Verwaltungsrecht

Zielstaatsbezogenes Abschiebungsverbot

Aktenzeichen  M 17 K 16.35546

Datum:
23.5.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
EMRK EMRK Art. 3

 

Leitsatz

Die Abschiebung nach Afghanistan einer fünfköpfigen Familie mit drei minderjährigen Kindern, von denen eins an lymphatischer Leukämie erkrankt ist, stellt einen Verstoß gegen Art. 3 EMRK dar, weil weder ein ausreichendes Einkommen gesichert ist noch die notwendige medizinische Versorgung gewährleistet ist. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Das Verfahren wird eingestellt, soweit die Klage zurückgenommen wurde.
II. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 5. Dezember 2016 wird in den Nrn. 4, 5 und 6 aufgehoben.
Die Beklagte wird verpflichtet festzustellen, dass bei den Klägern die Voraussetzungen des § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich Afghanistans vorliegen.
III. Von den Kosten des Verfahrens tragen die Kläger 5/6 und die Beklagte 1/6.
IV. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Kostenschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Kostengläubiger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.
V. Der Klagepartei wird für die Rechtsverfolgung eines Anspruchs auf Feststellung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihrer Prozessbevollmächtigten im Kostenumfang eines im Bezirk des Verwaltungsgerichts niedergelassenen Rechtsanwalts bewilligt. Im Übrigen wird der Antrag auf Gewährung von Prozesskostenhilfe abgelehnt.

Gründe

1. Über die Klage konnte nach vorheriger Anhörung der Klägerseite durch Gerichtsbescheid entschieden werden, da sie keine besonderen Schwierigkeiten tatsächlicher oder rechtlicher Art aufweist und der Sachverhalt geklärt ist (§ 84 Abs. 1 VwGO). Die Beklagte hat auf die Anhörung zu Entscheidungen durch Gerichtsbescheid generell mit allgemeiner Prozesserklärung vom 25. Februar 2016 verzichtet.
2. Soweit der Prozessbevollmächtigte die Klage mit Ausnahme der Feststellung des Abschiebungsverbotes nach § 60 AufenthG zurückgenommen hat, war das Verfahren einzustellen, § 92 Abs. 3 VwGO.
3. Die zulässige Klage ist begründet, soweit sie aufrechterhalten wurde. Die Kläger haben gegen die Beklagte einen Anspruch auf Feststellung eines nationalen Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) hinsichtlich Afghanistans. Insoweit war der Bescheid des Bundesamtes vom 5. Dezember 2016 in den Nrn. 4, 5 und 6 aufzuheben (§ 113 Abs. 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO). Ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt sind, bedarf keiner Prüfung, da es sich beim national begründeten Abschiebungsverbot um einen einheitlichen und nicht weiter teilbaren Verfahrensgegenstand handelt (BVerwG, U.v. 8.9.2011 – 10 C 14.10 – BVerwGE 140, 319 Rn. 16f.)
3.1. Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit eine Abschiebung nach den Bestimmungen der EMRK unzulässig ist. Einschlägig ist hier Art. 3 EMRK, wonach niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden darf. Die Reichweite der Schutznorm des § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK ist in der höchstrichterlichen Rechtsprechung geklärt. Eine unmenschliche Behandlung i.S.v. Art. 3 EMRK, die allein auf der humanitären Lage und den allgemeinen Lebensbedingungen beruht, ist möglich (vgl. BayVGH, B.v. 30.9.2015 – 13a ZB 15.30063 – juris Rn. 5 m.w.N. der Rspr. des BVerwG und des EuGH). Humanitäre Verhältnisse verletzen Art. 3 EMRK zum einen in ganz außergewöhnlichen Fällen, wenn die humanitären Gründe gegen die Abschiebung „zwingend“ seien. Dieses Kriterium sei angemessen, wenn die schlechten Bedingungen überwiegend auf Armut zurückzuführen seien oder auf die fehlenden staatlichen Mittel, um mit Naturereignissen umzugehen. Zum anderen könne – wenn Aktionen von Konfliktparteien zum Zusammenbruch der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Infrastruktur führten – eine Verletzung darin zu sehen seien, dass es dem Betroffenen nicht mehr gelinge, seine elementaren Bedürfnisse, wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, zu befriedigen. Im Anschluss hieran stellt das Bundesverwaltungsgericht darauf ab, ob es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Wenn eine solche Gefahr nachgewiesen sei, verletze die Abschiebung des Ausländers Art. 3 EMRK. Der nationale Maßstab für eine Extremgefahr nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG analog kann von der Gesetzessystematik her allerdings nicht herangezogen werden (BayVGH, B.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30285 – juris Rn. 19). Die Annahme einer unmenschlichen Behandlung allein durch die humanitäre Lage und die allgemeinen Lebensbedingungen setzt gleichwohl ein sehr hohes Gefährdungsniveau voraus. Nur dann liegt ein außergewöhnlicher Fall vor, in dem die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ sind. Wenn das Bundesverwaltungsgericht die allgemeine Lage in Afghanistan nicht als so ernst einstuft, dass ohne weiteres eine Verletzung angenommen werden könne, weist das ebenfalls auf die Notwendigkeit einer besonderen Ausnahmesituation hin (BayVGH, B.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30285 – juris Rn. 19).
3.2. Ein entsprechend hohes Gefährdungsniveau liegt bei den Klägern unter Berücksichtigung der nachstehenden Ausführungen vor, wenn sie nach Afghanistan zurückkehren müssten. Es ist davon auszugehen, dass die Kläger zu 1) und zu 2), die ihre drei minderjährigen Kinder zu versorgen haben, als Rückkehrer tatsächlich Gefahr laufen, einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden.
Insoweit kann nicht lediglich auf eine mögliche künftige Erwerbstätigkeit des Klägers zu 1) abgestellt werden. Es ist nicht sichergestellt, dass der Kläger zu 1) bei einer Rückkehr nach Afghanistan den Lebensunterhalt für sich, seine Ehefrau und seine drei minderjährigen Kind wird erwirtschaften können. Die Kläger sind Eltern eines im Jahr 2014 geborenen Sohnes und eines fünf Monate alten Säuglings, welche beide auf die Versorgung durch ihre Eltern angewiesen sind. Es ist daher davon auszugehen, dass die Kläger prognostisch nur mit einem Einkommen, da die Kinderbetreuung durch einen Kläger vorgenommen werden muss, den Lebensunterhalt für eine fünfköpfige Familie nicht gewährleisten können. Erschwerend kommt hinzu, dass der im Jahr 2002 geborene Sohn ausweislich der vorgelegten Arztberichte der Kinderklinik und Kinderpoliklinik im Dr. von H. Kinderspital des Klinikums der Universität München (vom … schwer an einer akuten lymphatischen Leukämie (Blutkrebs) erkrankt ist und damit nicht nur besonderer pflegerischer Betreuung bedarf, sondern auch die ärztliche Versorgung einen von den Klägern nicht leistbaren finanziellen Aufwand bedeutet. Ungeachtet des Umstandes, inwieweit die Erkrankung überhaupt in Afghanistan behandelbar ist. Der Sohn stellte sich am … November 2015 im Klinikum … mit Sinusitis und Fieber sowie Ganzkörperschmerzen vor. Von dort wurde er am … November 2015 in die … verlegt, wo die akute lymphatische Leukämie (Blutkrebs) festgestellt wurde. Am … November 2015 begann bei ihm die Chemotherapie-Behandlung. Seitdem befindet er sich fortlaufend in ärztlicher Behandlung der genannten Kinderklinik. Ende letzten Jahres hatte der Sohn zudem noch einen zentralen Hickmankatheter, welcher ein großes Infektionsrisiko darstelle und mindestens einmal wöchentlich gespült werden muss. Auch nach Beendigung der Intensivphase der Chemotherapie wird der Sohn noch eine orale Erhaltungschemotherapie mit Methotrexat und 6-Mercaptopurin in Tablettenform sowie regelmäßige Liquorpunktionen mit jeweiliger intrathekaler Methotrexat-Gabe (in den Spinalkanal) in Kurznarkose bis zu einer Gesamttherapiedauer von zwei Jahren benötigen. Während dieser Phase müssten mindestens in ein- bis zweiwöchentlichen Abständen Blutwertkontrollen sowie klinische Kontrollen erfolgen und jeweils die Dosierung der Medikamente angepasst werden. Eine Unterbrechung der Therapie und eine schlechte Einstellung der oralen Chemotherapie würde das gesamte bisherige Ergebnis extrem gefährden und sei mit einem hohen Rückfallrisiko verbunden. Falls ein Rezidiv eintrete, werde der Sohn eine allogene Stammzelltransplantation benötigen, um eine Überlebenschance zu haben. Im Heimatland der Kläger Afghanistan sei weder eine Fortführung der oralen Erhaltungschemotherapie noch die Kontrolle der Blutwerte oder die Applikation von Methotrexat in den Spinalkanal möglich, somit müsste der Sohn während dieser Phase (26.11.2017) in Deutschland bleiben, um nicht der Lebensgefahr ausgesetzt zu sein (Arztbericht der … 12.2016). Aufgrund der individuellen Verhältnisse der Kläger, insbesondere der schweren Erkrankung des ältesten Sohnes, liegt damit trotz eines in Afghanistan noch lebenden Familienverbandes, dessen Unterstützung weder gewiss noch ausreichend ist, und der derzeit allgemein bestehenden schlechten Lebensbedingungen in Afghanistan ein außergewöhnlicher Fall vor, in dem die humanitären Gründe gegen die Ausweisung „zwingend“ sind. Im Rahmen einer Gesamtschau steht zu befürchten, dass die Kläger bei einer Rückkehr nach Afghanistan in eine ausweglose Lage geraten, die ihnen nicht zugemutet werden kann. Ein Abschiebungshindernis gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG liegt daher vor.
4. Aufgrund dessen waren auch die Abschiebungsandrohung in Nr. 5 und das auf 30 Monate festgesetzte Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 AufenthG (Nr. 6) aufzuheben.
5. Die Kostenentscheidung beruht hinsichtlich des zurückgenommenen Teils der Klage auf § 155 Abs. 2 VwGO, im Übrigen auf § 154 Abs. 1 VwGO und berücksichtigt die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zur Kostenteilung in Asylverfahren (vgl. z.B. Beschluss vom 29.6.2009 – 10 B 60/08 – juris). Das Verfahren ist gemäß § 83 b AsylVfG gerichtskostenfrei. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.
6. Unter Bezugnahme auf die vorgenannten Ausführungen war der Klagepartei für die Rechtsverfolgung eines Anspruchs auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 AufenthG gemäß § 167 VwGO, §§ 114 ff., 121 Abs. 2, 3 ZPO Prozesskostenhilfe unter Beiordnung ihres Prozessbevollmächtigten zu gewähren, da die Rechtsverfolgung nicht mutwillig war und insofern für die Rechtsverfolgung hinreichende Aussicht auf Erfolg bestand. Die Vertretung der Klagepartei durch einen Rechtsanwalt im Klageverfahren erscheint erforderlich. Soweit die Klagepartei ihre Klage im Übrigen zurückgenommen hat, fehlt es an einer beabsichtigten Rechtsverfolgung im Sinne des § 114 Satz 1 ZPO. Eine vor der Entscheidung über die Bewilligung erklärte Klagerücknahme führt daher stets zur Versagung der Prozesskostenhilfe (Geiger in Eyermann, VwGO, 14. Aufl. 2014, § 166 Rn. 27).
7. Die Entscheidungen über die Einstellung des Verfahrens (Nr. I des Tenors) und die Bewilligung von Prozesskostenhilfe (Nr. V des Tenors) sind unanfechtbar (§ 80 AsylG).


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