrachtung des Einzelfalles geboten (BVerfG, B.v. 23.1.2006 – 2 BvR 1935/05 – juris Rn. 16).
Im vorliegenden Fall ist eine rechtliche Unmöglichkeit der Abschiebung im Hinblick auf Art. 6 GG nicht glaubhaft gemacht. Die Kinder der Antragstellerin sind mittlerweile volljährig und nach Aktenlage nicht auf die Hilfe ihrer Eltern angewiesen.
Zwar lebt die Antragstellerin mit ihrem Ehemann zusammen. Auch dieser hält sich aber nicht berechtigterweise im Bundesgebiet auf; vielmehr ist der Ehemann lediglich geduldet. Seine Abschiebung scheitert allein an der mangelnden Übernahmebereitschaft des Aufnahmestaates Irak. Einer freiwilligen Ausreise des Ehemannes steht dies aber nicht entgegen. Nachdem insofern beide Ehepartner ausreisepflichtig sind, ist es ihnen zumutbar, die familiäre Lebensgemeinschaft im Ausland zu führen. Wird die Antragstellerin abgeschoben, kann die familiäre Lebensgemeinschaft durch eine freiwillige Ausreise des Ehemannes zeitnah wiederhergestellt werden. Umstände, weshalb die Ehe nicht auch außerhalb des Bundesgebietes gelebt werden kann, wurden nicht glaubhaft gemacht.
2. Das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit nach Art. 2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG und auf Privatleben nach Art. 8 Abs. 1 EMRK begründet vorliegend nach summarischer Prüfung ebenfalls keinen Duldungsanspruch der Antragstellerin.
Eine den verfassungs- und völkerrechtlichen Schutz auslösende Verbindung mit der Bundesrepublik Deutschland als Aufnahmestaat kommt grundsätzlich für solche Ausländer in Betracht, die aufgrund eines Hineinwachsens in die hiesigen Verhältnisse bei gleichzeitiger Entfremdung von ihrem Heimatland so eng mit der Bundesrepublik Deutschland verbunden sind, dass sie gewissermaßen deutschen Staatsangehörigen gleichgestellt werden können, während sie mit ihrem Heimatland im Wesentlichen nur noch das formale Band ihrer Staatsangehörigkeit verbindet (BVerwG, U.v. 29.9.1998 – 1 C 8.96 – juris Rn. 30; VGH BW, U.v. 13.12.2010 – 11 S 2359/10 – juris Rn. 27; BayVGH, B.v. 3.7.2017 – 19 CS 17.551 – juris Rn. 10; VGH BW, B.v. 2.3.2020 – 11 S 2293/18 – juris Rn. 30). Der Ausländer muss bei gleichzeitiger Entfremdung vom Heimatstaat im Bundesgebiet ein Leben führen, das durch persönliche, soziale und wirtschaftliche Beziehungen so geprägt ist, dass ihm das Verlassen des Bundesgebiets nicht zugemutet werden kann (BVerwG, U.v. 16.7.2002 – 1 C 8.02 – juris Rn. 23). Der besondere verfassungs- und völkerrechtliche Schutz setzt damit zum einen voraus, dass sich der Ausländer in Deutschland nachhaltig integriert hat, zum anderen bedarf es einer nachhaltigen Entfremdung vom Heimatstaat. Zudem kommt eine nach Art. 8 Abs. 1 EMRK schützenswerte Verwurzelung eines Ausländers grundsätzlich nur auf der Grundlage eines rechtmäßigen Aufenthalts und eines Vertrauens auf den Fortbestand des Aufenthalts in Betracht (vgl. BVerwG, U.v. 26.10.2010 – 1 C 18.09 – juris Rn. 14; ebenso BayVGH, B.v. 3.7.2017 – 19 CS 17.551 – juris Rn. 11 m.w.N.).
Dies zugrunde gelegt kann die Antragstellerin einen Duldungsanspruch nicht aus Art. 8 Abs. 1 EMRK herleiten. Zwar lebt die Antragstellerin bereits seit August 1996 in der Bundesrepublik: Sie war zur Asylantragstellung ins Bundesgebiet eingereist und erhielt nach widerrufener Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich Irak einen Aufenthaltstitel nach § 104a AufenthG bzw. Duldungen. Sowohl der Aufenthaltstitel, als auch die anschließenden Duldungen waren aber stets befristet, sodass bei der Antragstellerin kein Vertrauen auf den dauerhaften Fortbestand des Aufenthalts in der Bundesrepublik entstehen durfte. Dies gilt umso mehr, als die Antragstellerin ihre Duldungen seit November 2015 durch Vorenthalten ihres Passes erschlichen hat.
Im Übrigen ist auch nicht von einer nachhaltigen, in besonderem Maße schützenswerten Integration der Antragstellerin auszugehen. So scheiterte die Verlängerung der Aufenthaltserlaubnis nach § 104a AufenthG seit 2011 unter anderem an einem nicht gesicherten Lebensunterhalt der Antragstellerin. Dieser Umstand spricht gegen eine nachhaltige wirtschaftliche Integration.
Noch schwerer wiegt aber, dass die Antragstellerin ihre wahre Staatsangehörigkeit zunächst nicht preisgegeben und einen ihr seit November 2015 vorliegenden iranischen Pass erst im Rahmen der Neubeantragung einer Aufenthaltserlaubnis im Jahr 2019 vorgelegt hat. In diesem Zusammenhang wurde die Antragstellerin auch mit Strafbefehl des Amtsgerichts … vom 29. Oktober 2019 wegen Erschleichens von Duldungen zu einer Gesamtgeldstrafe in Höhe von 100 Tagessätzen verurteilt. Die Nichtachtung der Gesetze in Deutschland spricht gegen eine soziale Integration. Es kann insofern dahingestellt bleiben, ob die Antragstellerin zunächst selbst von der Richtigkeit ihrer ursprünglich gemachten Angaben in Bezug auf Name und Staatsangehörigkeit ausgegangen ist. Spätestens in dem Zeitpunkt, in dem sie sich erfolgreich um einen Pass bemüht hatte, wäre sie zur Offenlegung der Umstände verpflichtet gewesen.
Bezüglich schützenswerter sozialer Bindungen in der Bundesrepublik ist außer den Kontakten zum Ehemann und den mittlerweile volljährigen Kindern nichts vorgetragen oder ersichtlich. Auf Basis dieser Umstände ist eine hinreichend nachhaltige und damit ein Abschiebungshindernis begründende Integration der Antragstellerin zu verneinen.
Da die Antragstellerin trotz ihrer iranischen Staatsangehörigkeit mit ihrem irakischen Ehemann in der Vergangenheit im Irak gelebt hat, ist davon auszugehen, dass sie auch bei Abschiebung in den Iran in ihre alte Heimat zurückkehren und ihre Ehe dort führen kann. Insofern ist die Prognose bezüglich einer Integration in die Lebensverhältnisse des Iran von untergeordneter Bedeutung.
3. Auch aus der noch nicht erfolgten Entscheidung über den Anspruch der Antragstellerin auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis ergibt sich kein Duldungsgrund.
Nach der gesetzgeberischen Konzeption muss der Ausländer außerhalb des Anwendungsbereichs des § 81 Abs. 3 und Abs. 4 AufenthG Ansprüche auf Erteilung eines Aufenthaltstitels vom Ausland aus verfolgen (vgl. BayVGH, B.v. 7.6.2019 – 19 CE 18.1597 – juris Rn. 14). Der Antrag der Antragstellerin vom 4. März 2019 auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis löste vorliegend keine Fiktionswirkung nach § 81 AufenthG aus. Es widerspräche daher der durch §§ 50 Abs. 1, 58 Abs. 1 und 2, 81 Abs. 3 und 4 AufenthG vorgegebenen Systematik und Konzeption des Aufenthaltsgesetzes, denen zufolge für die Dauer eines Erteilungsverfahrens nur unter den in § 81 Abs. 3 und 4 AufenthG geregelten Voraussetzungen ein vorläufiges Bleiberecht besteht, darüber hinaus derartige „Vorwirkungen“ anzuerkennen und für die Dauer eines Erteilungsverfahrens eine Duldung vorzusehen (vgl. OVG NRW, B.v. 2.5.2006 – 18 B 437/06 – juris Rn. 2; BayVGH, B.v. 26.11.2018 – 19 C 18.54 – juris Rn. 24).
Zwar kann sich im Hinblick auf die Gewährung effektiven Rechtsschutzes ein Anspruch auf Verfahrensduldung ergeben, um die für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erforderlichen und tatsächlich gegebenen tatbestandlichen Voraussetzungen für die Dauer des Verfahrens aufrechtzuerhalten (vgl. BVerwG, U.v. 18.12.2019 – 1 C 34/18 – juris Rn. 30). Dies setzt aber voraus, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen einer Anspruchsnorm im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung über den Eilantrag nach § 123 VwGO tatsächlich vorliegen und durch eine etwaige Abschiebung rechtsvernichtend in diese Position eingegriffen würde.
Für die von der Antragstellerin geltend gemachte Aufenthaltserlaubnis nach § 104a AufenthG ist unter anderem Voraussetzung, dass der Ausländer im Zeitpunkt der Entscheidung geduldet ist. Dies ist vorliegend nicht der Fall, da aktuell weder eine Duldungsbescheinigung noch ein materieller Duldungsgrund aus Art. 6 GG oder Art. 8 EMRK vorliegen (s.o.). Eine aktuell nicht bestehende Duldung steht auch einem etwaigen Anspruch auf Aufenthaltserlaubnis nach § 25b AufenthG entgegen, denn auch diese Anspruchsgrundlage setzt das Bestehen einer materiellen oder formellen Duldung im Entscheidungszeitpunkt voraus (vgl. BVerwG, U.v. 18.12.2019 – 1 C 34/18 – juris Rn. 30).
Nach alldem ist der Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO abzulehnen.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG.

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