Verwaltungsrecht

Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft eines syrischen Wehrdienstentziehers

Aktenzeichen  M 22 K 16.32519

Datum:
13.3.2018
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2018, 20385
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 Nr. 1, § 3a Abs. 1 Nr. 1, § 28 Abs. 1a

 

Leitsatz

Die Wehrdienstentziehern bei einer Rückkehr nach Syrien über eine offizielle Grenzstelle drohende menschenrechtswidrige Behandlung dient zumindest auch der Einschüchterung und der Bestrafung für die unterstellte regimefeindliche Gesinnung, sodass auch eine Verknüpfung zwischen den Verfolgungsgründen und den als Verfolgung eingestuften Handlungen iSv § 3a Abs. 3 AsylG vorliegt. (Rn. 24) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Beklagte wird unter Aufhebung der Nr. 2 des Bescheides des Bundesamtes für … vom 9. August 2016 verpflichtet, dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.
II. Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Die Klage ist zulässig und hat auch in der Sache Erfolg, da der Kläger Anspruch auf die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft hat.
1. Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention, wenn er sich
– aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe,
– außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet,
– dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will oder
– in dem er als Staatenloser seinen vorherigen gewöhnlichen Aufenthalt hatte und in das er nicht zurückkehren kann oder wegen dieser Furcht nicht zurückkehren will.
§ 3 Abs. 2 und 3 AsylG beinhalten Exklusionsklauseln u.a. für den Fall des Verdachts der Begehung bestimmter schwerer Straftaten (Abs. 2) sowie bei anderweitiger Schutzgewährung durch eine Organisation oder Einrichtung der Vereinten Nationen mit Ausnahme des UNHCR (Abs. 3).
Einzelheiten zum Begriff der Verfolgungshandlung, den maßgeblichen Verfolgungsgründen, den Verfolgungs- bzw. Schutzakteuren sowie zur Frage eines etwaigen internen Schutzes regeln die §§ 3a bis e und 28 Abs. 1a und Abs. 2 AsylG in Umsetzung der Richtlinie 2011/95/EU.
Einem Ausländer, der Flüchtling nach Maßgabe des § 3 Abs. 1 AsylG ist, wird gemäß § 3 Abs. 4 AsylG die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt, es sei denn er erfüllt die Voraussetzungen des § 60 Abs. 8 Satz 1 oder 3 AufenthG (weitere Ausschlussklauseln bei Gefahr für die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland bzw. bei Vorliegen einer Gefahr für die Allgemeinheit; für den Fall des Satzes 3 nur, wenn das Bundesamt von einer Anwendung des § 60 Abs. 1 AufenthG absieht).
2. Die hier einschlägigen Voraussetzungen für die Annahme der Flüchtlingseigenschaft und deren förmliche Zuerkennung liegen beim Kläger vor.
Eine begründete Furcht vor Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Schutzsuchende das Herkunftsland verlassen hat (§ 28 Abs. 1a AsylG). Ein solcher beachtlicher Nachfluchttatbestand ist vorliegend im Hinblick auf die Gefährdungen in Zusammenhang mit einer Rückkehrerbefragung bzw. sonst für den Fall eines Aufgriffs des Klägers durch syrische Sicherheitsbehörden gegeben, wobei für die Gefahrenbewertung entscheidend ist, dass zu erwarten wäre, dass dem Kläger wegen der Flucht in das Ausland bzw. wegen des Verbleibens dort trotz Militärdienstpflichtigkeit als Wehrdienstentzieher eine oppositionelle Haltung zugeschrieben würde und er deshalb Verfolgungshandlungen zu gewärtigen hätte. Für den (gegenwärtig hypothetischen) Fall, dass der der Kläger in sein Heimatland zurückkehren müsste, wäre zur Überzeugung des Gerichts mithin davon auszugehen, dass er einer beachtlich wahrscheinlichen Gefährdung, Opfer menschenrechtswidriger Handlungen zu werden, ausgesetzt wäre (Verfolgungshandlung nach § 3a Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 2 Nr. 1 AsylG) und diese Gefährdung im Sinne von §§ 3a Abs. 3 und 3b Abs. 2 AsylG jedenfalls an eine zumindest vermutete politische Gesinnung und damit an eines der in § 3 Abs. 1 Nr. 1 AsylG aufgeführten Konventionsmerkmlale anknüpfen würde (eine Verfolgungsgefahr bei Wehrdienstentziehern je nach den Umständen bejahend BayVGH, U.v. 12.12.2016 – 21 B 16.30372 –; VGH BW, U.v. 14.6.2017 – A 11 S 511/ 17 –; HessVGH, U.v. 6.6.2017 – 3 A 747/17.A –; a.A. OVG NRW, U.v. 4.5.2017 – 14 A 2023/16.A –; OVG Saarl. U.v. 2.2.2017 – 2 A 515/16 –; OVG RhPf, U.v. 16.12.2016 – 1 A 10920/16.OVG –; OVG SH, U.v. 23.11.2016 – 3 LB 17/16 – alle in juris).
Dazu ist Folgendes auszuführen:
In Syrien besteht allgemeine Wehrpflicht ab 18 Jahren bis zum Alter von jedenfalls 42 Jahren. Es liegen aber auch Berichte vor, wonach das Alter für den Dienst als Reservist mittlerweile auf 45 Jahre oder älter angehoben wurde, wobei es hierzu keine offizielle Regelung zu geben scheint. Je nach Gebiet und Fall sollen Reservisten auch im Alter von 50 bis 60 Jahren noch zum aktiven Dienst einberufen werden (Schweizerische Flüchtlingshilfe – SFH –, Syrien: Zwangsrekrutierung, Wehrdienstentzug, Desertion vom 23.03.2017, S. 4 f.; Österreichisches Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl – BFA –, Länderinformationsblatt Syrien, vom 05.01.2017 S. 24). Anlass hierfür dürften die erheblichen Verluste auf Seiten des syrischen Militärs in den ersten Kriegsjahren gewesen sein.
Junge Männer im Alter von 17 Jahren sind dazu aufgerufen, sich ihr Militärbuch abzuholen und sich einer medizinischen Untersuchung zu unterziehen (BFA, Länderinformationsblatt Syrien, vom 25.01.2018, S. 38). 18-Jährige sind gehalten, sich selbständig bei dem zuständigen Rekrutierungsbüro zu melden oder sie werden von der lokalen Polizei vorgeladen. Wer sich nicht meldet, wird auf die Liste der Wehrdienstentzieher gesetzt (SFH, Syrien: Vorgehen der syrischen Armee bei der Rekrutierung, vom 18.01.2018, S. 1 f., wonach unterschiedliche Angaben dazu vorliegen, wann die Aufnahme in die Liste erfolgt).
Bereits im März 2012 wurde eine Quasi-Reisesperre für Männer im wehrdienstpflichtigen Alter erlassen. Die Ausreise bedarf danach der Bewilligung durch die Armee. Darüber hinaus ist eine Kaution zu hinterlegen (vgl. SFH vom 23.03.2017, S. 13 f.).
Insbesondere seit 2014 wurden die Mobilisierungsmaßnahmen für Rekruten und Reservisten erheblich intensiviert (SFH vom 23.03.2017, S. 2 f.; SFH, Syrien: Mobilisierung in die syrische Armee, vom 28.03.2015, S. 2 ff.). Es kommt auch immer wieder zu Verhaftungskampagnen und Razzien mit dem Ziel, wehrdiensttaugliche Männer zwangszurekrutieren und Wehrdienstentzieher bzw. Deserteure aufzugreifen. Dabei sind auch Fälle von Folter dokumentiert (SFH vom 28.03.2015, S. 2 ff.; SFH vom 23.03.2017, S. 6 ff.; BFA vom 05.01.2017, S. 23).
Die Strafpraxis in Fällen der Wehrdienstentziehung und bei Desertion ist soweit ersichtlich durchgängig von Willkür geprägt (vgl. SFH vom 23.03.2017, S. 10 ff. und vom 18.01.2018, S. 7 f.).
Es ist weiter davon auszugehen, dass jeder über eine offizielle Grenzstelle zurückkehrende Syrer den obligatorischen Einreisekontrollen der syrischen Sicherheitskräfte unterzogen wird und diese anhand von Datenbanken bzw. Kontrolllisten u.a. darüber informiert sind, ob die betreffende Person Wehrpflichtiger oder Reservist ist bzw. ob sie sich dem Wehrdienst entzogen hat. Generell gilt im Übrigen, dass Rückkehrer der Willkür der Grenzbeamten schutzlos ausgeliefert sind. Die Sicherheitsorgane haben freie Hand, wie sie mit Rückkehrern verfahren, und es gibt keine Schutzmechanismen, wenn eine Person aus welchen Gründen auch immer sich Übergriffen ausgesetzt sieht. Männer im wehrdienstpflichtigen Alter sind angesichts der dargestellten Verhältnisse in besonderem Maße gefährdet, von den Sicherheitskräften am Flughafen und anderen Grenzübergängen zeitweilig inhaftiert, misshandelt oder gefoltert zu werden (SFH vom 21.03.2017, Syrien: Rückkehr, S. 7 ff.; BFA vom 05.01.2017, 41 f.; zur Situation in Syrien allgemein und zur Bewertung des Risikos einer menschenrechtswidrigen Behandlung aus Anlass einer Rückkehrerbefragung siehe weiter UNHCR, Erwägungen zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen, 4. aktualisierte Fassung vom November 2015; UNHCR, Feststellung des internationalen Schutzbedarf von Asylsuchendenden aus Syrien – „illegale Ausreise“ und verwandte Themen, Februar 2017; Auswärtiges Amt – AA – Stellungnahme der Botschaft Beirut vom 03.02.2016; AA, Ad hoc-Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Arabischen Republik Syrien vom 17.02.2012: zu Repressionsmaßnahmen gegen echte und vermeintliche Oppositionelle allgemein siehe S. 7 f.; zur Menschenrechtslage – Foltergefahr, Haftbedingungen – siehe S. 10 ff.; zur Beobachtung exilpolitischer Aktivitäten durch syrische Geheimdienste siehe S. 10; zu Rückkehrbefragungen und damit zusammenhängend der Gefahr, verhaftet bzw. Opfer von Misshandlungen zu werden, vgl. auch AA, Lagebericht vom 27.09.2010, S. 19 f.; AI-Jahresberichte 2012 bis 2016 – dort auch zur Praxis des Verschwindenlassens).
Was den für die Beurteilung der Verfolgungsgefahr (bezogen auf Rechtsgutverletzungen im Sinne von § 3a Abs. 1 und 2 AsylG) relevanten Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit angeht, ist in diesem Zusammenhang klarstellend darauf hinzuweisen, dass dieser sich an der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) orientiert, der bei der Prüfung des Art. 3 EMRK auf die tatsächliche Gefahr abstellt („real risk“; vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25.1/10 – juris). Es kommt darauf an, ob bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für die Annahme eines reellen Verfolgungsrisikos sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und deshalb gegenüber den dagegen sprechenden Tatsachen überwiegen. Gefordert ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung. Entscheidend ist, ob bei einer Bewertung des sich aus den gegebenen Umständen ableitbaren Verfolgungsrisikos bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann und wegen dieses Risikos eine Rückkehr nicht zumutbar erscheint (vgl. BVerwG, U.v. 5.11.1991 – 9 C 118/90 – juris und U.v. 1.6.2011 a.a.O., juris Rn. 24).
Auf der Grundlage der oben dargestellten Erkenntnisse ist nach Auffassung des Gerichts allein die Einschätzung gerechtfertigt, dass für den Kläger eine relevante Verfolgungsgefahr gegeben ist, das Ansinnen einer Rückkehr ihm in Ansehung der drohenden Risiken also nicht zuzumuten wäre. Gründe, den Vortrag des Klägers (der sein Militärbuch vorgelegt hat) in Zweifel zu ziehen, sind nicht ersichtlich. Es ist also davon auszugehen, dass dieser seitens der syrischen Behörden (weil er sich nach Ablauf der Rückstellung nicht gemeldet hat) als Wehrdienstentzieher eingestuft würde und ihm daher beachtlich wahrscheinlich eine menschenrechtswidrige Behandlung im Sinne von § 3a Abs. 1 und 2 AsylG drohen würde.
Die vorliegenden Erkenntnisse rechtfertigen unter Berücksichtigung der den Konflikt wesentlich mitprägenden Umstände – vor allem der ideologischen Radikalisierung der verschiedenen Parteien, der seit jeher bestehenden Unduldsamkeit des syrischen Regimes gegenüber als oppositionell eingestuften Bestrebungen oder auch nur Meinungen sowie der Politik des Regimes, Bevölkerungsgruppen mit Blick auch auf Umstände, die dies nicht nahelegen, mangelnde Unterstützung zu unterstellen (siehe dazu UNHCR vom November 2015, insbes. S. 12 ff.) – auch die Einschätzung, dass der syrische Staat wehrdienstpflichtige Männer, die unerlaubt ausgereist sind bzw. sich länger insbesondere im westlichen Ausland aufgehalten haben, eine illoyale, politisch oppositionelle Haltung unterstellen wird (dies ausdrücklich feststellend UNHCR vom Februar 2017, S. 23 mit Fußnote 113), und zwar ungeachtet des Umstands, ob die Absicht, sich dem Wehrdienst zu entziehen, der Grund für das Verlassen des Landes war und, so dies der Fall gewesen sein sollte, dass sicherlich eine Vielzahl der Betroffenen primär von nicht politischen Motiven zu ihrem Handeln bewogen wurde und dies den syrischen Behörden natürlich auch bekannt ist. Die Wehrdienstentziehern wie dem Kläger drohende menschenrechtswidrige Behandlung, auch wenn sie daneben eine Disziplinierung im Hinblick auf den Erhalt des Bestands und der Kampfkraft des Militärs bezwecken sollte, dient damit zumindest auch der Einschüchterung und der Bestrafung für die unterstellte regimefeindliche Gesinnung, sodass auch eine Verknüpfung zwischen den Verfolgungsgründen und den als Verfolgung eingestuften Handlungen im Sinne von § 3a Abs. 3 AsylG vorliegt.
Eine interne Schutzmöglichkeit für Rückkehrer (vgl. § 3e AsylG) besteht derzeit in Syrien nicht (siehe dazu die oben angeführten Erkenntnismittel, die auf die aktuelle Situation in Syrien eingehen).
Es ist schließlich auch nichts dafür ersichtlich, dass der Annahme bzw. (förmlichen) Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft einer der Ausnahmetatbestände des § 3 Abs. 2 und 3 bzw. des § 3 Abs. 4 AsylG i.V.m. § 60 Abs. 8 Satz 1 oder Satz 3 AufenthG entgegenstehen könnte.
Im Ergebnis ist danach festzustellen, dass der Kläger Flüchtling im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG ist und er die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 4 AsylG beanspruchen kann.
3. Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Der Ausspruch zur vorläu-figen Vollstreckbarkeit im Kostenpunkt beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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