Verwaltungsrecht

Feststellung von Abschiebungsverboten einer alleinstehenden ivorischen Frau mit Kleinkind

Aktenzeichen  W 2 K 18.31185

Datum:
27.9.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 34568
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
Würzburg
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1
AsylG § 80

 

Leitsatz

Eine Rückkehr in die Elfenbeinküste ist grundsätzlich auch für junge, gesunde, arbeitsfähige, alleinstehende Frauen mit Kleinkind möglich, selbst wenn sie nicht auf die Unterstützung durch ein familiäres Netzwerk zurückgreifen können und über keine formale Schulausbildung oder Berufsausbildung verfügen, es sei denn, es liegen besondere Umstände vor, die das allgemeine Armutsrisiko in der Elfenbeinküste soweit erhöhen, dass bei einer Rückkehr von einer Verletzung von Art. 3 EMRK alleine aufgrund der wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen auszugehen ist. (Rn. 17 – 20) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Beklagte wird unter Aufhebung der Ziffern 4, 5 und 6 des Bescheides des Bundesamtes für … vom 5. Juni 2018, GZ 7481441-231, verpflichtet festzustellen, dass bei den Klägern ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AufenthG hinsichtlich der Elfenbeinküste vorliegt.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen. Gerichtskosten werden nicht erhoben.
III. Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des zu vollstreckenden Betrages abwenden, wenn nicht die Kläger vorher in gleicher Höhe Sicherheit leisten.

Gründe

Die zulässige Klage ist auch begründet.
Zu dem gemäß § 77 Abs. 1 Satz 1 Alt. 2 AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung haben die Kläger einen Anspruch auf Verpflichtung der Beklagten zur Feststellung des Vorliegens eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO). Der Bescheid des Bundesamtes vom 5. Juni 2018 war insoweit aufzuheben, als er dieser Verpflichtung entgegensteht.
Nach § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Konvention vom 4. November 1950 zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten – EMRK – ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Nach der Rechtsprechung des Bayer. Verwaltungsgerichtshofs ist der Schutzbereich des § 60 Abs. 5 AufenthG auch bei einer allgemeinen, auf eine Bevölkerungsgruppe bezogenen Gefahrenlage eröffnet (BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30284 – Asylmagazin 2015, 193; BayVGH, U.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30285 – AuAS 2015, 43). Nach Art. 3 EMRK darf niemand der Folter oder unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung oder Strafe unterworfen werden. Eine schlechte humanitäre Lage und die allgemeinen Lebensbedingungen können eine auf eine Bevölkerungsgruppe bezogene Gefahrenlage darstellen, die zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung im Sinne von Art. 3 EMRK führt (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – BVerwGE 146, 12; U.v. 13.6.2013 – 10 C 13.12 – BVerwGE 147, 8; EGMR, U.v. 28.6.2011 – Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07 – NVwZ 2012, 681; U.v. 21.1.2011 – M.S.S./Belgien und Griechenland, Nr. 30696/09 – NVwZ 2011, 413; U.v. 13.10.2011 – Husseini/Schweden, Nr. 10611/09 – NJOZ 2012, 952). Nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte liegt eine Verletzung des Art. 3 EMRK zum einen in ganz außergewöhnlichen Fällen vor, in denen humanitäre Gründe einer Ausweisung „zwingend“ entgegenstünden. Dieses Kriterium sei angemessen, wenn die schlechten Bedingungen überwiegend auf die Armut zurückzuführen seien oder auf die fehlenden staatlichen Mittel, um mit Naturereignissen umzugehen. Zum anderen könne – wenn Aktionen von Konfliktparteien zum Zusammenbruch der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Infrastruktur führten – eine Verletzung darin zu sehen sein, dass es dem Betroffenen nicht mehr gelinge, seine elementaren Bedürfnisse, wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, zu befriedigen (EGMR, U.v. 28.6.2011 – Sufi und Elmi/Vereinigtes Königreich, Nr. 8319/07 – NVwZ 2011, 413 Rn. 278, 282 f.). Das Bundesverwaltungsgericht hat im Anschluss an diese Rechtsprechung darauf abgestellt, ob es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene tatsächlich Gefahr läuft, einer Art. 3 EMRK zuwiderlaufenden Behandlung ausgesetzt zu werden (BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15.12 – BVerwGE 146, 14). Demnach bedarf die Annahme einer unmenschlichen Behandlung basierend auf der humanitären Lage und der allgemeinen Lebensbedingungen eines sehr hohen Gefährdungsniveaus (BayVGH, Ue.v. 21.11.2014 – 13a B 14.30284 – Asylmagazin 2015, 193; 13a B 14.30285 – AuAS 2015, 43 = InfAuslR 2015, 212; B.v. 30.9.2015 – 13a ZB 15.30063 – juris; B.v. 17.3.2015 – 13a ZB 14.30396 – juris).
Wann allgemeine Gefahren sich zu einem solchen Gefährdungsniveau verdichten und somit zu einem Abschiebungsverbot führen, hängt maßgeblich von den Umständen des Einzelfalls ab. Die drohenden Gefahren müssen jedoch nach Art, Ausmaß und Intensität von einem solchen Gewicht sein, dass sich daraus bei objektiver Betrachtung für den Ausländer die begründete Furcht ableiten lässt, selbst in erheblicher Weise Opfer der extremen allgemeinen Gefahrenlage zu werden. Bezüglich der Wahrscheinlichkeit des Eintritts der drohenden Gefahren ist von einem im Vergleich zum Prognosemaßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit erhöhten Maßstab auszugehen. Die Gefahren müssen dem Ausländer daher mit hoher Wahrscheinlichkeit drohen. Dieser Wahrscheinlichkeitsgrad markiert die Grenze, ab der seine Abschiebung in den Heimatstaat verfassungsrechtlich unzumutbar erscheint. Zudem müssen sich die Gefahren alsbald nach der Rückkehr realisieren. Das bedeutet nicht, dass im Falle der Abschiebung der Tod oder schwerste Verletzungen sofort, gewissermaßen noch am Tag der Abschiebung, eintreten müssen. Vielmehr besteht eine extreme Gefahrenlage auch dann, wenn der Schutzsuchende mangels jeglicher Lebensgrundlage dem baldigen sicheren Hungertod ausgeliefert werden würde (vgl. BVerwG, U.v. 29.6.2010 – 10 C 10.09 – BVerwGE 137, 226).
Unter Zugrundelegung dieses Maßstabs liegen in den Personen der Kläger solche besonderen Umstände vor.
Zwar kann unter Berücksichtigung der in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel zur Überzeugung des Gerichts bei einer Rückkehr in die Elfenbeinküste im Allgemeinen von der Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums ausgegangen werden. Dies gilt grundsätzlich auch für junge, gesunde, arbeitsfähige, alleinstehende Frauen, selbst wenn sie nicht auf die Unterstützung durch ein familiäres Netzwerk zurückgreifen können und über keine formale Schulausbildung oder Berufsausbildung verfügen. Auch die Unterhaltslast für ein Kleinkind führt nicht schon per se zu einem Abschiebungsverbot.
Jedoch liegen in der Person der Kläger besondere Umstände vor, die das allgemein bestehende Armutsrisiko so weit erhöhen, dass eine Verletzung von Art. 3 EMRK im oben beschriebenen Sinne droht.
Entgegen der Begründung im verfahrensgegenständlichen Bescheid ist das Gericht aufgrund der glaubhaften Einlassungen der Klägerin zu 1) in der mündlichen Verhandlung zu der Überzeugung gelangt, dass die Klägerin im Falle einer Rückkehr in ihre Heimatland nicht für sich und ihr Kind eine Existenzgrundlage schaffen könnte. Im angegriffenen Bescheid wird von einer Berufsausbildung der Klägerin zu 1) als Friseuse ausgegangen. Dies hat die Klägerin in der mündlichen Verhandlung glaubhaft widerlegt. Die Klägerin zu 1) hat zwar bei ihrer Mutter im Supermarkt als Verkäuferin mitgeholfen, allerdings ist es mehr als unwahrscheinlich, dass sie bei einem fremden Arbeitgeber eine Beschäftigung finden könnte, da sie über keine ausreichenden Schreib- und Lesekenntnisse verfügt. Für die Betreuung und den Unterhalt des Klägers zu 2) könnte sie nicht auf familiäre Unterstützung zurückgreifen, und zwar unabhängig davon, ob ihr die erst in der mündlichen Verhandlung vorgetragene befürchtete Genitalverstümmelung tatsächlich droht bzw. ob sie für die Klägerin zu 1) unter Zuhilfenahme von internem Schutz vermeidbar wäre. So hat die Klägerin zu 1) in der mündlichen Verhandlung einerseits glaubwürdig vorgetragen, dass ihr damaliger Partner bzw. der Vater des Klägers zu 2) sich aufgrund des Drucks der Familie ihres Vaters von ihr abgewandt habe und sie keine Kontaktmöglichkeit mehr zu ihm habe. Auch steht es zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Klägerin zu 1) mit ihrem Kind, dem Kläger zu 2), auch keine Unterstützung beim Vater ihrer beiden erstgeborenen Kinder erhalten könnte. Auch hat die Klägerin zu 1) in der mündlichen Verhandlung ebenso glaubwürdig dargelegt, dass sie bei einer Rückkehr nicht mit der Hilfe der Familie ihres verstorbenen Vaters rechnen könne. Dies ergibt sich aus den überzeugend vorgetragenen Umständen der Flucht. Weitere Verwandte sind im Heimatland nicht vorhanden. Mutter und Schwester sind verstorben. So steht zur Überzeugung des Gerichts fest, dass die Kläger im Falle ihrer Rückkehr in ihr Heimatland auf sich gestellt wären.
Die Klägerin zu 1) verfügt über keine finanzielle Mittel oder Eigentum und besitzt keine Schul- oder Berufsausbildung. Sie machte in der mündlichen Verhandlung einen verstörten, fahrigen und unkonzentrierten Eindruck. Das Gericht ist in diesem Fall davon überzeugt, dass es der Klägerin zu 1) mit großer Wahrscheinlichkeit nicht möglich sein wird, ohne familiäres Netzwerk eine Existenzgrundlage für sich und den Kläger zu 2) zu schaffen. Ohne ein familiäres und gesellschaftliches Netzwerk fehlen ihr die Möglichkeiten, eine zumutbare Arbeit finden zu können. Als einzige mögliche Erwerbsquelle bliebe ihr nur die Prostitution. Insoweit liegen in der Person der Kläger besondere Umstände vor, die das allgemeine Armutsrisiko in der Elfenbeinküste soweit erhöhen, dass bei einer Rückkehr von einer Verletzung von Art. 3 EMRK alleine aufgrund der wirtschaftlichen und sozialen Rahmenbedingungen auszugehen ist. Zur Überzeugung des Gerichts besteht die Gefahr, dass sie dauerhaft nicht in der Lage sein werden, ihre elementaren Bedürfnisse, wie Nahrung, Hygiene und Unterkunft, zu befriedigen. Sie haben mithin einen Anspruch auf ein Abschiebungsverbot gem. § 60 Abs. 5 AufenthG.
Der Klage war mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben.


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