Verwaltungsrecht

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für einen zum christlichen Glauben konvertierten Afghanen

Aktenzeichen  Au 5 K 16.31345

Datum:
5.11.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 27884
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Augsburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3
QRL Art. 10

 

Leitsatz

Zum Christentum konvertierte ehemalige muslimische Glaubensangehörige sind in Afghanistan gezwungen, ihren Glauben entweder ganz zu verleugnen oder ihn zumindest auch im privaten Umfeld zu verheimlichen, da anderenfalls schwerwiegende Übergriffe durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure nicht ausgeschlossen werden können und dauerhafter staatlicher Schutz derzeit – auch in bestimmten Landesteilen – nicht erreichbar ist. (Rn. 26 – 27) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 29. Juli 2016 (Gz.: …) wird in Nrn. 1, 3, 4, 5 und 6 aufgehoben. Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft gemäß § 3 Abs. 1 AsylG zuzuerkennen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
II. Von den Kosten des Verfahrens trägt der Kläger 1/5, die Beklagte 4/5.
Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Gründe

Der Einzelrichter (§ 76 Abs. 1 AsylG) konnte über die Klage des Klägers verhandeln und entscheiden, ohne dass die Beklagte an der mündlichen Verhandlung vom 5. November 2018 teilgenommen hat. Auf den Umstand, dass beim Ausbleiben eines Beteiligten auch ohne ihn verhandelt und entschieden werden kann, wurden die Beteiligten ausweislich der Ladung ausdrücklich hingewiesen (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung – VwGO). Die Beklagte ist zur mündlichen Verhandlung form- und fristgerecht geladen worden.
Die zulässige Klage erweist sich als überwiegend begründet. Der Kläger besitzt einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft i.S.d. § 3 Abs. 1 AsylG (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Bescheid des Bundesamtes vom 29. Juli 2016 war daher antragsgemäß in den Nrn. 1, 3 bis 6 aufzuheben. Soweit der Kläger darüber hinausgehend seine Anerkennung als Asylberechtigter i.S.v. Art. 16a Grundgesetz (GG) beantragt, erweist sich die Klage zwar als zulässig, aber unbegründet. Insoweit war die Klage abzuweisen.
1. Der Kläger hat einen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 AsylG. Er darf deshalb nach § 60 Abs. 1 Satz 1 AufenthG nicht nach Afghanistan abgeschoben werden.
a) Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Ein Ausländer ist nach § 3 Abs. 1 AsylG Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560 – Genfer Flüchtlingskonvention), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb seines Herkunftslandes befindet. Eine Verfolgung i.S. des § 3 AsylG kann nach § 3c Nr. 3 AsylG auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder ihn beherrschende Parteien oder Organisationen einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor der Verfolgung zu bieten.
Nach Art. 10 Abs. 1 Buchst. b der Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes (Qualifikationsrichtlinie – QualfRL) vom 13. Dezember 2011 (ABl EU Nr. L 337/9) umfasst der Begriff der Religion insbesondere theistische, nichttheistische und atheistische Glaubensüberzeugungen, die Teilnahme bzw. Nichtteilnahme an religiösen Riten im privaten oder öffentlichen Bereich, allein oder in Gemeinschaft mit anderen, sonstige religiöse Betätigungen oder Meinungsäußerungen und Verhaltensweisen Einzelner oder der Gemeinschaft, die sich auf eine religiöse Überzeugung stützen oder nach dieser vorgeschrieben sind. Dabei ist nicht jeder Eingriff in das Recht auf Religionsfreiheit, der gegen Art. 10 Abs. 1 der Grundrechtscharta verstößt, bereits eine Verfolgungshandlung i.S. der Qualifikationsrichtlinie. Bei der Beurteilung der Frage, ob ein Eingriff in das Recht auf Religionsfreiheit vorliegt, der Art. 10 Abs. 1 der Grundrechtscharta verletzt und als Verfolgungshandlung zu qualifizieren ist, sind eine Reihe objektiver wie auch subjektiver Gesichtspunkte zu berücksichtigen (EuGH, U.v. 5.9.2012 – C-71/11, C-99/11 – NVwZ 2012, 1612/1614; BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – NVwZ 2013, 936/939 Rn. 28). Objektive Gesichtspunkte sind dabei insbesondere die Schwere der dem Ausländer bei Ausübung seiner Religion drohenden Verletzung anderer Rechtsgüter, wie Leib und Leben. Subjektiv ist zu berücksichtigen, ob die religiöse Handlung, die die Verfolgung auslöst, für den Einzelnen zur Wahrung seiner religiösen Identität besonders wichtig ist. Maßgeblich ist, wie der einzelne Gläubige seinen Glauben lebt und ob die verfolgungsträchtige Glaubensbetätigung für ihn persönlich nach seinem Glaubensverständnis unverzichtbar ist (BVerwG, a.a.O., Rn. 29). Zu den Handlungen, die eine schwerwiegende Verletzung der Religionsfreiheit i.S. von Art. 9 Abs. 1 der Qualifikationsrichtlinie darstellen können, gehören nicht nur gravierende Eingriffe in die Freiheit, den Glauben im privaten Rahmen zu praktizieren, sondern auch solche in die Freiheit, den Glauben öffentlich zu leben (EuGH, U.v. 5.9.2012 – C-71/11, C-99/11 – NVwZ 2012, 1612/1614; BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – NVwZ 2013, 936/938 Rn. 24). Ein hinreichend schwerer Eingriff setzt dabei nicht voraus, dass der Ausländer seinen Glauben nach der Rückkehr in sein Heimatland tatsächlich in einer Weise ausübt, die ihn der Gefahr einer Verfolgung aussetzt. Auch der unter dem Druck der Verfolgungsgefahr erzwungene Verzicht auf die Glaubensbetätigung kann die Qualität einer Verfolgung erreichen (BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – NVwZ 2013, 936/939 Rn. 26).
Es ist jedoch stets Sache des Ausländers, seine Gründe für eine Verfolgung in schlüssiger Form vorzutragen. Er hat unter Angabe genauer Einzelheiten einen in sich stimmigen Sachverhalt zu schildern, aus dem sich bei Wahrunterstellung ergibt, dass bei verständiger Würdigung seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, so dass ihm nicht zuzumuten ist, im Herkunftsland zu verbleiben oder dorthin zurückzukehren. Wegen des sachtypischen Beweisnotstands, in dem sich Flüchtlinge insbesondere im Hinblick auf asylbegründende Vorgänge im Verfolgerland vielfach befinden, genügt für diese Vorgänge in der Regel eine Glaubhaftmachung. Voraussetzung für ein glaubhaftes Vorbringen ist allerdings ein detaillierter und in sich schlüssiger Vortrag ohne wesentliche Widersprüche und Steigerungen.
b) Gemessen an diesen Maßstäben ist das Gericht der Überzeugung, dass im Fall des Klägers die erforderliche objektive und subjektive Schwere der ihm im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan drohenden Verletzung seiner Religionsfreiheit vorliegen. Ihm droht mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung i.S. des § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG in Anknüpfung an seine Religionszugehörigkeit.
aa) Nach der Überzeugung des Gerichts sind zum Christentum konvertierte ehemalige muslimische Glaubensangehörige in Afghanistan gezwungen, ihren Glauben entweder ganz zu verleugnen oder ihn zumindest auch im privaten Umfeld zu verheimlichen, da anderenfalls schwerwiegende Übergriffe durch staatliche oder nichtstaatliche Akteure nicht ausgeschlossen werden können. Dauerhafter staatlicher Schutz vor derartigen Übergriffen ist derzeit – auch nur in bestimmten Landesteilen – nicht erreichbar (VG Würzburg, U.v. 30.9.2016 – W 1 K 16.31807 – juris Rn. 23 m.w.N.; VG Dresden, U.v. 28.10.2016 – 7 K 3036/14.A – juris Rn.23).
Nach der Verfassung der Islamischen Republik Afghanistan ist der Islam die Staatsreligion. Zwar ist die Religionsfreiheit in der afghanischen Verfassung verankert. Die von Afghanistan ratifizierten internationalen Verträgen und Konventionen sind jedoch allesamt im Lichte des generellen Islamvorbehalts zu verstehen. Die Glaubensfreiheit und damit das Recht auf freie Religionswahl gelten demnach für Muslime nicht. Darüber hinaus ist die Abkehr vom Islam (Apostasie) nach Scharia-Recht auch strafbewehrt (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Islamischen Republik Afghanistan vom 31.5.2018 – im Folgenden: Lagebericht, S. 10). In der Rechtspraxis spielt die Anwendung der Scharia, nach der Konversion als Verbrechen mit der Todesstrafe zu ahnden ist, eine gewichtige Rolle, auch wenn die Todesstrafe bisher noch nie vollstreckt wurde (Lagebericht, a.a.O. S. 10 f.). Konvertiten drohen jedoch Gefahren oft auch aus dem familiären oder nachbarschaftlichen Umfeld, weil der Abfall vom Islam in der streng muslimisch geprägten Gesellschaft als Schande für die Familienehre angesehen wird. Nach den in Afghanistan vorherrschenden (sunnitischen und schiitischen) Rechtsschulen muss ein vom Islam Abgefallener zur Reue aufgefordert werden. Widerruft er seinen Glaubenswechsel nicht, so ist sein Leben nach islamischer Rechtsauffassung verwirkt. Aus diesen Gründen sind in Afghanistan zum Christentum konvertierte ehemalige Moslems gezwungen, ihren Glauben zu verheimlichen. Gottesdienste können, wie auch der Kläger geschildert hat, nur in privaten Häusern abgehalten werden. Sie können ihren Glauben nicht einmal im familiären bzw. häuslichen Umfeld ausüben (Lagebericht, a.a.O. S. 11; VG Würzburg, a.a.O. Rn. 24 m.w.N.). Damit sind zum Christentum konvertierte Moslems in Afghanistan für den Fall, dass sie ihren Glauben nicht verleugnen wollen, der Gefahr der Strafverfolgung durch Scharia-Gericht sowie erheblicher Repressalien auch im privaten Umfeld bis hin zu Ehrenmorden ausgesetzt. Wirksamen Schutz durch die Polizei oder andere staatliche Einrichtungen i.S. von § 3d AsylG können die Konvertiten nicht erwarten, da für sie nach der Verfassung die Religionsfreiheit gerade nicht gilt.
bb) Im Falle des Klägers liegt auch die erforderliche subjektive Schwere der Verletzung der Religionsfreiheit vor. Das Gericht ist von der Glaubwürdigkeit des Klägers überzeugt. Der Kläger trägt vor, wegen seines Wechsels vom muslimischen zum christlichen Glauben in Afghanistan im Falle einer Rückkehr mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Verfolgungshandlungen i.S. des § 3a Abs. 1 AsylG ausgesetzt zu sein. Seinen Glauben könne er dort nicht ohne Furcht betätigen.
Das Gericht ist nach Durchführung der mündlichen Verhandlung, der informatorischen Befragung des Klägers, der Berücksichtigung der vom Kläger im Verfahren vorgelegten Unterlagen und der Aussagen des einvernommenen Zeugen … von der Ernsthaftigkeit der Konversion des Klägers zum Christentum überzeugt. Der Kläger hat unter Bezugnahme auf seine Lebensgeschichte in der mündlichen Verhandlung überzeugend geschildert, wie er sich bereits im Iran erstmalig dem Christentum zugewandt habe. Ebenfalls glaubwürdig wurde geschildert, dass der Kläger bereits vor Erlass des streitgegenständlichen Bescheides des Bundesamtes vom 29. Juli 2016 im Jahr 2015 auch nach seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland den Kontakt zur christlichen katholischen Glaubensgemeinschaft in … gesucht habe. Der Kläger hat seine Auseinandersetzung mit dem Christentum nachvollziehbar und untermauert durch seine persönliche Lebensgeschichte mit der Flucht aus Afghanistan zunächst nach Pakistan und später in den Iran dargestellt. Die Entwicklung des Klägers im christlichen Glauben wurde auch vom einvernommenen Zeugen … hinreichend bestätigt. Insbesondere hat der Zeuge … überzeugend geschildert, dass der Kläger sich intensiv mit der Vergebung von Schuld und Sünden, die dem Islam unbekannt sei, beschäftige. Nach Aussagen des Zeugen … besucht der Kläger regelmäßig Gottesdienste, Asylkreise, Bibelkreise in …. Da die derartigen Veranstaltungen in deutscher Sprache abgehalten würden, versucht der Kläger daneben, sofern es ihm seine Zeit ermöglicht, persisch sprachige Veranstaltungen bei einer Freikirche in … zu besuchen. Mit dem Kläger werden immer wieder Gespräche über seine persönliche Situation und dem christlichen Glauben geführt. Zu berücksichtigen bleibt weiter, dass der Kläger zwischenzeitlich getauft und gefirmt worden ist. Der Zeuge … hat dem Gericht überzeugend und eindrücklich geschildert, dass es sich beim Kläger um den einzigen Asylbewerber in der katholischen Glaubensgemeinde … handelt, der die entsprechenden Sakramente empfangen hat. Der Zeuge … hat insoweit auch glaubhaft bekundet, die Ernsthaftigkeit des Glaubenswechsels beim Kläger gründlich geprüft zu haben. Taufe und Firmung würden nur vorgenommen und gespendet, wenn man sich sicher sei, dass der Tauf- bzw. Firmwerber im christlichen Glauben angekommen und verwurzelt sei. Herr … hat dem Gericht überzeugend geschildert, dass, sofern bei ihm der Eindruck entstehe, dass der Erwerb der Sakramente lediglich aus asyltaktischem Kalkül erfolgen solle, er die Spendung der Sakramente verweigere. Es handle sich schließlich um christliche Sakramente. Die Ernsthaftigkeit des Glaubenswechsels des Klägers zeige sich nach Ansicht des Zeugen … auch daran, dass der Kläger auch nach seiner Taufe am 23. Juli 2017 bis zum jetzigen Zeitpunkt häufig und regelmäßig zu den Gottesdiensten und Bibelkreisen komme. Die Taufe und Firmung des Klägers am 23. Juli 2017 war deshalb im Falle des Klägers nach Überzeugung des Gerichts nicht nur ein rein formaler Akt, sondern die Bestätigung der endgültigen Hinwendung des Klägers zum Christentum. Auch war das Vorbringen des Klägers in der mündlichen Verhandlung nicht oberflächlich oder vage, sondern durchaus substantiiert und von Ernsthaftigkeit geprägt.
Dass beim Kläger nach wie vor deutliche Defizite in christlichen Glaubensinhalten vorliegen, führt zu keiner anderen Einschätzung. Nach Auffassung des Gerichts sind diese Defizite der Tatsache geschuldet, dass es sich beim Kläger um einen Analphabeten handelt, der des Lesens und Schreibens nicht mächtig ist. So hat der Kläger auch in der mündlichen Verhandlung glaubhaft versichert, dass er zwar eine Bibel in Farsi/Dari besitze, hierin aber nicht lesen könne. Die vom Kläger überwiegend in … besuchten Gottesdienste werden nach Aussagen des Zeugen … in deutscher Sprache abgehalten. Auch insoweit besteht für den Kläger nach wie vor eine gewisse Sprachbarriere. Andererseits konnte der Kläger aber auch über das Weihnachtsfest und die Umstände der Geburt Jesu nach der Überlieferung Auskunft geben. Das Gebet „Vater unser“ konnte der Kläger in deutscher Sprache beten. Auch die Zehn Gebote waren dem Kläger dem Grunde nach geläufig. Er wusste, dass diese von Moses empfangen wurden.
Schließlich ist darauf zu verweisen, dass der Kläger nach Aussagen des Zeugen … fest in die christliche Glaubensgemeinschaft in … eingebunden sei und in diesem Rahmen auch soziale und caritative Aufgaben übernehme und erfülle. Der Kläger erkundige sich häufig, wann und in welcher Form er sich in die Glaubensgemeinschaft einbringen könne. Auch dies verstärkt für das Gericht den Eindruck, dass der Glaubenswechsel des Klägers ernsthaft und von innerer Überzeugung getragen ist und gerade nicht lediglich aus asyltaktischen Gründen vorgenommen wurde. Dies hat der als Zeuge einvernommene Herr Pfarrer … dem Gericht in dieser Form auch bestätigt.
In der Gesamtschau ist das Gericht daher zur Überzeugung gelangt, dass es für den Kläger ein unverzichtbarer Bestandteil seiner religiösen Identität ist, seinen Glauben nicht zu verheimlichen, sondern ihn gemeinsam mit anderen auszuüben, insbesondere an Gottesdiensten teilzunehmen, sich im Rahmen des Möglichen angesichts seines Bildungsstandes mit der Bibel und den christlichen Glaubensinhalten zu beschäftigen und den Glauben an andere weiter zu geben.
cc) Dem Kläger steht auch keine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung. Die bereits geschilderten Gefahren für vom Glauben abgefallene Muslime drohen in Afghanistan landesweit, auch in der Stadt Kabul. Zwar mögen insbesondere nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes Repressionen gegen Konvertiten in städtischen Gebieten aufgrund der größeren Anonymität weniger als in Dorfgemeinschaften zu befürchten sein (Lagebericht, a.a.O., S. 11). Selbst dort würde aber ein vom Glauben abgefallener Muslim unweigerlich auffallen, etwa weil er sich den vorgeschriebenen täglichen Gebeten und dem Moscheebesuch entzieht, und deshalb selbst im privaten, familiären Umfeld bedroht sein.
2. Nachdem dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen ist, ist die Grundlage für die gemäß §§ 34, 38 AsylG erlassene Abschiebungsandrohung sowie das gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG verfügte Einreise- und Aufenthaltsverbot entfallen. Der Bescheid war insoweit aufzuheben.
Über die beantragte Zuerkennung subsidiären Schutzes und die Feststellung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG war nicht mehr zu entscheiden, weil die Klage auf Gewährung internationalen Schutzes erfolgreich war (§ 31 Abs. 2, 3 Satz 2 AsylG).
3. Soweit mit der Klage darüber hinausgehend die Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter i.S.v. Art. 16a GG beantragt wurde, erweist sich die Klage als unbegründet. Einer Anerkennung des Klägers als Asylberechtigter steht insoweit bereits dessen Einreise auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland entgegen. Gemäß § 26a Abs. 1 Satz 1 AsylG kann sich ein Ausländer, der aus einem Drittstaat i.S.d. Art. 16a Abs. 2 Satz 1 GG (sicherer Drittstaat) eingereist ist, nicht auf Art. 16a Abs. 1 GG berufen. § 26a Abs. 1 Satz 2 AsylG schließt seine Anerkennung als Asylberechtigter aus. Der Kläger hat in der mündlichen Verhandlung selbst vorgetragen, ausschließlich auf dem Landweg und damit über einen sicheren Drittstaat in die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 2013 eingereist zu sein. Insoweit kommt es auch nicht mehr auf den genauen Reiseweg des Klägers an.
Nach allem war der Bescheid des Bundesamtes vom 29. Juli 2016 daher in den Nrn. 1, 3 bis 6 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. In Bezug auf den weitergehenden Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter war die Klage hingegen abzuweisen.
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO und trägt dem unterschiedlichen Unterliegen und Obsiegen der Beteiligten Rechnung. Die Gerichtskostenfreiheit folgt aus § 83b AsylG.


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