Aktenzeichen 10 ZB 16.1778
Leitsatz
Auch vor dem Hintergrund, dass dem Strafrecht und dem Ausländerrecht unterschiedliche Gesetzeszwecke zugrunde liegen, kann von der sachkundigen strafrichterlichen Prognose bei der Beurteilung der Wiederholungsgefahr grundsätzlich nur bei Vorliegen überzeugender Gründe abgewichen werden (vgl. VGH München BeckRS 2016, 112323). (redaktioneller Leitsatz)
Verfahrensgang
Au 1 K 16.574 2016-07-19 Urt VGAUGSBURG VG Augsburg
Tenor
I.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung wird abgelehnt.
II.
Die Beklagte trägt die Kosten des Zulassungsverfahrens.
III.
Der Streitwert für das Zulassungsverfahren wird auf 5.000,– Euro festgesetzt.
Gründe
Mit ihrem Antrag auf Zulassung der Berufung wendet sich die Beklagte gegen das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichts Augsburg vom 19. Juli 2016, mit dem der Bescheid der Beklagten vom 10. März 2016 in den Nrn 1. (Ausweisung) und 2. (Befristung) aufgehoben worden ist. Anlass für die Ausweisungsentscheidung bildete die Verurteilung des Klägers zu einer Freiheitsstrafe von 2 Jahren wegen schweren sexuellen Missbrauchs eines Kindes, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde.
Der Antrag auf Zulassung der Berufung ist unbegründet. Aus dem der rechtlichen Überprüfung durch den Senat ausschließlich unterliegenden Vorbringen im Zulassungsantrag ergeben sich nicht die allein geltend gemachten ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des verwaltungsgerichtlichen Urteils im Sinne des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO.
Ernstliche Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung des Verwaltungsgerichts bestünden nur dann, wenn die Beklagte im Zulassungsverfahren einen einzelnen tragenden Rechtssatz oder eine einzelne erhebliche Tatsachenfeststellung mit schlüssigen Gegenargumenten infrage gestellt hätte (BVerfG, B. v. 10.9.2009 – 1 BvR 814/09 – juris Rn. 11). Dies ist jedoch nicht der Fall.
Das Verwaltungsgericht hat die Ausweisungs- und Befristungsentscheidung der Beklagten aufgehoben, weil unter Berücksichtigung aller Umstände und nach Abwägung des öffentlichen Ausweisungsinteresses mit dem Bleibeinteresse das Interesse des Klägers an einem weiteren Verbleib im Bundesgebiet das öffentliche Interesse an dessen Aufenthaltsbeendigung überwiege. Das Ausweisungsinteresse wiege besonders schwer (§ 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG), ein besonders schwerwiegendes oder schwerwiegendes Bleibeinteresse könne der Kläger nicht für sich beanspruchen. Im Rahmen des § 53 Abs. 2 AufenthG seien jedoch gewichtige Belange zu seinen Gunsten anzuführen. Dies seien die vergleichsweise geringe Gefahr der Begehung neuer Straftaten aufgrund seiner noch nicht abgeschlossenen Persönlichkeitsentwicklung, des positiv zu bewertenden Nachtatverhaltens, der Einstellungsänderung sowie seine nachhaltige und gute Integration in Deutschland und das Fehlen belastbarer Beziehungen zu seinem Heimatland Irak.
Die Beklagte wendet demgegenüber im Zulassungsverfahren ein, das Urteil sei bereits deshalb unrichtig, weil das Verwaltungsgericht das Bestehen einer nur geringen Wiederholungsgefahr zugunsten des Klägers bei den Bleibeinteressen berücksichtigt habe, eine Wiederholungsgefahr, egal ob sehr groß oder nur gering, spreche aber für die Ausweisung und gegen den Ausländer.
Damit hat die Beklagte aber keine Umstände aufgezeigt, aus denen sich die gesicherte Möglichkeit ergibt, dass die erstinstanzliche Entscheidung unrichtig ist. Gemäß § 53 Abs. 1 AufenthG wird ein Ausländer, dessen Aufenthalt die öffentliche Sicherheit und Ordnung gefährdet, ausgewiesen, wenn die unter Berücksichtigung aller Umstände des Einzelfalls vorzunehmende Abwägung der Interessen an der Ausreise mit den Interessen an einem weiteren Verbleib des Ausländers im Bundesgebiet ergibt, dass das öffentliche Interesse an der Ausreise überwiegt. Voraussetzung ist also zunächst eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung durch den weiteren Aufenthalt des Ausländers (st. Rspr., vgl. z. B. BayVGH, B. v. 2.11.2016 – 10 ZB 15.2656 – juris Rn. 10). Offensichtlich ist das Verwaltungsgericht vom Bestehen einer – wenn auch geringen – Wiederholungsgefahr ausgegangen, weil das Gericht nur bei Bestehen einer tatbestandsmäßigen Gefährdungslage eine Abwägungsentscheidung gemäß § 53 Abs. 1 i. V. m. § 53 Abs. 2 AufenthG vorzunehmen hat. Sodann ist eine Gegenüberstellung der im Aufenthaltsgesetz typisierten Ausweisungs- und Bleibeinteressen (§§ 54 und 55 AufenthG) vorzunehmen (BayVGH, a. a. O., Rn. 12). Auf dieser Stufe kommt das Verwaltungsgericht rechtsfehlerfrei zum Ergebnis, dass der Kläger ein besonders schwerwiegendes Ausweisungsinteresse verwirklicht hat (§ 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG), dem kein gesetzlich vertyptes Bleibeinteresse nach § 55 AufenthG gegenüber steht. Bei der sich daran anschließenden Gesamtabwägung unter Heranziehung der in § 53 Abs. 2 AufenthG genannten Kriterien ist darauf zu achten, ob per se verwirklichte Tatbestände der §§ 54 und 55 AufenthG unter Berücksichtigung des gesamten Abwägungsmaterials eine atypische Rechtsfolge auslösen, nämlich im Vergleich zur gesetzlichen Regelfolge ein höheres oder niedrigeres Ausweisungs- oder Bleibeinteresse begründen (Graßhof in Kluth/Heusch, Ausländerrecht, 2016, § § 53 Rn. 83). Dabei hat das Verwaltungsgericht zutreffend (auch) die seiner Auffassung nur noch geringfügige Gefahr der Begehung neuer Straftaten durch den Kläger berücksichtigt (vgl. auch BayVGH, a. a. O., Rn. 13) und ist daher zu dem Ergebnis gelangt, dass die durch § 54 Abs. 1 Nr. 1 AufenthG vorgegebene Regelfolge ausnahmsweise nicht eintritt. Der von der Beklagten gerügte Fehler im Abwägungsprozess liegt somit nicht vor.
Auch das Vorbringen der Beklagten, das Verwaltungsgericht habe sich mit den Aspekten, die für die Annahme einer – durchaus erheblichen – Wiederholungsgefahr sprächen, nicht hinreichend auseinandergesetzt, führt nicht zur Zulassung der Berufung wegen ernstlicher Zweifel an der Richtigkeit des Urteils. Dies gilt zunächst für die Ausführungen der Beklagten, dass das Verwaltungsgericht bei der Gefahrenprognose zu Unrecht die Ausführungen des Amtsgerichts im Strafurteil übernommen und daher einen unzutreffenden Maßstab angelegt habe. Es besteht zwar grundsätzlich keine rechtliche Bindung von Ausländerbehörden und Verwaltungsgerichten an die tatsächlichen Feststellungen und die Beurteilung des Strafrichters, also auch nicht an die strafgerichtliche Entscheidung über die Strafaussetzung zur Bewährung (st. Rspr., vgl. z. B. BVerwG, U. v. 15.1.2013 – 1 C 10.12 – juris Rn. 18 m. w. N.; BVerfG, B. v. 19.10.2016 – 2 BvR 1943/16 – juris Rn. 21). Vielmehr haben Ausländerbehörde und Verwaltungsgerichte über das Vorliegen einer hinreichenden Gefahr neuer Verfehlungen eigenständig zu entscheiden. Die strafgerichtliche Entscheidung über die Aussetzung der Strafe zur Bewährung ist aber von tatsächlicher Bedeutung für die behördliche und verwaltungsgerichtliche Sachverhaltswürdigung dahingehend, ob eine die Ausweisung rechtfertigende Gefahr gegeben ist. Auch vor dem Hintergrund, dass dem Strafrecht und dem Ausländerrecht unterschiedliche Gesetzeszwecke zugrunde liegen, kann von der sachkundigen strafrichterlichen Prognose bei der Beurteilung der Wiederholungsgefahr grundsätzlich nur bei Vorliegen überzeugender Gründe abgewichen werden (BayVGH, B. v. 27.12.2016 – 10 CS 16.2289 – Rn. 8 m. w. N.). Dies gilt namentlich bei einer Strafaussetzung nach § 56 StGB (bzw. nach § 21 Abs. 1 oder Abs. 2 JGG; vgl. Discher in GK-AufenthG, Stand: Juli 2016, vor §§ 53 ff. Rn. 1250), während die Aussetzung des Strafrests zur Bewährung im Sinne des § 57 StGB ausweisungsrechtlich geringeres Gewicht hat (vgl. BVerfG, B. v. 27.8.2010 – 2 BvR 130/10 – juris Rn. 36; BVerwG, B. v. 2.9.2009 – 1 C 2.09 – juris). Es bedarf jedenfalls einer substantiierten Begründung, wenn von der strafgerichtlichen Einschätzung abgewichen werden soll (BVerfG, B. v. 19.10.2016, a. a. O.). Entsprechende Gründe hat die Beklagte aber (auch) im Zulassungsverfahren nicht dargelegt.
Der Einschätzung des Erstgerichts und des Strafgerichts, der Kläger habe positives Nachtatverhalten gezeigt, daher sei von einer positiven Zukunftsprognose bezüglich der Begehung weiterer Straftaten auszugehen, ist die Beklagte im Zulassungsverfahren nicht hinreichend substantiiert entgegengetreten. Auch wenn ein Geständnis und eine Schadenswiedergutmachung sich in der Regel im Strafverfahren strafmildernd auswirken, hat dies für die Geschädigte den positiven Effekt, ihr eine weitere Aussage in der Hauptverhandlung zu ersparen und ihr zumindest finanzielle Genugtuung zu verschaffen. Zudem zeigt das Geständnis des Täters, dass er sich zu seiner Tat bekennt. Erst dies ermöglicht eine Auseinandersetzung mit der von ihm begangenen Straftat. Die von der Beklagten angeführte Empathielosigkeit des Klägers und das Ausnutzen der Verliebtheit der Geschädigten sprechen zwar für gravierende Charaktermängel, reichen aber angesichts seines positiven Nachtatverhaltens nicht aus, die Einschätzung des Erstgerichts, vom Kläger gehe nur noch eine geringe Wiederholungsgefahr aus, ernstlich in Zweifel zu ziehen.
Auch mit dem pauschalen Verweis darauf, dass es sich bei Sexualstraftaten um Risikodelikte handle, legt die Beklagte keine ernsthaften Zweifel an der Richtigkeit des Urteils dar. Die Bewährungshelferin hat in ihrer Stellungnahme vom 12. Januar 2016 ausgeführt, dass Auffälligkeiten bezüglich sexueller Neigungen beim Kläger nicht festgestellt werden konnten. Auch aus dem strafgerichtlichen Urteil ergeben sich keinerlei Anhaltspunkte für – wie die Beklagte meint – ein „offenkundig pädo-sexuelles Triebverhalten“. Vorzuwerfen ist dem Kläger, worauf auch das Strafgericht strafschärfend abgestellt hat, „dass er als Erwachsener seine Vertrauensstellung gegenüber der Geschädigten ausgenutzt, sie zum Objekt seiner Sexualität degradiert und keinerlei tatsächliches Interesse an ihr hatte.“ Tragfähige Rückschlüsse auf eine gesteigerte Wiederholungsgefahr wegen der Begehung eines Risikodelikts lassen sich daraus allerdings im vorliegenden Fall nicht ziehen. Entgegen der Auffassung der Beklagten sind daher das Wissen um die Strafbarkeit von (einvernehmlichem) Sex mit Kindern unter vierzehn Jahren und die von der Bewährungshelferin mit dem Kläger erarbeiteten Vermeidungsstrategien durchaus geeignet, die Gefahr, dass er erneut sexuellen Kontakt mit Kindern unter vierzehn Jahren sucht, erheblich zu mindern.
Soweit die Beklagte vorbringt, der bisherige positive Bewährungsverlauf des Klägers sei kein Kriterium dafür, dass die Gefahr erneuter Delikte aus dem Sexualbereich entfallen oder eingeschränkt sei, zieht sie damit die Richtigkeit des erstinstanzliches Urteils nicht ernsthaft in Zweifel. Die Beklagte übersieht, dass im Fall des Klägers die Vollstreckung der Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetzt worden ist, weil das Strafgericht zu der Auffassung gelangt war, dass er sich schon die Verurteilung zur Warnung dienen lassen und künftig auch ohne die Einwirkung des Strafvollzugs keine neuen Straftaten mehr begehen wird (§ 56 Abs. 1 Satz 1 StGB). Nach der Prognose des Strafgerichts, die die Beklagte schlicht ignoriert (s.o.), bestand also bereits im Zeitpunkt seiner Entscheidung keine Wiederholungsgefahr mehr. Auf den von der Beklagten zur Begründung einer noch bestehenden erhöhten Wiederholungsgefahr herangezogenen differenzierten Wahrscheinlichkeitsmaßstab kommt es somit nicht mehr an.
Für die (weitere) Begründung des Erstgerichts zur (allenfalls) geringen Wiederholungsgefahr, wonach die Persönlichkeitsentwicklung des Klägers noch nicht abgeschlossen sei, finden sich allerdings – worauf die Beklagte in der Zulassungsbegründung hinweist – weder im strafgerichtlichen Urteil noch in den Verwaltungs- oder Gerichtsakten hinreichende Anhaltspunkte. Die Auffassung des Verwaltungsgerichts, die vom Kläger ausgehende Wiederholungsgefahr sei gering, ist jedoch im Ergebnis zutreffend, weil gewichtige Faktoren (Strafaussetzung nach § 56 StGB, positives Nachtatverhalten, Stellungnahme der Bewährungshelferin zum Verlauf der Bewährungszeit, Deliktaufarbeitung) diese Einschätzung rechtfertigen.
Die Ausführungen der Beklagten, wonach es keinen Erfahrungssatz gebe, dass gute Deutschkenntnisse, eine intakte Herkunftsfamilie und eine gelungene wirtschaftliche Integration die Gefahr der Begehung von Sexualstraftaten minderten, begründen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils. Die Deutschkenntnisse des Klägers und seine bislang gelungene Integration würdigt das Erstgericht nicht unter dem Gesichtspunkt einer reduzierten Wiederholungsgefahr – wie die Beklagte meint -, sondern als im Rahmen des § 53 Abs. 2 AufenthG neben der geringen Gefahr der Begehung weiterer (Sexual-)Straftaten zugunsten des Klägers zu berücksichtigende Belange. Dies ergibt sich eindeutig aus der Gliederung des Urteils, in dem zunächst die geringe Wiederholungsgefahr (1), dann die Integrationsleistungen des Klägers (2) und schließlich die fehlenden Bindungen zum Heimatland behandelt werden (3).
Auch das Vorbringen der Beklagten zur Rechtmäßigkeit der verfügten Ausweisung trotz des noch nicht rechtskräftig abgeschlossenen Asylverfahrens des Klägers begründet keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des Urteils. Es ist nicht hinreichend dargelegt, dass die Voraussetzungen des § 53 Abs. 4 Satz 2 AufenthG vorliegen, wonach von der Bedingung des rechtskräftig abgeschlossenen Asylverfahrens nur abgesehen werden kann, wenn eine Ausweisung nach § 53 Abs. 3 AufenthG gerechtfertigt wäre.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO.
Die Streitwertfestsetzung folgt aus § 63 Abs. 2 Satz 1, § 47 Abs. 1 und 3, § 52 Abs. 2 GKG.
Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO). Mit der Ablehnung des Antrags auf Zulassung der Berufung wird die Entscheidung des Verwaltungsgerichts rechtskräftig (§ 124a Abs. 5 Satz 4 VwGO).