Verwaltungsrecht

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft – Englisch-Lehrer aus Kabul

Aktenzeichen  W 1 K 16.32273

Datum:
29.11.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 3 Abs. 1

 

Leitsatz

In Afghanistan sind u.a. Lehrkräfte in besonderer und zunehmender Weise der Verfolgung durch gegen die Regierung agierende Gruppierungen, insbesondere der Taliban, ausgesetzt. (Rn. 17) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 AsylG zuzuerkennen. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 11. November 2016 wird aufgehoben, soweit er dieser Verpflichtung entgegensteht.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht der Kläger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leistet.

Gründe

Die zulässige Klage, über die trotz des Ausbleibens eines Vertreters der Beklagten in der mündlichen Verhandlung verhandelt und entschieden werden konnte (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist auch begründet. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1, Abs. 4 AsylG. Der Ablehnungsbescheid des Bundesamtes vom 11. November 2016 ist daher, soweit er noch Gegenstand der Klage ist und der Verpflichtung zur Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft entgegensteht, rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1, Abs. 4 AsylG.
Rechtsgrundlage der begehrten Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft ist vorliegend § 3 Abs. 4 und Abs. 1 AsylG. Danach wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, soweit er keinen Ausschlusstatbestand nach § 60 Abs. 8 Satz 1 AufenthG erfüllt. Ein Ausländer ist Flüchtling i.S.d. Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (Genfer Konvention – GK), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Nach § 77 Abs. 1 AsylG ist vorliegend das Asylgesetz in der Fassung der Bekanntmachung vom 2. September 2008 (BGBl I S. 1798), das zuletzt durch Artikel 2 des Gesetzes vom 20. Juli 2017 (BGBl I S. 2780 ff.) geändert worden ist (AsylG), anzuwenden. Dieses Gesetz setzt in §§ 3 bis 3e AsylG – wie die Vorgängerregelungen in §§ 3 ff. AsylVfG – die Vorschriften der Art. 6 bis 10 der Richtlinie 2011/95/EU vom 28. August 2013 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Amtsblatt Nr. L 337, S. 9) – Qualifikationsrichtlinie (QRL) im deutschen Recht um. Nach § 3a Abs. 1 AsylG gelten als Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 AsylG Handlungen, die aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen, insbesondere der Rechte, von denen nach Art. 15 Abs. 2 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten vom 4. November 1950 – EMRK (BGBl 1952 II, S. 685, 953) keine Abweichung zulässig ist (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, einschließlich einer Verletzung der Menschenrechte, bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 AsylG muss die Verfolgung an eines der flüchtlingsrelevanten Merkmale anknüpfen, die in § 3b Abs. 1 AsylG näher beschrieben sind, wobei es nach § 3b Abs. 2 AsylG ausreicht, wenn der betreffenden Person das jeweilige Merkmal von ihren Verfolgern zugeschrieben wird. Nach § 3c AsylG kann eine solche Verfolgung nicht nur vom Staat, sondern auch von nicht-staatlichen Akteuren ausgehen.
1. Der Kläger hat vorliegend substantiiert, detailreich, lebensnah und ohne Steigerungen oder Übertreibungen geschildert, dass er fünf Tage vor seiner Ausreise aus Afghanistan abends auf dem Nachhauseweg von seiner Arbeitsstelle als Englischlehrer überwältigt und entführt worden sei. Er sei in ein Haus zu einem Mullah gebracht worden, der ihn aufgefordert habe, mit ihnen in den Dschihad zu ziehen und den bislang ausgeübten Englischunterricht zu unterlassen. Wenn er der Forderung nicht nachkomme, werde er umgebracht. Um dieser Nachdruck zu verleihen, sei er intensiv geschlagen und getreten und schließlich ein Zehennagel mit einer Zange abgezogen worden. Das Gericht konnte sich in der mündlichen Verhandlung von dem fehlenden Nagel überzeugen. Die den Kläger gefangen haltenden Personen hätten sich dann entfernt, um das Abendgebet zu sprechen und sich zuvor verständigt, den Kläger danach zu töten. Dieser habe in seiner Angst nach einem Aus Weg gesucht und sei dann über ein kleines Fenster im Bad ins Freie entkommen. Von dort sei er rund eineinhalb Stunden geflohen und habe sich für den Rest der Nacht versteckt gehalten. Am nächsten Morgen sei er an eine Straße gelangt und per Anhalter schließlich nach Hause gekommen, wo er von seiner Mutter verarztet worden sei und sich bis zu seiner vom Vater organisierten Ausreise vier Tage später versteckt gehalten habe.
Der Kläger hat auf den erkennenden Einzelrichter in der mündlichen Verhandlung einen in jeder Hinsicht glaubwürdigen und überzeugenden persönlichen Eindruck gemacht. Er hat an mehreren Stellen seiner informatorischen Anhörung unter dem Eindruck seiner Erinnerungen an die seinerzeitigen Erlebnisse erkennbar übermannt von seinen Gefühlen reagiert, ohne dass das Gericht hierbei den Eindruck gewonnen hat, dass es sich hierbei um eine zielgerichtet nach außen dargestellte Gefühlsregung gehandelt hätte. Der Kläger hat vorstehend skizziertes Vorbringen vor dem Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung übereinstimmend und widerspruchsfrei vorgetragen. Auf Fragen des Gerichts konnte der Kläger stets ohne Zögern flüssig und nachvollziehbar antworten.
Auch stehen die Schilderungen des Klägers hinsichtlich der Phase vor der Entführung der Glaubhaftigkeit seines Vorbringens nicht entgegen. Es erscheint vielmehr durchaus lebensnah nachvollziehbar, dass man sich an einzelne Personen, die sich an einem bestimmten Ort aufhalten, erinnert, ohne dass man diesen eine besondere oder gar gefahrenträchtige Bedeutung beimisst, zumal der Kläger in der mündlichen Verhandlung erläutert hat, dass die beiden Männer auch Besucher eines Englischkurses hätten sein können, da sie Bücher bei sich getragen hätten. Dass sich der Kläger nach seiner Entführung an diese Personen und den Zeitraum ihrer Beobachtung (wie sich im Nachhinein herausgestellt hat) erinnert, erscheint vielmehr durchaus lebensnah und überzeugend. Der Kläger hat insgesamt hinreichend genau und detailliert seine Verfolgungsgründe geschildert, wofür nicht zu fordern ist, dass ein Kläger von sich aus zu jeglichen Details des Verfolgungsgeschehens eine Schilderung abgibt, hier etwa zu den Schmerzen bei der Flucht aufgrund des entfernten Zehennagels. Hierauf explizit angesprochen hat der Kläger vor Gericht aber schlüssig und plausibel darlegen können, dass er auch im Fuß große Schmerzen gehabt habe, die Entführer jedoch angekündigt hätten, ihn umzubringen und ihn letztlich die unmittelbare Lebensgefahr die Schmerzen hat aushalten lassen. Auch die Ausführungen des Klägers im Zusammenhang mit seiner Tazkira und deren Übersetzung in die englische Sprache stehen der Glaubhaftigkeit des Verfolgungsvortrages im Ergebnis nicht entgegen. Zum einen geht das Bundesamt in der Einschätzung fehl, dass es sich bei dem auf der Tazkira befindlichen Datum um das Übersetzungsdatum gehandelt hat. Der 3. November 2015 ist vielmehr das Ausgabedatum der Tazkira (Date of Issue), an dem nicht auch zwangsläufig die Übersetzung erfolgt sein muss. Wie der Kläger in der mündlichen Verhandlung vielmehr überzeugend erklärt hat, sei die Übersetzung von ihm am 26. Dezember 2015 beantragt worden, am 28. Dezember 2015 habe er diese erhalten, was in Übereinstimmung mit seinen diesbezüglichen Erklärungen vor dem Bundesamt steht. Der Kläger hat vor Gericht überdies nunmehr angegeben, dass er die Übersetzung hat anfertigen lassen, weil er an der amerikanischen Universität in Kabul habe studieren wollen und diese Einrichtung eine Übersetzung verlangt habe. Darauf angesprochen, warum er dies vor dem Bundesamt nicht gesagt habe, führte der Kläger aus, dass er dies seinerzeit vergessen habe; er habe in der Nacht vor der Anhörung damals nicht schlafen können. Die Klägerbevollmächtigte hat in diesem Zusammenhang ausgeführt, dass der Kläger im Zusammenhang mit wichtigen Terminen stets sehr nervös sei; so habe er sich bei drei verschiedenen Caritas-Mitarbeitern nach dem Verhandlungstermin beim Verwaltungsgericht erkundigt, um diesen auf keinen Fall zu verpassen. Dieser Eindruck hat sich auch für den erkennenden Einzelrichter in der mündlichen Verhandlung bestätigt. Letztlich hat der Kläger auf Vorhalt des Gerichts nochmals glaubhaft bestätigt, dass er die Übersetzung für sein geplantes Studium habe anfertigen lassen. In Deutschland habe er sie dann auch dazu genutzt, um gegenüber dem Bundesamt seine afghanische Staatsbürgerschaft nachzuweisen, was seine Aussage beim Bundesamt erklären kann, dass er die Übersetzung „für Sie“ (also die deutschen Behörden) habe anfertigen lassen. Nach dem 10. Januar 2016 habe er die Übersetzung nicht mehr anfertigen lassen können, da er sich bis zu seiner Ausreise ausschließlich zuhause aufgehalten habe. Aufgrund des persönlichen Eindrucks in der mündlichen Verhandlung hält das Gericht die Aussage des Klägers vor Gericht für glaubhaft, auch vor dem Hintergrund, dass dem Kläger seine Ausführungen vor dem Bundesamt rückübersetzt worden sind. Es ist in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass es sich bei dem fraglichen Gesichtspunkt der Tazkiraübersetzung zum einen ersichtlich nicht um ein Element des zentralen Fluchtgeschehens handelt, sondern lediglich um einen das Gesamtgeschehen begleitenden Umstand. Zum anderen stellt sich die entsprechende Passage des Bundesamtsprotokolls bei objektiver Betrachtung des Ablaufs durchaus als verwirrend dar, sodass keineswegs auszuschließen ist, dass es – auch unter Einbeziehung der Rückübersetzung – zu Missverständnissen zwischen den an der Anhörung Beteiligten gekommen ist. In der Gesamtschau war dieser Aspekt aufgrund des in jeder Hinsicht glaubwürdigen Eindrucks, den der Kläger in der mündlichen Verhandlung hinterlassen hat, jedenfalls nicht geeignet, die in Afghanistan erlittene Vorverfolgung infrage zu stellen.
Die Glaubhaftigkeit des Vorbringens sowie die persönliche Glaubwürdigkeit des Klägers werden nach Überzeugung des Gerichts zusätzlich auch dadurch belegt, dass der Kläger seine eigene Lebenssituation und die seiner Familie als durchschnittlich geschildert hat und er als Lehrer an einer Privatschule bis zu seiner Ausreise einen ersichtlich hochgestellten Beruf in der afghanischen Gesellschaft ausgeübt hat. Es erscheint wenig lebensnah, dass eine Person in dieser Lebenssituation, ohne dass sie tatsächlich einer Verfolgungsgefahr im Sinne des § 3 AsylG ausgesetzt ist, ihr (gemessen an afghanischen Verhältnissen) wirtschaftlich sorgenfreies Leben im Herkunftsland aufgibt, um sich auf eine sehr teure und vor allem gefahrenträchtige Flucht zu begeben und dann im Zielland in der wirtschaftlichen und sozialen Hierarchie wieder „ganz unten anzufangen“.
Seinen Vortrag hat der Kläger darüber hinaus mit der Vorlage von Unterlagen über die Absolvierung des Abiturs in Afghanistan sowie über seine berufliche Tätigkeit als Englischlehrer belegt. Überdies steht das Vorbringen des Klägers mit der Erkenntnismittellage in Einklang. Es ist nämlich bekannt, dass in Afghanistan u.a. Lehrkräfte in besonderer und zunehmender Weise im Visier der gegen die Regierung agierenden Gruppierungen, insbesondere der Taliban, stehen und Verfolgung ausgesetzt sind, was vorliegend noch dadurch verschärft wird, dass der Kläger gerade Englischunterricht erteilt hat und an seiner Bildungseinrichtung auch Mädchen und Frauen unterrichtet wurden (vgl. etwa Schweizer Flüchtlingshilfe, Afghanistan: Update, 30.9.2016, S. 21 f.; UNHCR-Richtlinien 19.4.2016, S. 46, 63; http://www.spiegel.de/lebenundlernen/schule/uno-zu-afghanistan-hunderte-schulen-eingeschuechtert-und-bedroht-a-1087804.html).
Nach alledem ist das Gericht davon überzeugt, dass der Kläger vorverfolgt aus Afghanistan ausgereist ist. Die erlittenen körperlichen Misshandlungen stellen unzweifelhaft eine Verfolgungshandlung im Sinne des § 3a Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1 AsylG dar.
2. Darüber hinaus wurde der Kläger vorliegend auch wegen eines Verfolgungsgrundes nach § 3b AsylG in seinem Heimatland verfolgt. Dem Kläger wurde nach Überzeugung des Gerichts vorliegend von einer Anti-Regierungsorganisation, § 3c Nr. 3 AsylG, eine gegen deren Organisation gerichtete abweichende politische Überzeugung nach § 3b Abs. 1 Nr. 5 AsylG zumindest zugeschrieben, § 3b Abs. 2 AsylG. Unter dem Begriff der politischen Überzeugung ist insbesondere zu verstehen, dass der Ausländer in einer Angelegenheit, die die in § 3c genannten potentiellen Verfolger sowie deren Politiken oder Verfahren betrifft, eine Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung vertritt, wobei es unerheblich ist, ob er aufgrund dieser Meinung, Grundhaltung oder Überzeugung tätig geworden ist. Der Kläger hat vorliegend auf die Aufforderung des Mullah, sich am Dschihad zu beteiligen und mit ihnen gegen die Regierung zu arbeiten, erklärt, dass er dies nicht wolle und könne, sondern seine Nation unterstützen wolle. Hiermit hat er ausdrücklich gegenüber der Verfolgerorganisation zum Ausdruck gebracht, dass er im Gegensatz zu den Vertretern dieser Organisation auf Seiten des Staates steht und ihren Kampf gegen denselben ablehnt. Dadurch, dass der Kläger aus der Gefangenschaft geflohen ist, hat er die gegen diese Organisation gerichtete politische Überzeugung nochmals bekräftigt. Nachdem der Kläger dem Mullah mit den Worten vorgestellt worden ist, dass „sie ihm den Mann gebracht hätten, der Englisch unterrichtet“, ist auch davon auszugehen, dass der Kläger gerade wegen der ihm anfänglich zumindest unterstellten und später auch explizit geäußerten gegen die Verfolgerorganisation gerichteten politischen Überzeugung verfolgt wurde. Eine Verknüpfung zwischen der Verfolgungshandlung und dem Verfolgungsgrund der (entgegenstehenden) politischen Überzeugung im Sinne des § 3a Abs. 3 AsylG ist damit gegeben.
3. Der Kläger ist somit vorverfolgt aus seinem Heimatland ausgereist und es sind keine stichhaltigen Gründe ersichtlich, die dagegen sprächen, dass der Kläger bei seiner Rückkehr in sein Heimatland erneut verfolgt würde. Auf Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG durch den afghanischen Staat kann der Kläger nicht verwiesen werden, da dieser erkennbar nicht in der Lage ist, für die Sicherheit des Klägers zu sorgen. Die Polizei und die Sicherheitskräfte sind in Afghanistan vielmehr nicht in der Lage, wirksamen Schutz vor Verfolgung zu bieten. Wegen des schwachen Verwaltungs- und Rechtswesens bleiben Menschenrechtsverletzungen häufig ohne Sanktionen (vgl. etwa Lagebericht des Auswärtigen Amtes, 19.10.2016, S. 5, 17).
Ebenso kann der Kläger auch nicht auf internen Schutz nach § 3e AsylG verwiesen werden. Einem Ausländer wird die Flüchtlingseigenschaft nach § 3e AsylG nicht zuerkannt, wenn er in einem Teil seines Herkunftslandes keine begründete Furcht vor Verfolgung oder Zugang zum Schutz vor Verfolgung nach § 3d AsylG hat und sicher und legal in diesen Landesteil reisen kann, dort aufgenommen wird und vernünftigerweise erwartet werden kann, dass er sich dort niederlässt. Hierbei sind die allgemeinen Gegebenheiten im Herkunftsland und die persönlichen Umstände des Ausländers gemäß Art. 4 der Qualifikationsrichtlinie zu berücksichtigen. Das Gericht geht – unter Berücksichtigung des Art. 4 Abs. 4 der Qualifikationsrichtlinie – davon aus, dass der Kläger im vorliegenden Fall an keinem Ort innerhalb Afghanistans internen Schutz erlangen kann. Diese Einschätzung stützt sich insbesondere darauf, dass der Kläger glaubhaft vorgetragen hat, dass während seiner Entführung ein Foto von ihm gemacht worden sei, um es anderen Leuten zu zeigen, damit diese wüssten, was mit ihnen passiere, wenn sie nicht kooperierten. Über dieses Bild, das ohne weiteres vervielfacht und weiterverbreitet werden kann, wäre der Kläger auch an jedem anderen Ort in Afghanistan durch die Verfolgerorganisation, mutmaßlich die Taliban, leicht auffindbar. Auch ist davon auszugehen, dass die Gruppierung aufgrund ihres Vorgehens (insbesondere in Anbetracht des hergestellten Fotos) an dem Kläger ein Exempel statuieren will, sodass für diese ein gesteigertes Interesse daran besteht, des Klägers weiterhin habhaft zu werden und ihre Morddrohung letztlich in die Tat umzusetzen, nicht zuletzt auch deshalb, weil der Kläger durch seinen Beruf als Englischlehrer an einer koedukativen Bildungseinrichtung in eklatanter Weise gegen deren Ideologie verstoßen hat. Der Kläger weist damit ein erkennbar erhöhtes Risikoprofil für seine weitere Verfolgung und entsprechende Vergeltungsmaßnahmen für seine Flucht auf. Er ist aufgrund der Vorgeschichte in einer Weise exponiert, dass er als hochrangiges Angriffsziel anzusehen ist. Die Verfolgerorganisation, mutmaßlich die Taliban, ist zumindest in der Lage, ihre Gegner auch andernorts in Afghanistan grundsätzlich aufzuspüren (Dr. D., Gutachten an das OVG Lüneburg vom 30.4.2013, ACCORD: „Fähigkeit der Taliban, Personen (insbesondere Dolmetscher, die für die US-Armee gearbeitet haben) in ganz Afghanistan aufzuspüren und zu verfolgen“ vom 15. Februar 2013).
Ohne dass es von Rechts wegen noch hierauf käme, könnte vom Kläger vernünftigerweise auch nicht erwartet werden, dass er sich andernorts in Afghanistan niederlässt, da er aufgrund des beschriebenen Verfolgungsrisikos stets der Gefahr ausgesetzt wäre, aufgespürt zu werden, sodass er dazu gezwungen wäre, ein verstecktes Leben im Untergrund zu führen. Dadurch wäre es ihm jedoch nicht möglich, das für seinen angemessenen Lebensunterhalt notwendige Einkommen durch eine Erwerbstätigkeit zu verdienen. Dafür, dass der Kläger seinen Lebensunterhalt aus eigenem Vermögen oder durch die Unterstützung Dritter vollständig decken könnte, bestehen keinerlei Anhaltspunkte.
Nach alledem sprechen hinsichtlich des vorverfolgt ausgereisten Klägers keine stichhaltigen Gründe im Sinne des Art. 4 Abs. 4 der EU Qualifikationsrichtlinie dafür, dass er in Kabul vor einer erneuten politischen Verfolgung sicher wäre. Der Klage war daher stattzugeben und die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO; das Verfahren ist gemäß § 83b AsylG gerichtskostenfrei. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO, §§ 708 Nr.11, 711 ZPO.


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