Verwaltungsrecht

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft

Aktenzeichen  W 8 K 19.32100

Datum:
10.2.2020
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2020, 2029
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
GG Art. 16a Abs. 1
VwGO § 86 Abs. 1 S. 1, § 102 Abs. 2, § 113 Abs. 1 S. 1, Abs. 5 S. 1
AsylG § 3, § 3e, § 4, § 25, § 77 Abs. 2
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1

 

Leitsatz

Einem jungen und erwerbsfähigen Mann ist zuzumuten, zur Sicherung seines Existenzminimums den notwendigen Lebensunterhalt durch Erwerbstätigkeit zu verdienen und gegebenenfalls auf die Unterstützung durch Familienangehörige der in Algerien noch lebenden (Groß-)Familie zurückzugreifen. (Rn. 21) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen
II. Der Kläger hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Die Klage, über die entschieden werden konnte, obwohl von den Beteiligten in der mündlichen Verhandlung keiner erschienen ist (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist zulässig, aber unbegründet.
Der Bescheid des Bundesamtes für … vom 13. November 2019 ist rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten. Der Kläger hat keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG sowie auf Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a Abs. 1 GG. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG sowie für die Feststellung von Abschiebungsverboten nach des § 60 Abs. 5 und Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegen nicht vor. Die Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung sowie die Befristung des Einreise- und Aufenthaltsverbots sind ebenfalls nicht zu beanstanden (§ 113 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 5 Satz 1 VwGO). Das Gericht folgt im Ergebnis sowie in der wesentlichen Begründung dem angefochtenen Bescheid und sieht insoweit von einer weiteren Darstellung der Entscheidungsgründe ab (§ 77 Abs. 2 AsylG).
Eine Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a Abs. 1 GG kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil der Kläger nach seinen eigenen Angaben auf dem Landweg aus einem Mitgliedstaat der Europäischen Gemeinschaft in die Bundesrepublik Deutschland eingereist ist (Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG).
Das Gericht kommt aufgrund der zum Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens gemachten Erkenntnismittel – ebenso wie das Bundesamt im angefochtenen Bescheid – zu dem Ergebnis, dass dem Kläger bei einer Rückkehr nach Algerien keine politische Verfolgung oder sonst eine ernsthafte Gefahr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohte oder droht (vgl. auch BayVGH, B.v. 29.10.2018 – 15 ZB 18.32711 – juris; B.v.14.8.2018 – 15 ZB 18.31693 – juris).
Ein Ausländer darf gemäß § 3 ff. AsylG nicht in einen Staat abgeschoben werden, in dem sein Leben oder seine Freiheit wegen seiner Rasse, Religion, Staatsangehörigkeit, seiner Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder wegen seiner politischen Überzeugung bedroht ist. Verfolgungshandlungen müssen an diese Gründe anknüpfend mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (siehe zum einheitlichen Wahrscheinlichkeitsmaßstab BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25/10 – BVerwGE 140, 22; U.v. 27.4.2010 – 10 C 5/09 – BVerwGE 136, 377). Eine beachtliche Verfolgungswahrscheinlichkeit liegt dann vor, wenn die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Maßgebend ist letztlich, ob es zumutbar erscheint, dass der Ausländer in sein Heimatland zurückkehrt (BVerwG, U.v. 3.11.1992 – 9 C 21/92 – BVerwGE 91, 150; U.v. 5.11.1991 – 9 C 118/90 – BVerwGE 89, 162). Über das Vorliegen einer mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit gegebenen Gefahr politischer Verfolgung entscheidet eine wertende Gesamtbetrachtung aller möglichen verfolgungsauslösenden Gesichtspunkte, wobei in die Gesamtschau alle Verfolgungsumstände einzubeziehen sind, unabhängig davon, ob diese schon im Verfolgerstaat bestanden oder erst in Deutschland entstanden und von dem Ausländer selbst geschaffen wurden oder ob ein Kausalzusammenhang zwischen dem nach der Flucht eingetretenen Verfolgungsgrund und entsprechend den schon in dem Heimatland bestehenden Umständen gegeben ist (BVerwG, U.v. 18.2.1992 – 9 C 59/91 – Buchholz 402.25, § 7 AsylVfG Nr. 1).
Aufgrund seiner prozessualen Mitwirkungspflicht hat ein Kläger (oder eine Klägerin) seine (ihre) Gründe für seine politische Verfolgung schlüssig und vollständig vorzutragen (§ 25 Abs. 1 und 2 AsylG, § 86 Abs. 1 Satz 1 2. Halbsatz VwGO). Er muss unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt schildern, aus dem sich – als wahr unterstellt – bei verständiger Würdigung die behauptete Verfolgung ergibt. Bei den in die eigene Sphäre des Klägers fallenden Ereignissen, insbesondere seinen persönlichen Erlebnissen, muss er eine Schilderung abgeben, die geeignet ist, den Abschiebungsschutz lückenlos zu tragen. Unauflösbare Widersprüche und erhebliche Steigerungen des Vorbringens sind hiermit nicht vereinbar und können dazu führen, dass dem Vortrag im Ganzen nicht geglaubt werden kann. Bleibt ein Kläger hinsichtlich seiner eigenen Erlebnisse konkrete Angaben schuldig, so ist das Gericht nicht verpflichtet, insofern eigene Nachforschungen durch weitere Fragen anzustellen. Das Gericht hat sich für seine Entscheidung die volle Überzeugung von der Wahrheit, nicht bloß von der Wahrscheinlichkeit zu verschaffen (vgl. hierzu BVerwG, U.v. 16.4.1985 – 9 C 106.84 – BVerwGE 71, 180).
Dem Kläger ist es nicht gelungen, die für seine Ansprüche relevanten Gründe in der dargelegten Art und Weise geltend zu machen, zumal in der mündlichen Verhandlung von Klägerseite niemand erschienen ist und der Kläger – wie auch sein Untertauchen belegt – offenbar kein Interesse hatte, sein Anliegen persönlich gegenüber dem Gericht zu vertreten, sowie – trotz Aufforderung nach § 87b Abs. 3 VwGO – überhaupt keine Klagebegründung oder sonst ein relevantes Vorbringen erfolgte. Unter Zugrundelegung der (früheren) Angaben des Klägers ist das Gericht nicht davon überzeugt, dass eine begründete Gefahr (politischer) Verfolgung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit bestand bzw. besteht oder sonst eine ernsthafte Gefahr drohte oder droht.
Das Bundesamt hat im streitgegenständlichen Bescheid schon zutreffend ausgeführt, dass den vorgetragenen Handlungen kein Verfolgungsgrund i.S.d. § 3b AsylG zugrunde liege. Zwischen der Verfolgung und Flucht wegen der Bedrohung der Brüder des Unfallopfers bestehe kein Kausalzusammenhang. Der Kläger habe keine aktuellen Vorfälle vorgebracht, die zuletzt zur Ausreise geführt hätten. Der Unfall sei bereits 2012 gewesen. Bis zur Ausreise 2018 sei offensichtlich nichts passiert. Dem Kläger sei es vor der Ausreise gelungen, sich durch Umzüge von den Brüdern des Unfallopfers zu schützen und in Sicherheit zu bringen. So sei es ihm sogar möglich gewesen, zuletzt mit seinen Eltern und Geschwistern zusammenzuleben. Eine Unterschreitung des wirtschaftlichen Existenzminimums sei nicht zu befürchten. Dem Kläger sei es zumutbar, den Lebensunterhalt durch einfache und gegebenenfalls befristete Tätigkeiten zu sichern. Dem Kläger sei es in der Vergangenheit möglich gewesen, sich nicht nur seinen Lebensunterhalt zu verdienen, sondern auch die Fluchtkosten anzusparen. Im Einzelnen kann auf die zutreffenden Ausführungen im streitgegenständlichen Bescheid Bezug genommen werden.
Weiter ist auch nicht anzunehmen, dass dem Kläger sonst bei einer Rückkehr politische Verfolgung droht, etwa wegen seines Auslandsaufenthalts oder seiner Asylantragstellung in Deutschland (VG Stuttgart, U.v. 27.1.2015 – A 5 K 4824/13 – juris). Eine betreffende Strafverfolgung verfolgt jedenfalls keine asylerhebliche Zielsetzung, selbst wenn eine illegale Ausreise, also ein Verlassen des Landes ohne gültige Papiere, mit einer Bewährungsstrafe oder einer Geldstrafe geahndet werden kann (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Demokratischen Volksrepublik Algerien vom 5.6.2019, Stand: Mai 2019, S. 21). Zudem ist zweifelhaft, ob das Gesetz in der Praxis auch angewendet wird, da die algerischen Behörden erklärt haben, dass Gesetz solle nur abschreckende Wirkung entfalten (BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Algerien vom 16.12.2019, S. 30). Aber selbst eine drohende Bestrafung wäre weder flüchtlings- noch sonst schutzrelevant.
Des Weiteren ist darauf hinzuweisen, dass die allgemeine Gefahr, dass einem Ausländer in einem anderen Staat Strafverfolgung drohen könnte, und die konkrete Gefahr einer nach der Rechtsordnung eines anderen Staates gesetzmäßigen Bestrafung einer Abschiebung nicht entgegenstehen (§ 60 Abs. 6 AufenthG).
Schließlich droht dem Kläger bei einer eventuellen Rückkehr nach Algerien auch keine Verfolgung bzw. ernsthafte Gefahr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit seitens Dritter – konkret den Brüdern des Unfallopfers -, weil er insoweit zum einen gehalten ist, sich an die staatlichen Stellen zu wenden, um um Schutz nachzusuchen, und weil zum anderen für ihn eine zumutbare inländische Flucht- bzw. Aufenthaltsalternative besteht (vgl. § 3e, § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG). Abgesehen davon ist schon fraglich, ob seitens der Brüder des Unfallopfers nach seiner Ausreise und nach dem langen Zurückliegen des Unfalls im Jahr 2012 überhaupt (noch) ein Interesse besteht, gegen den Kläger tatsächlich gewaltsam vorzugehen. Jedenfalls besteht für den Kläger in Algerien eine zumutbare inländische Aufenthaltsalternative, wenn er sich in einen anderen Teil des Landes, insbesondere in einer anderen Großstadt Algeriens niederlässt (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der demokratischen Volksrepublik Algerien vom 25.6.2019, Stand: Mai 2019, S. 16 f.). Der Kläger muss sich auf interne Schutzmöglichkeiten in seinem Herkunftsland verweisen lassen. Das Auswärtige Amt sieht selbst für den Fall der Bedrohung durch islamistische Terroristen in den größeren Städten Algeriens ein wirksames (wenn gleich nicht vollkommenes) Mittel, um einer Verfolgung zu entgehen. Es ist nicht erkennbar, dass die Brüder des Unfallopfers den Kläger ohne weiteres auffinden können sollten, wenn er seinen ursprünglichen Heimatort meidet und in andere Großstädte geht. Angesichts der Größe Algeriens und der Größe der dortigen Städte, hält es das Gericht nicht für beachtlich wahrscheinlich, dass der Kläger fürchten müsste, von den Brüdern des Unfallopfers entdeckt und gefährdet zu werden. Darüber hinaus ist nicht auszuschließen, dass bei gewalttätigen Übergriffen nicht doch die Polizei schutzwillig und schutzfähig wäre, wenn auch ein absoluter Schutz naturgemäß nicht gewährleistet werden kann (vgl. VG Minden, B.v. 30.8.2019 – 10 L 370/19.A – juris; U.v. 28.3.2017 – 10 K 883/16.A – juris; U.v. 22.8.2016 – 10 K 821/16.A – juris; VG Magdeburg, U.v. 6.12.2018 – 8 A 206/18 – juris; BayVGH, B.v. 29.10.2018 – 15 ZB 18.32711 – juris; VG Köln, B.v. 24.8.2016 – 3 L 1612/16.A – juris; SaarlOVG, B.v. 4.2.2016 – 2 A 48/15 – juris).
Das Gericht hat des Weiteren keine durchgreifenden Zweifel, dass dem Kläger im Anschluss an seiner Rückkehr die Sicherung seiner wirtschaftlichen Existenz möglich sein wird. Dem Kläger ist es zuzumuten, sich eine Arbeit zu suchen, bzw. es besteht die Möglichkeit der Unterstützung von noch in Algerien lebenden Familienmitgliedern, so dass er sich jedenfalls sein Existenzminimum sichern kann. Gegenteiliges folgt auch nicht aus der wirtschaftlichen und sozialen Lage Algeriens, wie auch das Bundesamt im streitgegenständlichen Bescheid ausgeführt hat. In Algerien ist die Grundversorgung der Bevölkerung mit Nahrungsmitteln und auch die medizinische Grundversorgung gewährleistet (vgl. Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Demokratischen Volksrepublik Algerien vom 25.6.2019, Stand: Mai 2019, S. 8 f. und 20 f.; BFA, Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Algerien vom 16.12.2019, S. 27 ff.). Der Kläger ist noch jung und erwerbsfähig; ihm ist zuzumuten zur Sicherung seines Existenzminimums den notwendigen Lebensunterhalt durch Erwerbstätigkeit zu verdienen und gegebenenfalls auf die Unterstützung durch Familienangehörige der in Algerien noch lebenden (Groß-)Familie zurückzugreifen. Letztlich ist dem Kläger eine (Re-)Integration in die Lebensverhältnisse seines Heimatstaates möglich und zumutbar (ebenso VG Minden, B.v. 30.8.2019 – 10 L 370/19.A – juris; U.v. 28.3.2017 – 10 K 883/16.A – juris; U.v. 22.8.2016 – 10 K 821/16.A – juris; BVerwG, U.v. 25.4.2019 – 1 C 46/18 – InfAuslR 2019, 309; U.v. 27.3.2018 – 1 A 5/17 – Buchholz 402.242, § 58a AufenthG Nr. 12; VG Stade, U.v. 1.4.019 – 3 A 32/18 – juris; VG Magdeburg, U.v. 6.12.2018 – 8 A 206/18 – juris; VG Köln, B.v. 24.8.2016 – 3 L 1612/16.A – juris).
Nach dem vorstehend Gesagten sind weiter insgesamt betrachtet keine Anhaltspunkte ersichtlich, dass die Voraussetzungen für die Zuerkennung des subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG oder von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt wären. Im Übrigen wird auf den angefochtenen Bundesamtsbescheid Bezug genommen und von einer weiteren Darstellung der Gründe abgesehen (§ 77 Abs. 2 AsylG). Dies gilt auch hinsichtlich der Begründung der Ausreiseaufforderung und Abschiebungsandrohung sowie der Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots.
Nach alledem war die Klage mit der Kostenfolge aus § 154 Abs. 1 VwGO, § 83b AsylG abzuweisen.


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