Zivil- und Zivilprozessrecht

Bayerisches Oberstes Landesgericht als Tatsacheninstanz im Verfahren über die Anfechtung von Justizverwaltungsakten.

Aktenzeichen  101 VA 151/20

Datum:
24.2.2021
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 2893
Gerichtsart:
BayObLG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Ordentliche Gerichtsbarkeit
Normen:
EGGVG §§ 23 ff.
BayHintG

 

Leitsatz

1. Das Bayerische Oberste Landesgericht ist als Tatsacheninstanz im Verfahren über die Anfechtung von Justizverwaltungsakten befugt, die erstmals im gerichtlichen Verfahren neu vorgetragenen Tatsachen und beigebrachten Beweise zu verwerten. (Rn. 27 – 29)
2. Bei der Entscheidung über einen Verpflichtungsantrag ist in der Regel darauf abzustellen, ob im Zeitpunkt der Entscheidung ein Rechtsanspruch auf den Erlass des begehrten Justizverwaltungsakts besteht. (Rn. 30)
3. Auch wenn erstmals im Verfahren nach §§ 23 ff. EGGVG alle nach dem BayHintG erforderlichen Voraussetzungen für die beantragte Herausgabe einer hinterlegten Geldsumme erfüllt sind, ist die Hinterlegungsstelle zum Erlass einer entsprechenden Herausgabeanordnung zu verpflichten. (Rn. 39)

Tenor

I. Der Bescheid des Amtsgerichts München – Abteilung für Hinterlegungssachen – vom 10. Juni 2020 und der Beschwerdebescheid vom 20. Oktober 2020, Az. 38 HL 899/19, werden aufgehoben.
II. Das Amtsgericht München – Abteilung für Hinterlegungssachen – wird verpflichtet, die beantragte Herausgabe eines Teilbetrags von 60.854,18 € aus der im Verfahren 38 HL 899/19 hinterlegten Geldsumme an die Antragstellerin Z. D. anzuordnen.
III. Die Entscheidung ergeht gerichtsgebührenfrei. Außergerichtliche Kosten werden nicht erstattet.
IV. Die Rechtsbeschwerde wird nicht zugelassen.

Gründe

I.
Die Antragstellerin begehrt als eine der möglichen Empfängerinnen die Auszahlung eines Teilbetrags der hinterlegten Geldsumme an sich.
Im Hinterlegungsverfahren 38 HL 515/16 waren mit Bescheiden des Amtsgerichts München vom 10. Mai 2016, 4. Juli 2016 und 8. August 2016 auf Antrag der Ersteherin die Annahme von Geldsummen von 12.000,00 € (aufgrund einer in dem Versteigerungsverfahren des Amtsgerichts München 1510 K 121/15 durch Scheck geleisteten Bietsicherheit), 11.690,71 € und 120.000,00 € zur Hinterlegung gemäß § 49 Abs. 4 ZVG angeordnet worden. Empfangsberechtigt war jeweils das Amtsgericht München – Abteilung für Zwangsvollstreckung in das unbewegliche Vermögen. Auf das Auszahlungsersuchen des Amtsgerichts München – Abteilung für Zwangsvollstreckung in das unbewegliche Vermögen – vom 31. August 2016 hatte das Amtsgericht München – Hinterlegungsstelle – mit Bescheid vom 6. September 2016 die Herausgabe der hinterlegten Geldsumme gemäß dem Ersuchen angeordnet. Danach war ein Geldbetrag von 139.095,27 € neu unter dem Aktenzeichen 38 HL 899/16 zu hinterlegen.
Ebenfalls unter dem 31. August 2016 ersuchte das Amtsgericht München – Abteilung für Zwangsvollstreckung in das unbewegliche Vermögen – das Amtsgericht München – Hinterlegungsstelle -, den Übererlös im Versteigerungsverfahren 1510 K 121/15 zur Hinterlegung anzunehmen. Die Hinterlegung sei gerechtfertigt, weil sich die Beteiligten über die Auseinandersetzung nicht geeinigt hätten (§ 117 Abs. 2 ZVG). Geleistet werde aus der Hinterlegung 38 HL 515/16. Als mögliche Empfängerinnen wurden neben der Antragstellerin weitere zwei Personen benannt. Das Amtsgericht München – Hinterlegungsstelle – ordnete mit Bescheid vom 6. September 2016 unter dem Aktenzeichen 38 HL 899/16 die Annahme der Geldsumme von 139.095,27 € zur Hinterlegung gemäß dem Ersuchen an und bezeichnete als mögliche Empfängerinnen die vom Amtsgericht München – Abteilung für Zwangsvollstreckung in das unbewegliche Vermögen – genannten Personen.
Die Antragstellerin erwirkte als Klägerin in dem vor dem Landgericht Weiden i.d. OPf. ausgetragenen Verfahren wegen Erbauseinandersetzung (Az. 11 O 373/17) ein Versäumnisurteil gegen eine der beiden weiteren möglichen Empfängerinnen als Beklagte. Die Beklagte wurde in Ziffer I. des Versäumnisurteils vom 20. Mai 2019, Az. 11 O 373/17, verurteilt, der Auseinandersetzung des Nachlasses nach dem – im einzelnen dargelegten – Teilungsplan zuzustimmen; der im Unterpunkt 3. wiedergegebene Inhalt des Teilungsplans besagt, dass der bei der Hinterlegungsstelle des Amtsgerichts München unter dem Aktenzeichen 38 HL 515/16 hinterlegte Betrag in Höhe von 139.095,27 € den Mitgliedern der Erbengemeinschaft jeweils in folgender Höhe zustehe:
– der Beklagten in Höhe von 17.386,91 €
– der Klägerin und hiesigen Antragstellerin in Höhe von 60.854,18 €
– der dritten möglichen Empfängerin in Höhe von 60.854,18 €.
In Ziffer II. 3. des Versäumnisurteils wurde die Beklagte verurteilt, zu erklären, dass der bei der Hinterlegungsstelle des Amtsgerichts München unter dem Aktenzeichen 38 HL 515/16 hinterlegte Betrag in Höhe von 139.095,27 € wie folgt auszuzahlen ist:
– an die Beklagte in Höhe von 17.386,91 €
– an die Klägerin und hiesige Antragstellerin in Höhe von 60.854,18 €
– an die dritte mögliche Empfängerin in Höhe von 60.854,18 €.
Unter Vorlage einer vollstreckbaren Ausfertigung dieses Versäumnisurteils hat die Antragstellerin mit anwaltlichem Schriftsatz vom 29. November 2019 die Auszahlung eines Teilbetrags von 60.854,18 € beantragt. Eine mit einem Rechtskraftvermerk versehene Urteilsausfertigung wurde in beglaubigter Abschrift mit Schriftsatz vom 5. Mai 2020 im Parallelverfahren 38 HL 1209/16 des Amtsgerichts München – Hinterlegungsstelle – nachgereicht, worauf die Antragstellerin im hiesigen Verfahren mit Schriftsatz vom 3. Juni 2020 hingewiesen hat.
Auf den Hinweis, dass jede Teilauszahlung durch jede Verfahrensbeteiligte zu bewilligen sei, hat die Antragstellerin mit Schriftsatz vom 2. März 2020 eine Auszahlungsbewilligung derjenigen möglichen Empfängerin vorgelegt, die nicht Partei in dem Zivilprozess vor dem Landgericht Weiden i.d. OPf. gewesen war; diese Bewilligung bezieht sich auch auf die streitgegenständliche Auszahlung von 60.854,18 € aus dem im Verfahren 38 HL 899/16 hinterlegten Betrag an die Antragstellerin.
Auf den weiteren Hinweis, dass in dem Versäumnisurteil das Hinterlegungsverfahren 38 HL 515/16 aufgeführt sei und dieses nicht mehr existiere, so dass eine hinterlegungsrechtliche Verwertung des Urteilsinhalts hinsichtlich des Verfahrens 38 HL 899/16 nicht möglich sei, hat die Antragstellerin erwidert, dass es sich um die gleiche Angelegenheit handele; das Hinterlegungsverhältnis sei hinsichtlich des sich – aus dem Verfahren 38 HL 515/16 – ergebenden Restbetrags nicht beendet gewesen; es sei lediglich eine neue Akte angelegt worden. Das Hinterlegungsverfahren 38 HL 899/16 sei ohne weiteres dem Verfahren 38 HL 515/16 zuzuordnen. Der im Verfahren 38 HL 899/16 hinterlegte Betrag stamme aus dem Verfahren 38 HL 515/16.
Mit Bescheid vom 10. Juni 2020 hat das Amtsgericht München den Antrag der Antragstellerin vom 29. November 2019 auf Herausgabe eines Teilbetrags in Höhe von 60.854,18 € abgelehnt. Zum Nachweis der Empfangsberechtigung der Antragstellerin sei das Versäumnisurteil des Landgerichts Weiden i.d. OPf. vom 20. Mai 2020, Az. 11 O 373/17, vorgelegt worden. Dieses sei jedoch hinterlegungsrechtlich nicht verwertbar, da keine Bezugnahme auf das hiesige Hinterlegungsverfahren gegeben sei. Vielmehr sei dort das Verfahren 38 HL 515/16 genannt, das durch Auszahlung beendet sei. Die Neuhinterlegung beruhe auf einem anderen Grund als die erste Hinterlegung; auch die Verfahrensbeteiligten seien nicht identisch. Die über die Neuhinterlegung informierten Beteiligten hätten der Änderung im Zivilverfahren Rechnung tragen können. Deshalb sei die Empfangsberechtigung der Antragstellerin nicht nachgewiesen.
Mit der hiergegen eingelegten Beschwerde vom 22. September 2020 hat die Antragstellerin die Meinung vertreten, der Auszahlung stehe nicht entgegen, dass das Versäumnisurteil das alte Aktenzeichen nenne. Dessen Tenor sei so auszulegen, dass mit den Anordnungen die Auszahlungen zum Aktenzeichen 38 HL 899/16 erfolgten. Aus den Umständen sei erkennbar, dass nur das Verfahren 38 HL 899/16 gemeint sein könne. Die Empfangsberechtigung sei daher nachgewiesen.
Nachdem der Beschwerde nicht abgeholfen worden war, hat die Präsidentin des Amtsgerichts München diese mit Bescheid vom 20. Oktober 2020, der Antragstellerin am 23. Oktober 2020 zugestellt, kostenpflichtig zurückgewiesen. Die Empfangsberechtigung der Antragstellerin sei nicht nachgewiesen. Das Versäumnisurteil nehme lediglich auf das Hinterlegungsverfahren 38 HL 515/16 Bezug. Es sei hinterlegungsrechtlich nicht verwertbar, da das hiesige Hinterlegungsverfahren nicht genannt sei.
Dagegen richtet sich der Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 20. November 2020, der am 23. November 2020 bei dem Bayerischen Obersten Landesgericht eingegangen ist. Die Antragstellerin wiederholt ihre bisherige Argumentation und ist der Ansicht, sie sei durch die Verweigerung der Auszahlung in ihren Rechten verletzt.
Das Aktenzeichen des Hinterlegungsverfahrens sei im Klageantrag beim Landgericht Weiden i.d. OPf. falsch bezeichnet worden; es hätte richtig 38 HL 899/16 lauten müssen. Unterlagen, dass das Verfahren 38 HL 515/16 beendet und der Guthabensbetrag zum Aktenzeichen 38 HL 899/16 neu hinterlegt worden sei, hätten nicht vorgelegen. Die Übertragung des Guthabens „zu einem anderen Aktenzeichen“ sei ihr, der Antragstellerin, nicht bewusst gewesen. Aus diesem Grund sei es im Versäumnisurteil zur Benennung des falschen Aktenzeichens gekommen. Trotz Angabe des alten Aktenzeichens könne die Auszahlung jedoch erfolgen. Der Tenor des Versäumnisurteils sei so auszulegen, dass die Anordnungen zum Aktenzeichen 38 HL 899/16 erfolgten. Es sei zwischenzeitlich ein Antrag auf Berichtigung des Urteils beim Landgericht Weiden i.d. OPf. gestellt worden.
Die Antragstellerin beantragt,
1.Der Beschwerdebescheid des Amtsgerichts München vom 20. Oktober 2020, Gz. 38 HL 899/16, wird aufgehoben.
2.Der Bescheid des Amtsgerichts München, Hinterlegungsstelle, vom 10. Juni 2020, Gz. 38 HL 899/16, wird aufgehoben.
3.Das Amtsgericht München wird verpflichtet, an die Antragstellerin den Betrag von 60.854,18 € auszuzahlen.
Der Antragsgegner beantragt,
den Antrag auf gerichtliche Entscheidung vom 20. November 2020 als unbegründet zu verwerfen.
Er verweist zur Begründung insbesondere auf die Stellungnahme des Amtsgerichts München vom 17. Dezember 2020 in der ausgeführt wird, die Antragstellerin habe die Empfangsberechtigung nicht nachgewiesen. Das Hinterlegungsverfahren 38 HL 515/16 sei beendet und die Beträge in diesem Verfahren seien ausbezahlt worden. Hinterlegende Person, Hinterlegungsgrund und Empfangsberechtigte der beiden Verfahren stimmten nicht überein. Das vorgelegte Versäumnisurteil ersetze deshalb nicht die notwendige Herausgabebewilligung der dritten möglichen Empfängerin.
Demgegenüber bringt die Antragstellerin mit Schriftsatz vom 22. Januar 2021 vor, mittlerweile habe das Prozessgericht den Tenor des Versäumnisurteils vom 20. Mai 2019 im Hinblick auf das Aktenzeichen der Hinterlegungsstelle berichtigt. Auch aus diesem weiteren Grund sei die beantragte Auszahlung vorzunehmen.
Auf Hinweis hat sie mit Schriftsatz vom 12. Februar 2021 die vollstreckbare Ausfertigung des berichtigten Versäumnisurteils des Landgerichts Weiden i.d. OPf. vom 20. Mai 2019 vorgelegt, dessen Tenor in Ziffer I. 3. und II. 3. jeweils hinsichtlich des dort genannten Aktenzeichens des Hinterlegungsverfahrens berichtigt ist. Der in Ziffer I. 3. wiedergegebene Inhalt des Teilungsplans und die entsprechende Zustimmungserklärung der Beklagten sowie deren Erklärung über die Auszahlung der hinterlegten Geldsumme in Ziffer II. 3. des Tenors betreffen danach das beim Amtsgericht München unter dem Aktenzeichen 38 HL 899/16 geführte Hinterlegungsverfahren.
II.
Der zulässige Antrag auf gerichtliche Entscheidung hat in der Sache Erfolg.
1. Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung, mit dem die Antragstellerin – nach der an ihrem wohlverstandenen Interesse orientierten Antragsauslegung – ihr Begehren auf Erlass einer Herausgabeanordnung zu ihren Gunsten nach Art. 18 Abs. 2 Nr. 1 BayHintG weiterverfolgt, ist zulässig.
Gegenstand des Rechtsbehelfs ist die Ausgangsentscheidung der Hinterlegungsstelle in der Gestalt, die sie durch die Beschwerdeentscheidung gefunden hat (Wiedemann/Armbruster, Bayerisches Hinterlegungsgesetz, 2012, Art. 8 Rn. 40; Mayer in Kissel/Mayer, GVG, 10. Aufl. 2021, § 23 EGGVG Rn. 49).
a) Der Antrag ist nach Art. 8 Abs. 3 BayHintG i. V. m. § 23 Abs. 1 und 2 EGGVG als Verpflichtungsantrag in Form des Versagungsgegenantrags statthaft. Ist mit der Entscheidung über die Beschwerde, Art. 8 Abs. 1 und 2 BayHintG, die Herausgabe des hinterlegten Gegenstandes abgelehnt worden, kann mit dem Antrag auf gerichtliche Entscheidung ein Verpflichtungsantrag nach § 23 Abs. 2 EGGVG gestellt werden (BayObLG, Beschluss vom 25. Juni 2020, 1 VA 43/20, FamRZ 2020, 1962 [juris Rn. 22]).
b) Die Antragstellerin hat das Beschwerdeverfahren nach § 24 Abs. 2 EGGVG i. V. m. Art. 8 Abs. 1 und 2 BayHintG durchlaufen. Der eine Begründung enthaltende Antragsschriftsatz ist form- und fristgemäß (§ 26 Abs. 1 EGGVG) bei dem nach § 25 Abs. 2 EGGVG i. V. m. Art. 12 Nr. 3 AGGVG zuständigen Bayerischen Obersten Landesgericht eingegangen.
c) Die Antragstellerin, die geltend macht, durch die verweigerte Anerkennung des vorgelegten Versäumnisurteils in ihren Rechten verletzt zu sein, ist antragsbefugt (§ 24 Abs. 1 EGGVG), denn nach ihrer Antragsbegründung ist ein Rechtsanspruch auf die begehrte Behördentätigkeit möglich. Dies genügt für die Zulässigkeit des Antrags (vgl. BGH, Beschluss vom 10. Februar 2016, IV AR [VZ] 8/15, NJW-RR 2016, 445 Rn. 8; BayObLG, Beschluss vom 18. November 2020, 101 VA 124/20, juris Rn. 21 m. w. N.). Ob der Anspruch tatsächlich besteht, ist eine Frage der Begründetheit.
2. Der Antrag auf gerichtliche Entscheidung ist begründet.
Die Antragstellerin hat spätestens im Verfahren nach §§ 23 ff. EGGVG Herausgabebewilligungen aller übrigen Beteiligten (Art. 20 Abs. 1 Nr. 2 BayHintG) beigebracht und auf diese Weise ihre Empfangsberechtigung nach Art. 20 Abs. 1 BayHintG nachgewiesen.
a) Das Bayerische Oberste Landesgericht ist im Verfahren über die Anfechtung von Justizverwaltungsakten (auch) Tatsacheninstanz. Soweit spezifische Verfahrensvorschriften in §§ 23 ff. EGGVG fehlen, finden zur Lückenfüllung im Verfahren vor dem Zivilsenat die Vorschriften des FamFG über das Beschwerdeverfahren (§§ 58 ff. FamFG) einschließlich der aufgrund § 68 Abs. 3 FamFG anwendbaren Vorschriften über das Verfahren im ersten Rechtszug (§§ 23 ff. FamFG) und den Allgemeinen Vorschriften (§§ 2 ff. FamFG) entsprechende Anwendung (vgl. BGH, Beschluss vom 17. März 2016, IX AR [VZ] 1/15, WM 2016, 837 Rn. 15; Mayer in Kissel/Mayer, GVG, § 29 EGGVG Rn. 2; Pabst in Münchener Kommentar zur ZPO, 5. Aufl. 2017, Vorbemerkung zu § 23 EGGVG Rn. 5 f.; Köhnlein in BeckOK GVG, 9. Ed. Stand: 15. November 2020, § 29 EGGVG Rn. 2). Danach kann der Antrag entsprechend § 65 Abs. 3 FamFG auch auf neue Tatsachen und Beweismittel gestützt werden.
Dies bedeutet nicht, dass die neuen Tatsachen und Beweismittel bereits mit der Antragsbegründung vorgebracht werden müssen. Sofern der Antrag in zulässiger Weise gestellt ist, ist vielmehr bis zum Erlass der Entscheidung (vgl. § 38 Abs. 3 Satz 3 FamFG) jedes Vorbringen in Bezug auf den Verfahrensgegenstand zur Kenntnis nehmen und im Rahmen der Begründetheitsprüfung zu würdigen (vgl. Obermann in BeckOK FamFG, 37. Ed. Stand: 1. Januar 2021, § 65 Rn. 14 f.; Bumiller in Bumiller/Harders/Schwamb, FamFG, 12. Aufl. 2019, § 65 Rn. 2 f.; Sternal in Keidel,
FamFG, 20. Aufl. 2020, § 65 Rn. 12; Borth/Grandel in Musielak/Borth, FamFG, 6. Aufl.
2018, § 65 Rn. 3).
Der Senat ist deshalb nicht darauf beschränkt, die angegriffene Maßnahme der Justizverwaltung unter Zugrundelegung des von der Justizbehörde festgestellten Sachverhalts in rechtlicher Hinsicht zu überprüfen, sondern befugt, die erstmals im gerichtlichen Verfahren neu vorgetragenen Tatsachen und beigebrachten Beweise zu verwerten (vgl. Mayer in Kissel/Mayer, GVG, § 29 Rn. 3).
Auch eine Veränderung der Sachlage kann den Antrag in der Sache rechtfertigen und zur Aufhebung der angefochtenen Maßnahme der Justizverwaltung führen, selbst wenn diese nach der damaligen Sachlage zu Recht ergangen war (vgl. Sternal in Keidel, FamFG, § 65 Rn. 10). Denn bei der nach § 28 Abs. 2 EGGVG zu treffenden Entscheidung über einen Verpflichtungsantrag ist in der Regel darauf abzustellen, ob im Zeitpunkt der Entscheidung ein Rechtsanspruch auf den Erlass des begehrten Justizverwaltungsakts besteht (vgl. Mayer in Kissel/Mayer, GVG, § 28 EGGVG Rn. 7; Schreiber in Wieczorek/Schütze, ZPO, 4. Aufl. 2018, § 28 Rn. 11). Für Verpflichtungsklagen im verwaltungsgerichtlichen Verfahren ist dies anerkannt (vgl. Decker in BeckOK VwGO, 56. Ed. Stand 1. Januar 2021, § 113 Rn. 74; Schübel-Pfister in Eyermann, VwGO,15. Aufl. 2019, § 113 Rn. 57; Riese in Schoch/Schneider, VwGO, Stand 39. EL Juli 2020, § 113 Rn. 267; Wolff in Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 113 Rn. 90; Schenke in Kopp/Schenke, VwGO, 26. Aufl. 2020, § 113 Rn. 217; je m. w. N.). Für diejenigen öffentlich-rechtlichen Streitigkeiten über Justizverwaltungsakte, die nach § 40 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 2 VwGO i. V. m. § 23 EGGVG den ordentlichen Gerichten zugewiesen sind, gilt nichts anderes. Die Regelung in § 28 Abs. 2 EGGVG betreffend Entscheidungen über Verpflichtungsanträge ist § 113 Abs. 6 VwGO nachgebildet (vgl. Pabst in Münchener Kommentar zur ZPO, § 28 EGGVG Rn. 1; Mayer in Kissel/Mayer, GVG, § 28 EGGVG Rn. 1).
b) Im Streitfall gilt ausweislich der ordnungsgemäß gesiegelten, vollstreckbaren Ausfertigung des rechtskräftigen Versäumnisurteils des Landgerichts Weiden i.d. OPf. vom 20. Mai 2019 in der Fassung des Berichtigungsbeschlusses vom 7. Januar 2021, Az. 11 O 373/17, diejenige Willenserklärung als abgegeben, zu der die dritte mögliche Empfängerin im Verhältnis zur hiesigen Antragstellerin in Bezug auf die im Verfahren 38 HL 899/16 des Amtsgerichts München hinterlegte Geldsumme verurteilt worden ist,
§ 894 Satz 1 ZPO. Die rechtskräftige Verurteilung ersetzt die Willenserklärung der Schuldnerin, das heißt den gesamten Tatbestand der Abgabe. Sie ist als gegenüber dem richtigen Empfänger und in der vorgeschriebenen Form abgegeben anzusehen (vgl. Gruber in Münchener Kommentar zur ZPO, 6. Aufl. 2020, § 894 Rn. 15).
Nach dem tenorierten Inhalt ist die Erklärung eine Herausgabebewilligung im Sinne des Art. 20 Abs. 1 Nr. 2 BayHintG, denn der Begriff der „Bewilligung“ muss in der Erklärung nicht wörtlich enthalten sein. Erforderlich, aber auch ausreichend ist, dass sich aus der Erklärung die Zustimmung zur Auszahlung an die antragstellende Person zweifelsfrei ergibt (Wiedemann/Armbruster, Bayerisches Hinterlegungsgesetz, Art. 20 Rn. 19). Dies ist hier der Fall.
Der Umfang dieser Bewilligung (vgl. Wiedemann/Armbruster, Bayerisches Hinterlegungsgesetz, Art. 20 Rn. 19 a. E.) ist mit Blick darauf, dass das rechtskräftige Urteil nur für und gegen die Parteien des Rechtsstreits oder ihre Rechtsnachfolger wirkt (§ 325 Abs. 1 ZPO), beschränkt auf den der Antragstellerin zukommenden, in Ziff. II.
3. des Urteils bezifferten Teilbetrag von 60.854,18 € aus der hinterlegten Geldsumme.
Der Auszahlungsantrag der Antragstellerin vom 29. November 2019 ist davon gedeckt.
Die nach Art. 20 Abs. 1 Nr. 2 BayHintG erforderliche Herausgabebewilligung durch die dritte mögliche Empfängerin wird mithin durch dieses Urteil als erteilt fingiert (vgl. Wiedemann/Armbruster, Bayerisches Hinterlegungsgesetz, Art. 20 Rn. 26).
c) Die Herausgabebewilligung ist eine empfangsbedürftige verfahrensrechtliche Erklärung, die gegenüber der Hinterlegungsstelle oder gegenüber dem Antragsteller abgegeben werden kann (Wiedemann/Armbruster, Bayerisches Hinterlegungsgesetz, Art. 20 Rn. 13).
Der Zugang einer fingierten empfangsbedürftigen Willenserklärung des Schuldners wird zwar nicht nach § 894 ZPO fingiert (vgl. Gruber in Münchener Kommentar zur ZPO, § 894 Rn. 17). Allerdings ist die fingierte Willenserklärung jedenfalls der Antragstellerin – gegebenenfalls über ihre Verfahrensbevollmächtigte – zugegangen, nämlich durch Überlassung der vollstreckbaren Ausfertigung des Urteils in seiner berichtigten Fassung. Ob der weitere Zugang beim Bayerischen Obersten Landesgericht im Verfahren nach §§ 23 ff. EGGVG dem Zugang bei der Hinterlegungsstelle in seinen rechtlichen Wirkungen gleichkäme, muss daher nicht entschieden werden.
d) Indem die in der vollstreckbaren Ausfertigung verkörperte Willenserklärung urkundlich im gerichtlichen Verfahren über die Verfahrensbevollmächtigte der Antragstellerin vorgelegt worden ist, ist der Nachweis der Willenserklärung und ihres Zugangs bei der Antragstellerin geführt.
Die Zustimmungserklärung der weiteren möglichen Empfangsberechtigten hatte die Antragstellerin bereits im Hinterlegungsverfahren in schriftlicher Form beigebracht. Diese Erklärung ist unwiderruflich, Art. 20 Abs. 1 Nr. 2 Halbs. 2 BayHintG.
Somit liegen jedenfalls jetzt alle nach Art. 20 Abs. 1 Nr. 2 BayHintG erforderlichen Herausgabebewilligungen vor. Daraus ergeben sich die Berechtigung der Antragstellerin zum Empfang des zur Auszahlung verlangten Teilbetrags aus der hinterlegten Geldsumme und ein Anspruch auf entsprechende Anordnung der Herausgabe. Das Versagen der begehrten Herausgabeanordnung begründet daher eine Rechtsverletzung hinsichtlich der Antragstellerin.
Da die Sache spruchreif ist, ist die Verpflichtung der Justizbehörde auszusprechen, die beantragte Amtshandlung vorzunehmen, § 28 Abs. 2 Satz 1 EGGVG.
3. Eine Erstattung der der Antragstellerin entstandenen außergerichtlichen Kosten wird nicht angeordnet. Diese Entscheidung ergeht nach billigem Ermessen gemäß § 30 Satz 1 EGGVG. Der Umstand, dass ein Antrag Erfolg hat, reicht für eine Überbürdung der Kosten auf die Staatskasse nicht aus. Vielmehr entspricht eine Kostenerstattung im Verfahren nach §§ 23 ff. EGGVG dann billigem Ermessen, wenn sie durch besondere Umstände gerechtfertigt ist. Begründete Erfolgsaussichten allein genügen nicht, wohl aber ein offensichtlich fehlerhaftes oder gar willkürliches Verhalten der Justizbehörde (vgl. BGH, Beschluss vom 30. Januar 2008, IV AR [VZ] 3/05, juris Rn. 1; OLG Bamberg, Beschluss vom 9. Oktober 2018, 1 VAs 16/18, juris Rn. 17; KG, Beschluss vom 18. November 2014, 4 VAs 29/14, juris Rn. 8 und Beschluss vom 20. Mai 2014, 1 VA 7/14, juris Rn. 4; Herget in Zöller, ZPO, 33. Aufl. 2020, § 30 EGGVG Rn. 2; Köhnlein in BeckOK GVG, § 30 EGGVG Rn. 8 m. w. N.; Mayer in Kissel/Mayer, GVG, § 30 EGGVG
Rn. 5 m. w. N.). Diese Voraussetzung ist im Streitfall nicht erfüllt. Die Rechtsmeinung der Justizbehörde, der in seinem Wortlaut klare Titel sei in seiner nicht berichtigten Fassung im vorliegenden Hinterlegungsverfahren zum Nachweis der Empfangsberechtigung untauglich, weil die danach fingierte Willenserklärung ein bereits abgeschlossenes Hinterlegungsverfahren betreffe, ist weder offensichtlich fehlerhaft noch gar als willkürlich zu werten.
Für den erfolgreichen Antrag nach den §§ 23 ff. EGGVG fallen keine Gerichtskosten an (vgl. Nr. 15300 KV GNotKG und Nr. 15301 KV GNotKG; § 25 Abs. 1 GNotKG). Deshalb bedarf es auch keiner Geschäftswertfestsetzung.
Die gesetzlichen Voraussetzungen, unter denen die Rechtsbeschwerde zuzulassen ist, § 29 Abs. 2 EGGVG, liegen nicht vor.


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