Verwaltungsrecht

Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft wegen drohender Genitalverstümmlung in Somalia

Aktenzeichen  M 11 K 16.32551

Datum:
14.9.2016
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG AsylG § 3 Abs. 1, § 3a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 6, § 26 Abs. 3 S. 1 Nr. 1-4
VwGO VwGO § 75

 

Leitsatz

Die einem minderjährigen Mädchen in Somalia drohende Genitalverstümmlung mit Verengung der Vaginalöffnung begründet die konkrete Gefahr der Verfolgung durch nichtstaatliche Akteure. (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I.
Die Beklagte wird verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
II.
Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Klägerin vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage hat Erfolg.
Die Entscheidung kann ohne mündliche Verhandlung ergehen, weil sich die Beteiligten damit individuell einverstanden erklärt haben (die Klägerseite) bzw. ein entsprechendes generelles Einverständnis vorliegt (auf Beklagtenseite sowie von der Vertretung des öffentlichen Interesses), § 101 Abs. 2 VwGO.
Die Klage ist zulässig. Die Voraussetzungen des § 75 VwGO liegen vor, da seit Asylantragstellung (kraft Gesetzes mit dem Zugang der Anzeige nach § 14 a Abs. 2 Satz 1 AsylG, § 14 a Abs. 2 Satz 3 AsylG) mittlerweile knapp 18 Monate vergangen sind, zumal es sich um einen einfachen Fall der Gewährung von Familienasyl handelt. An dem Umstand der Asylantragstellung bestehen keine Zweifel.
Die Klage ist auch begründet. Die Beklagte ist verpflichtet, der Klägerin die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen (§ 113 Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Die Klägerin hat zunächst aus dem Gesichtspunkt des Familienflüchtlingsschutzes einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Nach § 26 Abs. 3 Satz 1 i. V. m. Abs. 5 Satz 1 und 2 AsylG wird den Eltern eines minderjährigen Flüchtlingsschutzberechtigten bei Erfüllung der in § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 bis 5 AsylG genannten Voraussetzungen die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. Nach § 26 Abs. 3 Satz 2 AsylG i. V. m. Abs. 5 Satz 1 und 2 AsylG gilt für zum Zeitpunkt ihrer Antragstellung minderjährige ledige Geschwister des minderjährigen Flüchtlings Satz 1 Nr. 1 bis 4 entsprechend. Das bedeutet, dass ein zum Zeitpunkt seiner Antragstellung minderjähriges lediges Geschwister, hier die Klägerin, eines im Zeitpunkt dieser Antragstellung minderjährigen stammberechtigten Geschwisters, hier die Schwester … … … …, die als Flüchtling anerkannt ist, ebenfalls als Flüchtling anerkannt wird, wenn die weiteren Voraussetzungen von § 26 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 bis 4 AsylG erfüllt sind. Diese Voraussetzungen liegen hier vor.
Unabhängig davon hat die Klägerin außerdem eigenen eigenständigen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.
Die Klägerin hat nämlich auch deswegen Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, weil ihr in Somalia seitens nichtstaatlicher Akteure im Sinne des § 3 c Nr. 3 AsylG geschlechtsspezifische bzw. gegen Kinder gerichtete Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 i. V. § 3 a Abs. 1, Abs. 2 Nr. 6 AsylG droht und die in § 3 c Nummern 1 und 2 AsylG genannten Akteure erwiesenermaßen nicht in der Lage sind, ihr im Sinne des § 3 d Abs. 1 und 2 AsylG wirksamen Schutz vor dieser Verfolgung zu bieten.
Die Klägerin wäre, müsste sie nach Somalia ausreisen, davon bedroht, zwangsbeschnitten zu werden. In Somalia ist die stärkste Form der Beschneidung mit Verengung der Vaginalöffnung üblich (vgl. Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 1. Dezember 2015). Schutz durch ihre Familienangehörigen, insbesondere durch die Eltern, ist nicht realistisch, da, abgesehen davon, dass die Eltern in Deutschland subsidiären Schutz genießen, der entsprechende soziale und gesellschaftliche Druck in Somalia zu groß ist.
Nach alledem ist der Klage stattzugeben.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 167 VwGO i. V. m. §§ 708 ff. ZPO.


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