Verwaltungsrecht

Widerruf einer Duldung nach Vorlage eines Passes; Anspruch auf Verfahrensduldung

Aktenzeichen  2 M 114/21

Datum:
22.12.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Oberverwaltungsgericht des Landes Sachsen-Anhalt 2. Senat
Dokumenttyp:
Beschluss
ECLI:
ECLI:DE:OVGST:2021:1222.2M114.21.00
Normen:
§ 60a Abs 2 S 1 AufenthG 2004
§ 60a Abs 5 S 2 AufenthG 2004
Spruchkörper:
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Leitsatz

Ein Widerruf nach § 60a Abs. 5 Satz 2 AufenthG (juris: AufenthG 2004) ist ausgeschlossen, wenn ein anderer Duldungsgrund vorliegt.(Rn.15)

Verfahrensgang

vorgehend VG Magdeburg, 10. August 2021, 3 B 183/21 MD, Beschluss

Tenor

Auf die Beschwerde des Antragstellers wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Magdeburg vom 10. August 2021 – 3 B 183/21 MD – geändert.
Die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers vom 28. Juli 2021 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 19. Juli 2021 wird angeordnet.
Die Kosten des Verfahrens in beiden Rechtszügen trägt der Antragsgegner.
Der Streitwert wird für das erstinstanzliche Verfahren – insoweit in Abänderung des erstinstanzlichen Beschlusses – und für das Beschwerdeverfahren auf jeweils 2.500 € festgesetzt.

Gründe

I.
Der Antragsteller begehrt die Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen den vom Antragsgegner verfügten Widerruf seiner Duldung.
Der am (…) 2000 geborene Antragsteller ist russischer Staatsangehöriger. Er reiste im Jahr 2013 in die Bundesrepublik Deutschland ein und durchlief erfolglos ein Asylverfahren. Am 18. Mai 2021 erteilte ihm der Antragsgegner eine bis zum 30. September 2021 befristete Duldung. Am gleichen Tag legte der Antragsteller einen am 27. Juli 2020 ausgestellten und bis zum 27. Juli 2030 gültigen russischen Pass vor, den der Antragsgegner einbehielt.
Mit Bescheid vom 19. Juli 2021 widerrief der Antragsgegner die Duldung des Antragstellers unter Anordnung der sofortigen Vollziehung und führte zur Begründung aus, der Antragsteller habe am 18. Mai 2021 einen gültigen Nationalpass vorgelegt, so dass keine Gründe mehr vorlägen, die Abschiebung weiterhin auszusetzen. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung begründete der Antragsgegner damit, dass wegen der Dauer eines Widerspruchs- und Klageverfahrens zu erwarten sei, dass andere Sachverhalte einträten, die eine Aussetzung der Abschiebung nach sich ziehen würden. Ein Hinzuwarten, bis derartige Sachverhalte eingetreten seien, sei aus Gründen der Einhaltung der Rechtsordnung des Bundesrepublik Deutschland nicht hinnehmbar.
Mit Schreiben vom 28. Juli 2021 legte der Antragsteller gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 19. Juli 2021 Widerspruch ein. Zudem stellte der Antragsteller am 28. Juli 2021 beim Verwaltungsgericht einen Antrag gemäß § 80 Abs. 5 VwGO, mit dem er die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs gegen den Widerruf seiner Duldung begehrte.
Mit Beschluss vom 10. August 2021 hat das Verwaltungsgericht den Antrag des Antragstellers abgelehnt und zur Begründung ausgeführt, soweit sich der Antragsteller gegen den mit Bescheid vom 19. Juli 2021 verfügten Widerruf der ihm am 18. Mai 2021 mit dem Vermerk „Erlischt mit dem Beginn der Abschiebungsmaßnahme“ erteilten, bis 30. September 2021 gültigen Duldung wende, seien keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieses Bescheides dargelegt oder ersichtlich. Gemäß § 60a Abs. 5 Satz 2 AufenthG werde die Aussetzung der Abschiebung widerrufen, wenn die der Abschiebung entgegenstehenden Gründe entfielen. Der einzige Grund für die Duldung des Antragstellers sei dessen Passlosigkeit gewesen. Da der Antragsteller den ihm am 27. Juli 2020 ausgestellten russischen Reisepass am 18. Mai 2021 vorgelegt habe, sei die Passlosigkeit entfallen. Die Voraussetzungen für den Widerruf der Duldung nach § 60a Abs. 5 Satz 2 AufenthG aufgrund des Entfallens der Passlosigkeit des Antragstellers und mangels Vorliegens anderweitiger Duldungsgründe seien daher gegeben.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Beschluss des Senats vom heutigen Tage im Verfahren 2 M 113/21 Bezug genommen.
II.
Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Magdeburg vom 10. August 2021 – 3 B 183/21 MD – ist zulässig und begründet. Die dargelegten Gründe gebieten die Änderung der erstinstanzlichen Entscheidung.
Der ausdrücklich gestellte Antrag des Antragstellers, die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs vom 28. Juli 2021 gegen den Bescheid des Antragsgegners vom 19. Juli 2021 wiederherzustellen (§ 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 2 VwGO), ist gemäß §§ 88, 122 Abs. 1 VwGO auszulegen als Antrag, die aufschiebende Wirkung seines Widerspruchs anzuordnen (§ 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO). Eine derartige sachdienliche Auslegung eines Eilantrages ist auch bei anwaltlicher Vertretung des Antragstellers zulässig, wenn sich eindeutig erkennen lässt, dass das wahre Antragsziel von der Antragsfassung abweicht (vgl. Beschluss des Senats vom 12. Oktober 2016 – 2 M 48/61 – juris Rn. 7; Puttler, in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Auflage 2018, § 80 VwGO Rn. 122). So liegt es hier. Es kommt dem Antragsteller allein auf den Eintritt der aufschiebenden Wirkung an.
Der Antrag ist zulässig, insbesondere nach § 80 Abs. 5 Satz 1 Alt. 1 VwGO statthaft.
Ein Widerspruch gegen den Widerruf der Duldung entfaltet gemäß § 80 Abs. 2 Satz 2 VwGO i.V.m. § 9 AG VwGO LSA keine aufschiebende Wirkung, weil es sich sowohl bei einer Duldung gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG als auch bei dem Widerruf einer solchen Duldung gemäß § 60a Abs. 5 Satz 2 AufenthG um eine Maßnahme der Verwaltungsvollstreckung handelt (vgl. VG Oldenburg, Beschluss vom 6. Januar 2011 – 11 B 3371/10 – juris Rn. 3; VG Düsseldorf, Beschluss vom 9. November 2017 – 22 L 5379/17 – juris Rn. 4; VG Schleswig, Beschluss vom 30. Juni 2021 – 11 B 38/21 – juris Rn. 15 m.w.N.; a.A. Bruns, in: Hofmann, Ausländerrecht, 2. Auflage 2016, § 60a AufenthG Rn. 50). Eine Anordnung der sofortigen Vollziehung des Widerrufs der Duldung durch die Ausländerbehörde nach § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO ist demzufolge nicht erforderlich (vgl. VG Schleswig, Beschluss vom 30. Juni 2021 – 11 B 38/21 – a.a.O. Rn. 15).
Der Antrag ist auch begründet.
Die in Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotene Interessenabwägung ist in erster Linie an den Erfolgsaussichten in der Hauptsache auszurichten. Sie fällt regelmäßig zugunsten der Behörde aus, wenn der angefochtene Verwaltungsakt offensichtlich rechtmäßig ist und ein besonderes Interesse an seiner sofortigen Vollziehung besteht oder der Sofortvollzug gesetzlich angeordnet ist. Dagegen ist dem Aussetzungsantrag stattzugeben, wenn der Verwaltungsakt offensichtlich rechtswidrig ist, da an der sofortigen Vollziehung eines solchen Verwaltungsakts kein öffentliches Interesse bestehen kann. Lässt die im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO gebotene summarische Prüfung der Sach- und Rechtslage eine abschließende Beurteilung der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts nicht zu, so hat das Gericht eine eigenständige, von den Erfolgsaussichten unabhängige Abwägung der widerstreitenden Interessen vorzunehmen (vgl. Külpmann, in: Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Auflage 2017, Rn. 961 ff.).
Gemessen daran überwiegt das Interesse des Antragstellers an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs, denn der Widerruf der Duldung wird sich voraussichtlich als rechtswidrig erweisen. Maßgeblich für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage bei einem Widerruf einer befristet erteilten Duldung ist der Zeitpunkt des Ablaufs der Gültigkeitsdauer, wenn er vor dem Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung des Tatsachengerichts liegt (vgl. BayVGH, Beschluss vom 8. Februar 2019 – 10 C 18.1641 – juris Rn. 4; Dollinger, in: Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, § 60a AufenthG Rn. 69).
Nach § 60a Abs. 5 Satz 2 AufenthG wird die Aussetzung der Abschiebung widerrufen, wenn die der Abschiebung entgegenstehenden Gründe entfallen. Unter der Abschiebung entgegenstehenden Gründen sind Abschiebungshindernisse tatsächlicher oder rechtlicher Art im Sinne von § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG zu verstehen (vgl. VG Düsseldorf, Beschluss vom 9. November 2017 – 22 L 5379/17 – a.a.O. Rn. 18). Ein Abschiebungshindernis aus tatsächlichen Gründen ist gegeben, wenn eine Abschiebung aufgrund objektiver Umstände, die in der Person des Ausländers oder in äußeren Gegebenheiten liegen, die Ausreisepflicht nicht – oder nur mit unverhältnismäßigem Aufwand – durchgesetzt werden kann. Das gleiche gilt, wenn die Abschiebung zwar möglich ist, die Ausreisepflicht des Ausländers aber nicht ohne erhebliche Verzögerung durchgesetzt werden kann (vgl. Kluth/Breidenbach, in: Kluth/Heusch, BeckOK Ausländerrecht, Stand: 1. Oktober 2021, § 60a AufenthG Rn. 9). Solche Gründe lagen hier seit dem 18. Mai 2021 in der Person des Antragstellers nicht mehr vor, da mit der Vorlage seines Passes der Duldungsgrund der Passlosigkeit entfallen war.
Dem am 19. Juli 2021 verfügten Widerruf der Duldung stand jedoch entgegen, dass im maßgeblichen Zeitpunkt des Ablaufs der Gültigkeitsdauer am 30. September 2021 ein anderer Duldungsgrund gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG gegeben war. Ein Widerruf nach § 60a Abs. 5 Satz 2 AufenthG ist ausgeschlossen, wenn ein anderer Duldungsgrund vorliegt (vgl. VG Düsseldorf, Beschluss vom 9. November 2017 – 22 L 5379/17 – a.a.O. Rn. 24; Bruns, in: Hofmann, a.a.O., § 60a AufenthG Rn. 39; Dollinger, in: Bergmann/Dienelt, a.a.O., § 60a AufenthG Rn. 68). So liegt es hier. Dem Antragsteller war für die Zeit ab dem 19. Juli 2021 eine Verfahrensduldung zu erteilen. Der Senat hat hierzu im Beschluss vom heutigen Tage im Verfahren 2 M 113/21 folgendes ausgeführt:
„Eine Verfahrensduldung kann für die Dauer von Verwaltungs- oder gerichtlichen Verfahren zur Gewährleistung effektiven Rechtsschutzes nach Art. 19 Abs. 4 GG geboten sein, wenn eine Aussetzung der Abschiebung notwendig ist, um die für die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis erforderlichen und tatsächlich gegebenen tatbestandlichen Voraussetzungen für die Dauer des Aufenthaltserlaubniserteilungsverfahrens aufrecht zu erhalten und so sicherzustellen, dass eine aufenthaltsrechtliche Regelung einem möglicherweise Begünstigten zugutekommen kann (vgl. Beschluss des Senats vom 14. Oktober 2009 – 2 M 142/09 – juris Rn. 8 zu § 104a Abs. 1 AufenthG; NdsOVG, Beschluss vom 22. August 2017 – 13 ME 213/17 – juris Rn. 3 m.w.N.). Je besser insoweit die Erfolgsaussichten sind, desto eher werden die Voraussetzungen für eine Verfahrensduldung nach § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG (effektiver Rechtsschutz als rechtliches Abschiebungshindernis) oder zumindest nach § 60a Abs. 2 Satz 3 AufenthG (Ermessensduldung) erfüllt sein (vgl. BVerwG, Urteil vom 18. Dezember 2019 – 1 C 34.18 – a.a.O. Rn. 30).
Hiernach war dem Antragsteller für die Zeit ab dem 19. Juli 2021 eine Verfahrensduldung zu erteilen. Er erfüllte zu diesem Zeitpunkt sämtliche besonderen Erteilungsvoraussetzungen des § 25a Abs. 1 Satz 1 AufenthG. Bis zu diesem Zeitpunkt wurde er wegen Passlosigkeit gemäß § 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG geduldet. Zudem erfüllte er die von § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 AufenthG geforderte vierjährige Aufenthaltszeit. Auch die übrigen Voraussetzungen des § 25a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 bis 5 AufenthG waren – wie noch zu zeigen ist – erfüllt. Soweit die allgemeinen Erteilungsvoraussetzungen des § 5 Abs. 1 und 2 AufenthG nicht vollständig erfüllt waren, war das vom Antragsgegner nach § 5 Abs. 3 Satz 2 AufenthG auszuübende Ermessen – wie ebenfalls noch darzulegen ist – zugunsten des Antragstellers auf Null reduziert. In dieser Situation war dem Antragsteller zur Sicherung eines effektiven Rechtsschutzes gemäß Art. 19 Abs. 4 GG für die Dauer des Verfahrens auf Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG eine Verfahrensduldung zu erteilen. Einen möglichen Anspruch auf Erteilung einer solchen Aufenthaltserlaubnis kann der Antragsteller nach einer Abschiebung in sein Heimatland nicht mehr geltend machen, da hierfür Voraussetzung ist, dass er sich seit mindestens vier Jahren ununterbrochen im Bundesgebiet aufgehalten hat. Der vom Antragsgegner stattdessen – unter Hinweis auf die Vorlage des Nationalpasses durch den Antragsteller – verfügte Widerruf der Duldung und anschließende Ablehnung der Erteilung der Aufenthaltserlaubnis nach § 25a AufenthG missachtet die bereits nach § 25a AufenthG entstandene Rechtsposition des Antragstellers und ist deshalb rechtswidrig.“
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47, 52 Abs. 2, 53 Abs. 2 Nr. 1 GKG i.V.m. Nr. 1.5 und Nr. 8.3 des Streitwertkatalogs für die Verwaltungsgerichtsbarkeit 2013. Nach der Rechtsprechung des Senats ist bei Streitigkeiten um eine vorübergehende Aussetzung der Abschiebung (§ 60a Abs. 2 Satz 1 AufenthG) der halbe Auffangwert des § 52 Abs.2 GKG, mithin 2.500 €, zu Grunde zu legen (so auch Nr. 8.3 des Streitwertkatalogs). Das gilt auch dann, wenn der Abschiebungsschutz – wie in der Regel – im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzes erstritten werden soll, weil in diesen Fällen regelmäßig von einer Vorwegnahme der Hauptsache auszugehen und deshalb eine weitere Reduzierung des Streitwerts nicht angemessen ist (vgl. Beschluss des Senats vom 28. April 2010 – 2 O 41/10 – juris Rn. 2). Entsprechendes gilt bei einem Streit um die Rechtmäßigkeit des Widerrufs einer Duldung. Der Senat macht zudem von der Möglichkeit des § 63 Abs. 3 GKG Gebrauch, die erstinstanzliche Streitwertfestsetzung von Amts wegen entsprechend zu ändern.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, § 68 Abs. 1 Satz 5 i.V.m. § 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).


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