Aktenzeichen M 7 K 15.50374
Dublin III-VO Dublin III-VO Art. 29
Leitsatz
1 Der Mitgliedstaat, der die Überstellung in den eigentlich zuständigen Mitgliedstaat nicht zeitgemäß durchführt, muss die Folgen tragen (ebenso VGH München BeckRS 2015, 46404). (redaktioneller Leitsatz)
2 Der Ausspruch, dass der Asylantrag mangels Zuständigkeit unzulässig ist, enthält nicht zugleich eine materiellrechtliche Aussage dahingehend, dass ein weiteres Asylverfahren iSv § 71a AsylG nicht durchzuführen ist (ebenso VGH München BeckRS 2015, 46404). (redaktioneller Leitsatz)
3 Bei der Abschiebung von Familien mit Kleinstkindern im Rahmen eines Dublin III-Verfahrens muss eine konkrete und einzelfallbezogene Zusicherung der Behörden im Zielstaat eingeholt werden, dass die Familie im Zielstaat eine gesicherte Unterkunft für alle Familienmitglieder erhalten wird (BVerfG BeckRS 2015, 52592). (redaktioneller Leitsatz)
Tenor
I.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 19. März 2015 wird aufgehoben.
II.
Die Beklagte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
III.
Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Kläger vorher Sicherheit in gleicher Höhe leisten.
Gründe
Das Gericht entscheidet mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 101 Abs. 2 VwGO).
Die zulässige, insbesondere fristgerecht erhobene (§ 74 Abs. 1 AsylG) Klage ist begründet. Der streitgegenständliche Bescheid erweist sich im nach § 77 Abs. 1 Satz 1 2. Hs AsylG maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidung als rechtswidrig und verletzt die Kläger damit in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Gem. § 27 a AsylG ist ein Asylantrag unzulässig, wenn ein anderer Staat aufgrund von Rechtsvorschriften der Europäischen Gemeinschaft oder eines völkerrechtlichen Vertrages für die Durchführung des Asylverfahrens zuständig ist. In diesem Fall prüft die Beklagte den Asylantrag nicht, sondern ordnet die Abschiebung in den zuständigen Staat an (§ 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylG).
Die Bestimmung des zuständigen Staates richtet sich nach der Verordnung Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrag auf internationalen Schutz zuständig ist (ABl L 180/31) – Dublin-III-VO -, da sowohl der Antrag auf internationalen Schutz als auch das an Italien gerichtete Gesuch um Wiederaufnahme der Kläger nach dem 1. Januar 2014 gestellt worden sind (Art. 49 Abs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO).
Die Zuständigkeit Italiens für die Prüfung des Asylbegehrens ist mittlerweile gem. Art. 29 Abs. 2 Satz 1 Dublin-III-VO entfallen und auf die Beklagte übergegangen, weil unstreitig die sechsmonatige Überstellungsfrist des Art. 29 Abs. 1 Dublin-III-VO abgelaufen ist. Da vorliegend bei Gericht kein Antrag auf einstweiligen Rechtsschutz gestellt worden ist, hat diese Frist bei der Klägerin zu 1) bereits mit Annahme des Wiederaufnahmeersuchens nach Art. 18 Abs. 1 b Dublin-III-VO zu laufen begonnen (Art. 29 Abs. 1 Satz 1, 1. Alt. Dublin-III-VO); in dem hier gegebenen Falle der Annahmefiktion gem. Art. 25 Abs. 2 Dublin-III-VO also zwei Wochen nach Zugang des Wiederaufnahmeersuchens. Für die Klägerin zu 1) wurde dieses Wiederaufnahmeersuchen am 15. Dezember 2014 gestellt, die Überstellungsfrist lief daher am 29. Juni 2015 ab. Für den Kläger zu 2) ergibt sich der Ablauf der Überstellungsfrist aus den vorgelegten Behördenakten für den 15. August 2015.
Seit diesen Zeitpunkten waren die Asylanträge nicht mehr nach § 27 a AsylVfG wegen Unzuständigkeit der Beklagten unzulässig. Folglich kommt nach den einschlägigen europarechtlichen Regularien eine Anordnung der Abschiebung in den ursprünglich zuständigen Mitgliedstaat nach § 34 a AsylVfG ebenfalls nicht mehr in Betracht. Dass Italien sich entgegen der europarechtlichen Bestimmungen nicht auf den Fristablauf berufen wird und ausnahmsweise dennoch zur Übernahme der Kläger bereit ist, ist auf gerichtliche Anfrage nicht mitgeteilt worden. Hiervon kann grundsätzlich auch nicht ausgegangen werden (BayVGH, B. v. 11. Februar 2015 – 13a ZB 15. 50005 – juris Rn. 4).
Jedenfalls dann können sich die Kläger auf den Ablauf der Überstellungsfrist ungeachtet dessen berufen (vgl. BayVGH, B. v. 29. April 2015 – 11 ZB 15.50033 – juris Rn. 16; VGH BW, U. v. 29. April 2015 – A 11 S 121/15 – juris Rn. 30, 37), dass ein Asylbewerber der Überstellung in den nach den Dublin-Verordnungen für ihn zuständigen Mitgliedstaat nur mit dem Einwand systemischer Mängel des Asylverfahrens und der Aufnahmebedingungen für Asylbewerber entgegentreten kann (vgl. BVerwG, B. v. 6. Juni 2014 – 10 B 35.14 – juris Ls; VGH BW, a. a. O., Rn. 28).
In der obergerichtlichen Rechtsprechung ist ferner geklärt, dass die angefochtene Entscheidung gem. § 27 a AsylG auch nicht auf der Grundlage von § 71 a AsylG aufrechterhalten werden kann. Weder kann sie als negative Entscheidung über einen Zweitantrag angesehen noch in eine solche umgedeutet werden (vgl. BayVGH, a. a. O.; VGH BW, a. a. O., Rn. 35 ff.; OVG Hamburg, B. v. 2. Februar 2015 – 1 Bf 208/14.AZ – juris Rn. 12 ff.). Die Zuständigkeitsprüfung nach der Dublin II- bzw. Dublin III-VO ist der Prüfung des Asylantrags vorgelagert und von dem Verfahren zur inhaltlichen Prüfung des Asylverfahrens zu unterscheiden (BayVGH, B. v. 11. Februar 2015 – 13a ZB 15.50005 – juris Rn. 9). Der Ausspruch, dass der Asylantrag mangels Zuständigkeit unzulässig ist, enthält nicht zugleich eine materiell-rechtliche Aussage dahingehend, dass ein weiteres Asylverfahren im Sinn von § 71 a AsylG nicht durchzuführen ist (BayVGH, B. v. 15. April 2014 – 13a ZB 15.50066 – juris Rn. 5). Während die Entscheidung der Beklagten auf die Unzulässigkeit im Sinne des § 31 Abs. 6 AsylG gerichtet war sowie darauf, die zwingende Rechtsfolge des § 34 a Abs. 1 AsylG herbeizuführen, wird mit der Entscheidung zu § 71 a AsylG die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens, d. h. ein Wiederaufgreifen eines nicht mehr angreifbaren Verfahrens abgelehnt, die dann in erster Linie die Rechtsfolge des § 71 a Abs. 4 i.V. m. § 34 bzw. § 36 AsylG (in Bezug auf den Herkunftsstaat) auslöst und damit eine völlig andere Qualität hat als eine Abschiebungsanordnung nach § 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylG (in den anderen Mitglied- oder Vertragsstaat) (VGH BW, U. v. 29. April 2015 – A 11 S 121/15 – juris Rn. 41). Daran, dass der Verwaltungsakt nicht auf das gleiche oder ein im Wesentlichen gleiches Ziel gerichtet wäre und im Übrigen ungünstigere Rechtsfolgen für die Kläger zeitigen würde, würde auch eine Umdeutung nach § 47 Abs. 1 VwVfG scheitern (vgl. VGH BW, a. a. O.; BayVGH, B. v. 13. April 2015 – 11 ZB 14.50055 – juris Rn. 15).
Ist die Feststellung nach § 27 a AsylG rechtwidrig, ist auch kein Raum mehr für die Abschiebungsanordnung gem. § 34 a Abs. 1 Satz 1 AsylG nach Italien.
Darüber hinaus müsste das Bundesamt bei der Abschiebung von Familien mit Kleinstkindern – das gemeinsame Kind der Kläger ist am 30. November 2015 geboren – im Rahmen des Dublin-Verfahrens nach Italien nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG, B. v. 27. Mai 2015 – 2 BvR 3024/14, 2 BvR 177/15, 2 BvR 601/15 – juris Rn. 4 m. w. N., B. v. 17. September 2014 – 2 BvR 1795/14 – juris Rn. 15 f. u. B. v. 30. April 2015 – 2 BvR 746/15 – juris Rn. 9) und des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR U. v. 4. November 2014 – Nr. 292117/12 – Tarakhel ./. Schweiz, NVwZ 2015, S. 127) eine konkrete und einzelfallbezogene Zusicherung der italienischen Behörden einholen, dass die Familie in Italien eine gesicherte Unterkunft für alle Familienmitglieder erhalten werde. Eine solche liegt derzeit nicht vor.
Der Klage war daher mit der Kostenfolge des § 154 Abs. 1 VwGO stattzugeben. Das Verfahren ist gem. § 83 b AsylG gerichtskostenfrei.
Der Ausspruch über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung beruht auf § 167 VwGO i. V. m. § 708 Nr. 11, § 711 ZPO.