Verwaltungsrecht

Vorläufiger Rechtsschutz (Stattgabe), Feststellung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs, Hilfe für junge Volljährige, Befristung, Maßstab der sozialpädagogischen Fachlichkeit

Aktenzeichen  M 18 E 22.1862

Datum:
22.4.2022
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2022, 8983
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
VwGO § 80 Abs. 5
SGB VIII § 41
SGB X § 32

 

Leitsatz

Tenor

I. Es wird festgestellt, dass der Widerspruch des Antragstellers gegen die Befristung in Ziffer 3 des Bescheides des Antragsgegners vom 14. Januar 2022 aufschiebende Wirkung hat.
II. Der Antragsgegner trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt im Weg des einstweiligen Rechtsschutzes, dass die ihm bewilligte Hilfegewährung als Hilfe für junge Volljährige in Form der Heimerziehung über die durch den Antragsgegner vorgenommene Befristung hinaus gewährt wird.
Den Eltern des am … 2003 geborenen Antragstellers wurde seit 7. März 2011 Hilfe zur Erziehung in Form der Heimunterbringung des Antragstellers gemäß § 27, 34 SGB VIII bis zur Volljährigkeit des Antragstellers gewährt.
Auf den Antrag des Antragstellers vom 15. April 2021 auf Hilfe für junge Volljährige bewilligte der Antragsgegner mit Bescheid vom 16. Juni 2021 Hilfe für junge Volljährige in Form der Heimerziehung ab 1. Juni 2021 bis zum 31. Dezember 2021.
Der Antragsteller wechselte am 24. August 2021 von der von ihm seit Herbst 2019 besuchten Wohngruppe in das Innenbetreute Wohnen (IBW) des Leistungserbringers.
Seit 10. September 2021 befindet sich der Antragsteller in einer kooperativen Reha-Ausbildung zum Verkäufer. Die schulische Ausbildung erfolgt über eine staatlich anerkannte Berufsschule mit dem Förderschwerpunkt Lernen.
Der Antragsteller beantragte mit Schreiben vom 21. Oktober 2021 die weitere Bewilligung der Hilfe für junge Volljährige und führte aus, dass er mit der Ausbildung begonnen habe und ihm diese sehr gut gefalle. In seinem Apartment fühle er sich sehr wohl, er habe dort Ruhe und könne sich von der Arbeit erholen und lernen. Der Betreuer im IBW unterstütze ihn sehr im Umgang mit dem Ausbildungsbetrieb und sonstigen Ämtern und Behörden. Auch benötige er noch Unterstützung im Umgang mit den Finanzen. Er bitte um die Verlängerung im IBW, um sich eine berufliche Zukunft aufbauen zu können.
Der Leistungserbringer teilte dem Antragsgegner mit Schreiben vom 29. Oktober 2021 mit, dass die Entwicklung einer tragbaren und validen Zukunftsperspektive das priorisierte mittelfristige Ziel und eine Weiterführung der laufenden Maßnahme aus fachlicher Sicht angezeigt sei, um die gegenwärtige positive Entwicklung nicht zu gefährden.
In dem Entwicklungsbericht des Leistungserbringers vom 3. Dezember 2021 wird abschließend ausgeführt, dass der Antragsteller begonnen habe, sich mit Aufnahme der Ausbildung eine berufliche Existenz und damit eine eigene Perspektive aufzubauen. Der Antragssteller wünsche sich einen weiteren Verbleib im IBW, um einen sicheren Ort zu haben, von dem aus er den Anforderungen der Ausbildung begegnen und in seiner Persönlichkeit reifen könne. Der geschützte und sehr unterstützende Rahmen der Kooperation in Verbindung mit dem IBW biete für den Antragsteller die Möglichkeit, bestehende Themen im Sozialverhalten und in der kognitiven Leistungsfähigkeit auszugleichen und sich hinsichtlich einer selbstständigen Lebensführung weiterzuentwickeln. Eine Weiterführung der Maßnahme sei daher sinnvoll und notwendig.
Am 8. Dezember 2021 fand ein Hilfeplangespräch mit dem Antragsteller sowie einem Vertreter der Betreuungseinrichtung statt. In dem hierzu erstellten und ausschließlich von der fallverantwortlichen Fachkraft des Antragsgegners unterzeichneten Hilfeplan wird hinsichtlich des Betreuungsrahmens im IBW ausgeführt, dass der Antragsteller montags nach der Schule einen festen Termin mit seinem Bezugsbetreuer habe, weitere gemeinsame Kontakte unter der Woche durch direkten, telefonischen und über WhatsApp-Austausch erfolgen würden sowie samstags ein regelmäßiger Wocheneinkauf mit dem Bezugsbetreuer erfolge. Als Hilfebedarf wird ein adäquater/vorausschauender Umgang mit Finanzen, die Sicherung des Lebensunterhaltes und Klärung der zukünftigen Wohnsituation, Verselbstständigung und Vertiefung lebenspraktischer Fähigkeiten, Weiterführung der Berufsausbildung und Perspektiven sowie Erweiterung der Sozialkompetenzen aufgeführt. Als ergänzender Hilfebedarf wird die Lernvorbereitung durch den Betreuer, eine finanzielle Unterstützung durch Einteilung des Monatsbetrages durch den Betreuer, der begleitende Kontakt zu den Ausbildern sowie das Lernen und Vertiefen von Konfliktstrategien angeführt. Hinsichtlich der Beurteilung des weiteren Hilfebedarfs wird festgehalten, dass der Betreuungsbedarf geringfügig und angemessen sei; der Antragsteller benötige keinen heilpädagogischen Betreuungsrahmen, um seinen Alltag und insbesondere seine Finanzen geeignet zu regeln. Hierzu sei eine anleitende sozialpädagogische Unterstützung ausreichend und geeignet. Der Schritt ins IBW habe zu einer zielführenden Entwicklung geführt. Die Unterbringung sei ausreichend, um dem jungen Menschen die notwendige Sicherheit und Stabilität zu bieten, auf die er noch angewiesen sei, um seine Alltagsangelegenheiten und einen geeigneten Umgang mit seinen Finanzen zu erlernen. Bei dem Antragsteller liege eine relative Selbstständigkeit in den Alltagsvollzügen vor. Der weitere Hilfebedarf liege schwerpunktmäßig in der Bewältigung seiner Ausbildung; diesbezüglich erhalte er umfangreiche Reha-Förderung in einem geschützten Ausbildungsrahmen, um Problemlösungskompetenz, Anpassungsfähigkeit, Zeitmanagement im beruflichen Bereich erlernen zu können. Die weitere Unterbringung sei aufgrund der anstehenden beruflichen Rehabilitation erforderlich. Die weitere Betreuung des Antragstellers könne mit ambulanten Hilfen geeignet und im erforderlichen Maße geboten werden.
Die Fachteamvorlage der fallverantwortlichen Fachkraft vom 16. Dezember 2021 enthält den Vorschlag, die Hilfe bis zur Fallübernahme der Agentur für Arbeit weiterzuführen.
In einer E-Mail der Fachkraft vom 22. Dezember 2021 an die Einrichtung wird mitgeteilt, dass im Fachteam entschieden worden sei, dass die Jugendhilfemaßnahme zum 31. Dezember 2021 ende und ein ambulanter Erziehungsbeistand als geeignete Maßnahme übernommen werde. Es werde gebeten mitzuteilen, ob die Einrichtung dem Antragsteller einen Erziehungsbeistand anbieten könne. Die Kollegen der wirtschaftlichen Jugendhilfe würden das Anliegen der sozialen Teilhabe – Wohnen an den zuständigen Leistungs- und Kostenträger überleiten.
Mit Schreiben vom 28. Dezember 2021 legte die Betreuungseinrichtung einen (weiteren) Antrag des Antragstellers auf Weiterbewilligung des IBW, datiert vom 28. Dezember 2021, sowie ein von dem Betreuer und dem Antragsteller unterzeichneter Entwicklungsbericht vom 28. Dezember 2021 vor. In dem von der Betreuungseirichtung als „Widerspruch“ gegen die Beendigung der Maßnahme bezeichneten Schreiben führte diese aus, dass der von dem Antragsgegner anerkannte Bedarf an Jugendhilfe in keinem Fall im Rahmen einer Erziehungsbeistandschaft nach § 30 SGB VIII ausreichend gedeckt sei. Ein Auslaufen der bestehenden Maßnahme würde bedeuten, dass sich der Antragsteller zeitnah eine eigene Wohnung suchen müsse. Dazu seien noch nicht ausreichende Ressourcen vorhanden. Dies sei ein Fernziel, welches erst nach Stabilisierung der Ausbildungssituation in den Blick genommen werden könne. Durch eine Beendigung der Maßnahme würden die bisher erreichten Erfolge der vergangenen Monate in Gefahr gesehen werden. Es sei zu vermuten, dass der Antragsteller damit in eine Überforderung gerate, die ihm die Weiterführung der Ausbildung unmöglich mache und zu einer Verschlechterung seiner Lebenssituation beitragen werde. Der Antragsteller zeige eine hohe Eigenmotivation und Mitwirkungsbereitschaft zu der aktuellen Maßnahme.
In einer internen E-Mail der Fachkraft vom 7. Januar 2022 wird ausgeführt, dass, wie im Fachgremium besprochen und entschieden, davon ausgegangen werde, dass der weitere stationäre Betreuungs- und Wohnbedarf des Antragstellers an einen anderen Leistungsträger übergehe. Fachlich sei ein ambulanter Hilfebedarf des Antragstellers bestätigt worden, der Bedarf für eine weitere stationäre Jugendhilfemaßnahme liege nicht mehr zwingend nach Maßgabe der Jugendhilfe vor. Der mitgeteilte Betreuungsund Wohnbedarf ergebe sich im Zusammenhang mit der beruflichen Ausbildung.
In einer internen E-Mail des Antragsgegners vom 13. Januar 2022 wird ausgeführt, dass die stationäre Unterbringung des Antragstellers zwar nicht mehr notwendig sei und die Gewährung einer Hilfe ausscheide, da das Jugendamt keine Hilfe zur Vermeidung von Obdachlosigkeit leiste. Allerdings sei bisher der Einrichtung bzw. dem Betreuer sowie dem Antragsteller möglicherweise die zwingende Verselbstständigung des Antragstellers nicht hinreichend deutlich kommuniziert worden. Schließlich habe man nunmehr auch die Information, dass die Unterbringungskosten, anders als bisher angenommen, nicht durch die Agentur für Arbeit übernommen würden. Eine Ablehnung der Leistung zum gegenwärtigen Zeitpunkt gefährde womöglich das erreichte Ziel. Der Antragsteller habe sich toll entwickelt und sei so weit, dass er sich verselbstständigen werden könne. Auch die Reha-Beraterin der Agentur für Arbeit habe ihn sehr gelobt. Es wäre schade, wenn jahrelang Geld ausgegeben wäre für eine Maßnahme, die offensichtlich viel Erfolg habe und der junge Mensch dann fallen gelassen würde.
In einem weiteren Protokoll über eine Fallbesprechung am 14. Januar 2022 wird festgehalten, dass der Empfehlung der fallverantwortlichen Fachkraft mit der Einschränkung gefolgt werde, dass die stationäre Maßnahme bis 30. April 2022 bewilligt werde; eine weitere Verlängerung erfolge nicht.
Mit streitgegenständlichen Bescheid vom 14. Januar 2022 bewilligte der Antragsgegner die Hilfegewährung als Hilfe für junge Volljährige in Form der Heimerziehung gemäß § 41 i.V.m. § 34 SGB VIII ab 1. Januar 2022 unter der Voraussetzung, dass der Antragsteller bei der Hilfegewährung mitwirke (Ziffer 1 und 2 des Bescheides). Die Hilfe werde bis auf weiteres, längstens bis 30. April 2022 bewilligt (Ziffer 3 des Bescheides). In den Gründen wird ausgeführt, dass einem jungen Volljährigen gemäß § 41 SGB VIII Hilfe für die Persönlichkeitsentwicklung und zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung gewährt werde, wenn und solange die Hilfe aufgrund der individuellen Situation des jungen Menschen notwendig sei. Dies sei hier der Fall. Die Befristung unter Ziffer 3 ergehe unter Beachtung des eingeräumten Ermessens (§ 32 Abs. 2 SGB X). Die Befristung erfolge, da gerade bei jungen Menschen in relativ kurzer Zeit Veränderungen eintreten könnten, die sich nachhaltig auf diese auswirken können und damit das Vorliegen der Voraussetzungen zur Gewährung der Hilfe aufheben oder verändern könnten. Die Befristung solle als zeitliche Zielvorgabe dienen. Eine erneute Verlängerung werde nicht in Aussicht gestellt. Eine Verselbstständigung müsse erzielt werden.
Mit Schreiben vom 26. Januar 2022 legte der Antragsteller gegen die Befristung im Bescheid vom 14. Januar 2022 Widerspruch ein. Zur Begründung führte er aus, dass er, um die Anforderungen seiner Ausbildung schaffen zu können und sich ein selbstständiges Leben aufzubauen, weiterhin auf die Hilfemaßnahme des IBW angewiesen sei und daher um Weitergewährung der dringend benötigten Hilfe bitte. In einem Begleitschreiben der Einrichtung vom 26. Januar 2022 wird ergänzend ausgeführt, dass in der Befristung eine unverhältnismäßige Benachteiligung des Antragstellers liege. Eine frühzeitige Beendigung würde die positive Entwicklung maßgeblich gefährden, da in diesem sehr kurzen Zeitraum aus fachlicher Sicht keine so umfängliche Weiterentwicklung möglich sei.
In der internen Stellungnahme der fallverantwortlichen Fachkraft vom 1. Februar 2022 zum Widerspruch des Antragsgegners wird – unter Verweis auf den Entwicklungsbericht der Einrichtung vom 14. April 2020 – ausgeführt, dass der Antragsteller mindestens seit 14. April 2020 über eine umfassende Fähigkeit zur eigenverantwortlichen Lebensführung und Selbstversorgung verfügt habe. Urplötzlich würden seine erworbenen Fähigkeiten von den jetzigen Betreuungspersonen als unverhältnismäßig und ungenügend beurteilt. Tatsache sei, dass er bereits langjährig und umfangreich zu einer eigenverantwortlichen Lebensführung fähig sei.
Der Antragsgegner legte mit Schreiben vom 7. Februar 2022 den Widerspruch der Regierung von Oberbayern zur Entscheidung vor, welche noch nicht ergangen ist.
Die Bevollmächtigten des Antragstellers beantragten für diesen mit Schriftsatz vom 29. März 2022 beim Verwaltungsgericht München,
den Antragsgegner zu verpflichten, dem Antragsteller über den 30. April 2022 hinaus die Hilfegewährung als Hilfe für junge Volljährige in Form der Heimerziehung gemäß § 41 in Verbindung mit § 34 SGB VIII zu bewilligen und zu gewähren.
Zudem wurde beantragt,
dem Antragsteller für die Durchführung des Verfahrens die Prozesskostenhilfe zu bewilligen unter Beiordnung des Unterfertigten im Rahmen eines am Gerichts zugelassenen Rechtsanwalts.
Zur Begründung wurde insbesondere ausgeführt, dass der Antragsteller dringend und zwingend auf die Weiterbewilligung der Hilfegewährung über den 30. April 2022 angewiesen sei, zumal das Ende der Leistung dessen gesamte Ausbildung im Rahmen der kooperativen Ausbildung infrage stellen würde, zumal der Antragsteller insoweit auch aufgrund dessen persönlicher Situation einkommens- und wohnungslos wäre und auf die weiteren Wohn- und Betreuungsleistungen angewiesen sei. In einer als Anlage beigefügten Stellungnahme der Lehrgangsleitung Reha-Ausbildung vom 11. Februar 2022 wird ausgeführt, dass eine erfolgsversprechende Prognose für die Reha-Ausbildung in kooperativer Form nur unter der Voraussetzung einer intensiven Betreuung im Alltag mit dem IBW gegeben sei. Eine unsichere Wohn- und Betreuungsperspektive würde zu einer starken Verunsicherung und zu einer nachlassenden Motivation führen. Es bestünde die Gefahr, dass der Antragsteller seine Ziele aus den Augen verliere. Die Ausbildung stelle für den Antragsteller eine große Herausforderung dar. Seine Mitarbeit sowie die Qualität seiner Arbeit würden von seiner emotionalen Verfassung und seinen individuellen Interessen abhängen. Er könne Ratschläge annehmen, brauche aber richtungsweisende Unterstützung bei der Umsetzung, sonst falle er immer wieder in gewohnte Verhaltensmuster zurück. Seinen Alltag zum jetzigen Zeitpunkt selbstständig zu strukturieren und sich um seine Angelegenheiten zu kümmern, stelle eine Überforderung dar. Er brauche weiter eine engmaschige Betreuung durch eine enge Bezugsperson im Rahmen der flexiblen Jugendhilfe und eine stabile Wohnform bis zum Abschluss der Ausbildung.
Der Antragsgegner legte die Akten elektronisch vor und beantragte mit Schreiben vom 5. April 2022,
den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abzulehnen.
Zur Begründung wurde insbesondere ausgeführt, dass die den Antragsteller betreuende Einrichtung bereits mit Mitteilung vom 22. Juni 2021 darauf hingewiesen worden sei, dass die vollstationäre Jugendhilfemaßnahme bis 31. Dezember 2021 bewilligt werde und anschließend bei Bedarf die Hilfe gegebenenfalls noch in ambulanter Form als Nachbetreuung fortgesetzt werden könne. Die Einrichtung habe es versäumt, die Hilfe für den Antragsteller in dem verbleibenden guten halben Jahr entsprechend umzusetzen. Die Einkommenssituation könne über die Agentur für Arbeit und das Jobcenter sichergestellt werden. Es müssten Leistungen nach dem SGB II beantragt werden. Der weitere Hilfebedarf liege schwerpunktmäßig in der Bewältigung der Ausbildung des Antragstellers; die weitere Betreuung könne mit ambulanten Hilfen geeignet und im erforderlichen Maße geboten werden. Dem Antragsteller sei nochmals eine kurzfristige Verlängerung der vollstationären Maßnahme bewilligt worden, um diesem und der Einrichtung ausreichend Gelegenheit zu geben, in dieser Zeit die im Hilfeplan vom 8. Dezember 2021 getroffenen Ziele umzusetzen.
Mit Beschluss vom 14. April 2022 wurde der Rechtsstreit gemäß § 6 VwGO zur Entscheidung auf den Einzelrichter übertragen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte sowie auf die vorgelegten Behördenakten Bezug genommen.
II.
Der sachdienlich ausgelegte Antrag hat im tenorierten Umfang Erfolg.
Der Antrag, den Antragsgegner im Weg des vorläufigen Rechtsschutzes aufzugeben, die mit Bescheid vom 14. Januar 2022 bewilligte Hilfe über den 30. April 2022 vorläufig weiter zu gewähren, ist gemäß §§ 122 Abs. 1, 88 VwGO sachgerecht dahingehend auszulegen, dass der Antragsteller beantragt festzustellen, dass sein Widerspruch gegen die Befristungsentscheidung im Bewilligungsbescheid vom 14. Januar 2022 aufschiebende Wirkung hat.
Nachdem der Antragsgegner es offenbar bewusst unterlassen hat (vgl. Aktenvermerk des Antragsgegners vom 3. Februar 2022), den Antragsteller auf die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs hinsichtlich der Befristung hinzuweisen und wohl auch gegenüber dem Bevollmächtigten des Antragstellers telefonisch hierzu keinen Hinweis gegeben, sondern lediglich auf die gerichtliche Klärung verwiesen hat, besteht für den Antrag auf Feststellung der aufschiebenden Wirkung ein Rechtsschutzbedürfnis. Missachtet eine Behörde die von Gesetzes wegen eingetretene aufschiebende Wirkung eines Rechtsbehelfs gegen einen Verwaltungsakt, können die Verwaltungsgerichte die (ohnehin schon automatisch nach § 80 Abs. 1 VwGO eingetretene) aufschiebende Wirkung nicht anordnen. Sie können aber analog § 80 Abs. 5 VwGO feststellen, dass der eingelegte Rechtsbehelf aufschiebende Wirkung hat (vgl. OVG Lüneburg, B.v. 10.10.2019 – 10 ME 191/19 – juris Rn. 16 m.w.N.). Die Voraussetzungen für eine solche Feststellung liegen vor.
Der Widerspruch des Antragstellers vom 26. Januar 2022 gegen die Befristung der von dem Antragsgegner bis zum 30. April 2022 bewilligten Hilfemaßnahme, entfaltet hinsichtlich der Befristung aufschiebende Wirkung gemäß § 80 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Danach haben Widerspruch und Anfechtungsklage aufschiebende Wirkung. Etwas anderes gilt nur, wenn in der Hauptsache eine Anfechtungsklage offensichtlich unstatthaft und damit unzulässig wäre. Dies ist jedoch nicht der Fall.
Gemäß § 42 Abs. 1 1. Alt. VwGO kann durch Anfechtungsklage die Aufhebung eines Verwaltungsakts begehrt werden. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts kann der Adressat eines ihn begünstigenden Verwaltungsakts mit der Anfechtungsklage isoliert eine ihn belastende Nebenbestimmung im Sinne des § 36 Abs. 1 und 2 VwVfG anfechten. Ob die Anfechtungsklage zur isolierten Aufhebung der Nebenbestimmung führen kann, ist eine Frage der Begründetheit und nicht der Zulässigkeit des Anfechtungsbegehrens, sofern nicht eine isolierte Aufhebbarkeit offenkundig von vornherein ausscheidet (OVG Lüneburg, B.v. 10.10.2019 – 10 ME 191/19 – juris Rn. 18 m.w.N.). Dies gilt entsprechend für Nebenbestimmungen nach § 32 SGB X (Engelmann, SGB X, 9. Auflage 2020, § 32 Rn. 53 f.; Hauck/Noftz, SGB X, Stand Februar 2019, § 32 Rn. 43 ff.; Knickrehm/Kreikebohm/Waltermann/Fichte, 7. Aufl. 2021, SGB X § 32 Rn. 15 ff.; Burkiczak in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB X, 2. Aufl., § 32 SGB X (Stand: 31.03.2022), Rn. 128).
Lediglich die Anfechtung der Befristungsentscheidung im Bescheid vom 14. Januar 2022 scheidet nicht offenkundig aus.
Bei dem vorliegend geltend gemachten Anspruch des Antragsgegners nach § 41 Abs. 1 SGB VIII handelt es sich um einen gebundenen Rechtsanspruch. Der Gesetzgeber hat mit der Neufassung des § 41 SGB VIII (i.d.F. vom 3. Juni 2021) ausdrücklich formuliert, unter welchen Voraussetzungen Hilfe für junge Volljährige zu gewähren ist. Die Gewährleistung von Hilfe für junge Erwachsene wird damit verbindlicher, weil die Tatbestandsvoraussetzungen nunmehr explizit formuliert sind und die Rechtsfolge zwingend („muss“) daran anknüpft. Der öffentliche Träger hat festzustellen, ob im Rahmen der Möglichkeiten des jungen Volljährigen die Gewährleistung einer Verselbständigung nicht oder nicht mehr vorliegt. Ist dies der Fall, so muss dem jungen Volljährigen in jedem Fall eine geeignete und notwendige Hilfe (weiterhin) gewährt werden (vgl. die Gesetzesbegründung, BT-Drs. 19/26107, S. 94). Die vorgenommene Befristung der Hilfegewährung ist daher nicht als inhaltsbestimmender integraler Bestandteil der Bewilligung zu sehen (a.A. OVG NW, B.v. 6.11.2017 – 12 B 1265/17 – juris Rn. 3). Vielmehr hat die Beendigung einer Hilfemaßnahme regelmäßig über den Erlass eines Aufhebungsbescheides nach § 48 SGB X zu erfolgen, sofern die Voraussetzungen der Hilfegewährung im Zeitpunkt der Entscheidung nicht mehr vorliegen (Nellissen in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl., § 27 SGB VIII (Stand: 26.04.2021), Rn. 104; Jörg Littmann in: Hauck/Noftz SGB X, § 32 Nebenbestimmungen zum Verwaltungsakt, Rn. 38)
Unabhängig von der Frage, ob die Befristung im vorliegenden Leistungsbescheid überhaupt zulässig ist (siehe hierzu ablehnend: LPK-SGB VIII, SGB VIII beck-online, § 27 Rn. 18; Hauck/Noftz, SGB X, Stand Februar 2019, § 32 Rn. 38; jurisPk-SGB VIII, Stand 26.4.2021, § 27 Rn. 104.1; Kepert, Die Bewilligung von Leistungen nach dem SGB VIII – zur Unzulässigkeit der Befristung von Leistungsbescheiden im Kinderund Jugendhilferecht, SRa 2019, 103) und dass eine solche ausschließlich nach § 32 Abs. 1 SGB X (und nicht nach § 32 Abs. 2 SGB X wie vom Antragsgegner in den Bescheidsgründen ausgeführt, vgl. Jörg Littmann in: Hauck/Noftz SGB X, § 32 Nebenbestimmungen zum Verwaltungsakt, Rn. 33) erfolgen könnte, kommt dem Widerspruch gegen die Befristung im Bewilligungsbescheid jedenfalls aufschiebende Wirkung zu.
Dem (sachdienlich ausgelegten) Antrag war daher stattzugeben.
Der Antragsgegner ist zur Weiterleistung bis zur rechtskräftigen Entscheidung über den Widerspruch verpflichtet.
Darüber hinaus weist das Gericht darauf hin, dass eine Befristung der Bewilligung von Jugendhilfeleistungen regelmäßig nur dazu dienen kann, das Weiterbestehen des Bedarfs vor Fristablauf nach dem Maßstab der sozialpädagogischen Fachlichkeit zu überprüfen (vgl. selbst noch zur alten Rechtslage: BayVGH, B.v. 24.11.2016 – 12 C 16.1571 – juris Rn. 9).
Grundlage der Entscheidung hat hierbei ein fachgerechtes Hilfeplanverfahren nach § 36 SGB VIII zu sein. Dies setzt voraus, dass vor einer Entscheidung eine Beteiligung der Betroffenen erfolgt und im Rahmen eines kooperativen pädagogischen Entscheidungsprozesses unter Mitwirkung des Beteiligten eine angemessene Lösung zur Bewältigung der festgestellten Belastungssituation gefunden wird. Zentrales Leitbild der Jugendhilfe ist, junge Menschen nicht als Objekt fürsorgender Maßnahmen zu betrachten, sondern sie in ihrer Subjektstellung zu unterstützen bzw. sie hierzu zu befähigen (vgl. Gesetzesbegründung zum KJSG, BT-DS 19/26107, S. 1). Die Hilfeplanung dient daher gerade der Offenlegung der Gründe für die Auswahl einer Hilfeform. Die Information bzw. Beratung muss so umfassend sein, dass die Leistungsberechtigten verstehen und nachvollziehen können, dass, warum und welche Maßnahme gerade in ihrem Bedarfsfall aus pädagogischer Sicht geeignet und notwendig ist (vgl. LPK-SGB VIII/Peter-Christian Kunkel/Jan Kepert, 7. Aufl. 2018, SGB VIII § 36 Rn. 8; Wiesner/Schmid-Obkirchner, 5. Aufl. 2015, SGB VIII § 36 Rn. 1, 9ff; BeckOGK/Bohnert, 1.4.2021, SGB VIII § 36 Rn. 19; von Koppenfels-Spies in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl., § 36 SGB VIII (Stand: 20.05.2021), Rn. 12).
Das Gericht hat insoweit Zweifel, ob die bisherigen Hilfeplangespräche diesen Anforderungen gerecht wurden. Die vorliegenden Protokolle über die Hilfeplangespräche dokumentieren jeweils ausschließlich die Sicht der Fachkraft; Vorstellungen, Erwartungen und Befürchtungen des Antragstellers finden sich hingegen dort nicht. Auch das Festhalten an, dem Antragssteller erkennbar vorgegebenen, Zielvorgaben bzw. Aufgaben, an deren Einhaltung die Weiterbewilligung der Hilfe jeweils zwingend gebunden wurde, lässt hieran zweifeln.
Die Hilfegewährung ist von dem aktuellen Hilfebedarf des Leistungsempfängers abhängig. Hierzu hat der Jugendhilfeträger den aktuellen Bedarf und die aktuelle Hilfeleistung ausreichend zu ermitteln und im Folgenden – unter Berücksichtigung der Belange des Leistungsempfängers – eine Bewertung vorzunehmen, inwieweit dieser Bedarf weiterhin gegeben ist. Hingegen ist die (weitere) Leistungsbewilligung nicht davon abhängig, ob der Leistungsempfänger die gesetzten Ziele tatsächlich erreicht hat. Lediglich im Fall einer fehlenden Mitwirkung des Leistungsempfängers (die nicht gerade auf seinem bestehenden Hilfebedarf beruht), kann von einer Weitergewährung abgesehen werden. Eine im Rahmen der Hilfeleistung bei jungen Volljährigen phasenweise schwankende Mitwirkungsbereitschaft ist hingegen unschädlich und die Motivation zur Mitwirkung stellt sich ebenfalls als Aufgabe der Jugendhilfe dar (vgl. Wiesner/Schmid-Obkirchner, 5. Aufl. 2015, SGB VIII § 41 Rn. 24; LPK-SGB VIII/Peter-Christian Kunkel/Jan Kepert, 7. Aufl. 2018, SGB VIII § 41 Rn. 3).
Zudem erscheint befremdlich, dass die weitere Hilfegewährung durch den Antragsgegner mit der Argumentation abgelehnt wird, dass die Einrichtung es versäumt habe, die weitere Hilfe entsprechend umzusetzen. Der Anspruch des Antragstellers richtet sich – unabhängig von einer Verschuldensfrage – ausschließlich nach den gegebenenfalls weiterhin vorliegenden Tatbestandsvoraussetzungen. Sofern der Antragsgegner insoweit Zweifel an der fachlichen Arbeit des Leistungserbringers, welchen er zur Erfüllung seiner Aufgaben beauftragt hat, hat er ggf. dem Antragssteller eine vergleichbare Leistung in einer anderen Einrichtung zu bewilligen. Dementsprechend erscheint auch der Verweis des Antragsgegners auf eine Mitteilung vom 22. Juni 2021 an die Einrichtung für den Leistungsanspruch des Antragstellers zum gegenwärtigen Zeitpunkt als irrelevant.
Darüber hinaus kann die Argumentation des Antragsgegners, dass bei dem Antragsteller bereits seit mindestens 14. April 2020 (und damit noch als Minderjähriger) eine umfassende Fähigkeit zur eigenverantwortlichen Lebensführung und Selbstversorgung vorliege, nicht nachvollzogen werden. Der insoweit in Bezug genommene Entwicklungsbericht vom 14. April 2020 führt vielmehr aus, dass der Antragsteller im Sozialverhalten eine geringe Frustrationstoleranz zeige und häufig Reflexionsgespräche brauche. Die heilpädagogische Wohngruppe biete ihm feste Alltagsstrukturen und die Möglichkeit, seine persönlichen und sozialen Kompetenzen, Kritik- und Kommunikationsfähigkeit noch weiter auszubauen. Insbesondere die schulische und berufliche Perspektive und Suche nach einer geeigneten Ausbildungsstelle bedürfe einer weiteren Begleitung, beruflichen Förderung und pädagogischen Unterstützung. Im Zug der Verselbstständigung werde daher ein weiterer Aufenthalt in der Wohngemeinschaft empfohlen. Lediglich die Feststellung, dass der Antragsteller seine Dienste und Aufgaben ohne Aufforderung sehr sorgfältig erledige, einen hohen Anspruch an Ordnung und Sauberkeit habe und ihm der angemessene Umgang mit Geld im Zug des Selbstversorgerstatus immer besser gelinge, kann die fachliche Beurteilung, dass der Antragsteller keinen stationären Hilfebedarf mehr habe, nicht alleine begründen.
Schließlich wird auch in dem Vorschlag der fallverantwortlichen Fachkraft vom 7. Juni 2021 ausgeführt, dass für den Antragsteller der Schritt, über ALG II einen Wohnraum zu finden und den Alltag selbstständig bewältigen zu können, zu früh käme. Dementsprechend hatte der Antragsgegner die begehrte Leistung auch weiterhin bewilligt, was im Widerspruch zu der jetzigen Aussage steht, dass ein entsprechender Hilfebedarf seit zwei Jahren nicht mehr gegeben wäre.
Vielmehr scheint der Antragsgegner seit langem davon auszugehen, dass die „Leistung Wohnen“ durch einen anderen Leistungsträger, nämlich der Agentur für Arbeit, zu erfolgen hat und daher insoweit ihm gegenüber kein Hilfebedarf bestehe (vgl. Antrag des Antragsgegners auf Fallübernahme und Kostenerstattung vom 20. August 2020; Schreiben des Antragsgegners vom 2. Dezember 2021 sowie E-Mail der fallverantwortlichen Fachkraft vom 7. Januar 2022). Insoweit lässt sich der vorgelegten Behördenakte im Übrigen auch nicht entnehmen, aus welchen Gründen der Antragsgegner zu dem Ergebnis kommt, dass der Antragsteller keinen Anspruch (auch) auf Eingliederungshilfe nach (§ 41 Abs. 1 i.V.m.) § 35a SGB VIII habe.
Für eine sachgerechte Entscheidung über die weitere Leistungsbewilligung wird der Antragsgegner daher den aktuellen Hilfebedarf des Antragstellers konkret zu ermitteln haben. Aus den vorgelegten Behördenakten und auch den Stellungnahmen der Betreuungseinrichtungen ergibt sich für eine Beurteilung derzeit nicht hinreichend, in welchem zeitlichen Umfang, welcher Intensität und in Bezug auf welche Problempunkte aktuell Betreuungsleistungen durch die Einrichtung erbracht werden und – ob darauf beruhend – diese Betreuung, wie vom Antragsgegner vorgenommen, auch ambulant und mit welcher erforderlichen Stundenzahl geleistet werden kann. Hierbei dürfte auch zu prüfen sein, ob für den Antragsteller eventuell eine Hilfemaßnahme nach § 13 Abs. 3 SGB VIII geeignet erscheint.
Zudem weist das Gericht ergänzend auch auf die Neuregelung in § 41 Abs. 3 SGB VIII hin, wonach im Fall der Beendigung einer Leistung durch den Jugendhilfeträger eine Nachbetreuung zu erfolgen und ein Zuständigkeitsübergang rechtzeitig zu prüfen ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO.
Das Verfahren ist nach § 188 Satz 2 VwGO gerichtskostenfrei.
Nachdem dem (sachgerecht ausgelegten) Antrag des Antragstellers entsprochen wurde und der Antragsgegner die Kosten des Verfahrens zu tragen hat, erledigt sich der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe, sodass über diesen nicht mehr zu entscheiden war (BVerfG, B.v. 24.7.2019 – 2 BvR 686/19 – juris Rn. 48; B.v.17.1.2017 – 2 BvR 2013/16 -, juris 25; BayVGH B.v. 13.12.2016 – 12 CE 16.2333 – juris Rn. 45).


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