Verwaltungsrecht

Voraussetzungen für die Annahme einer Gruppenverfolgung von Kurden und einer inländischen Fluchtalternative

Aktenzeichen  M 1 K 17.41734

Datum:
17.3.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 16412
Gerichtsart:
VG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Verwaltungsgerichtsbarkeit
Normen:
AsylG § 3, § 3c, § 3e Abs. 1, § 4
AufenthG § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1, § 60a Abs. 2c S. 1

 

Leitsatz

1. Es ist davon auszugehen, dass etwaige asylrelevante Übergriffe auf türkische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit jedenfalls nicht die von der Rechtsprechung verlangte Verfolgungsdichte aufweisen, die zu einer Gruppenverfolgung und damit dazu führt, dass jedes Mitglied dieser Gruppe als verfolgt gilt (ebenso VGH München BeckRS 2020, 6605). (Rn. 28) (redaktioneller Leitsatz)
2. Zudem steht Kurden in der Westtürkei trotz der auch dort problematischen Sicherheitslage und der schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen eine inländische Fluchtalternative gem. § 3e Abs. 1 AsylG offen (ebenso  VGH München BeckRS 2020, 6605; BeckRS 2016, 47822). (Rn. 30) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Die Klage wird abgewiesen.
II. Die Kläger haben die Kosten des Verfahrens als Gesamtschuldner zu tragen.
III. Die Kostenentscheidung ist vorläufig vollstreckbar. Die Kläger dürfen die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht die Beklagte vorher Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Gründe

Das Gericht konnte trotz Nichterscheinen der Beklagten über die Sache verhandeln und entscheiden, weil sie ordnungsgemäß geladen und in der Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen worden ist (§ 102 Abs. 2 VwGO).
1. Die Klage hat weder im Haupt- noch in den Hilfsanträgen Erfolg. Sie ist zwar zulässig, aber unbegründet.
Die Klage ist unbegründet, weil der Bescheid vom 12. Mai 2017 rechtmäßig ist und die Kläger nicht in ihren Rechten verletzt (§ 113 Abs. 1 Satz 1, Abs. 5 Satz 1 VwGO).
Für die Beurteilung der Sach- und Rechtslage ist nach § 77 Abs. 1 Satz 1 Halbs. 1 AsylG auf den Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung abzustellen. In diesem haben die Kläger keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 AsylG (vgl. unter 1.1.) oder Zuerkennung subsidiären Schutzes gemäß § 4 AsylG (1.2.). Ferner liegen keine Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 Satz 1 AufenthG vor (1.3.). Gegen die erlassene Abschiebungsandrohung und das gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots bestehen ebenfalls keine rechtlichen Bedenken (1.4.).
1.1. Die Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 1 und 4 AsylG sind nicht gegeben. Das Gericht ist davon überzeugt, dass den Klägern gegenwärtig keine Verfolgung in der Türkei droht.
Nach § 3 Abs. 1 AsylG ist ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge vom 28. Juli 1951 (Genfer Flüchtlingskonvention – GFK), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Verfolgungsgründen) außerhalb des Landes (Herkunftslands) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will.
Gemäß § 3a Abs. 1 Nr. 1 und 2 AsylG gelten Handlungen als Verfolgung i.S.d. § 3 Abs. 1 AsylG, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (Nr. 1), oder die in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen bestehen, die so gravierend ist, dass eine Person davon in ähnlicher wie der in Nr. 1 beschriebenen Weise betroffen ist (Nr. 2). Gemäß § 3c AsylG sind Akteure, von denen die Verfolgung ausgehen kann, der Staat oder Organisationen, die den Staat oder einen wesentlichen Teil des Staatsgebiets beherrschen, sowie nichtstaatliche Akteure, sofern die zuvor genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, Schutz vor Verfolgung zu bieten.
Eine „begründete Furcht“ vor Verfolgung liegt vor, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich, d. h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit drohen (vgl. BVerwG, U.v. 20.2.2013 – 10 C 23/12 – juris Rn. 19). Der Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei zusammenfassender Würdigung des zur Prüfung stehenden Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände ein größeres Gewicht besitzen und gegenüber den dagegen sprechenden Umständen überwiegen. Dabei ist eine „qualifizierende“ Betrachtungsweise im Sinne einer Gewichtung und Abwägung aller festgestellten Umstände und ihrer Bedeutung vorzunehmen. Es kommt darauf an, ob in Anbetracht dieser Umstände bei einem vernünftig denkenden, besonnenen Menschen in der Lage des Betroffenen Furcht vor Verfolgung hervorgerufen werden kann (vgl. BVerwG, U.v. 1.6.2011 – 10 C 25/10 – juris Rn. 24; B.v. 7.2.2008 – 10 C 33/07 – juris Rn. 23; U.v. 5.11.1991 – 9 C 118/90 – juris Rn. 17).
Nach Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU ist die Tatsache, dass ein Asylbewerber bereits verfolgt wurde bzw. von solcher Verfolgung unmittelbar bedroht war, ein ernsthafter Hinweis darauf, dass seine Furcht vor Verfolgung begründet ist, es sei denn, stichhaltige Gründe sprechen dagegen, dass er erneut von solcher Verfolgung bedroht wird. Diese Regelung privilegiert den von ihr erfassten Personenkreis durch eine Beweiserleichterung, nicht aber durch einen herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstab, wie er in der deutschen asylrechtlichen Rechtsprechung entwickelt worden ist. Die Vorschrift begründet für die von ihr Begünstigten eine widerlegbare Vermutung dafür, dass sie erneut von einer solchen Verfolgung bedroht sind. Dadurch wird der Vorverfolgte von der Notwendigkeit entlastet, stichhaltige Gründe dafür darzulegen, dass sich die verfolgungsbegründenden Umstände bei Rückkehr in sein Herkunftsland erneut realisieren werden. Ob die Vermutung durch „stichhaltige Gründe“ widerlegt ist, obliegt tatrichterlicher Würdigung im Rahmen freier Beweiswürdigung (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5/09 – juris Ls.).
Vorliegend ist weder von einer Gruppenverfolgung noch von einer individuellen Verfolgung der Kläger auszugehen. Die Kläger haben mit seinem Vortrag nicht glaubhaft machen können, dass ihnen gegenwärtig in der Türkei eine flüchtlingsrelevante Handlung droht.
1.1.1. Von einer Gruppenverfolgung der Kurden in der Türkei ist nicht auszugehen.
Die Annahme einer Gruppenverfolgung setzt voraus, dass entweder sichere Anhaltspunkte für ein an asylerhebliche Merkmale anknüpfendes staatliches Verfolgungsprogramm oder für eine bestimmte Verfolgungsdichte vorliegen, welche die „Regelvermutung“ eigener Verfolgung rechtfertigen. Hierfür ist die Gefahr einer so großen Vielzahl von Eingriffshandlungen in flüchtlingsrechtlich geschützte Rechtsgüter erforderlich, dass es sich dabei nicht mehr nur um vereinzelt bleibende individuelle Übergriffe oder um eine Vielzahl einzelner Übergriffe handelt. Die Verfolgungshandlungen müssen vielmehr im Verfolgungszeitraum und Verfolgungsgebiet auf alle sich dort aufhaltenden Gruppenmitglieder zielen und sich in quantitativer und qualitativer Hinsicht so ausweiten, wiederholen und um sich greifen, dass daraus für jeden Gruppenangehörigen nicht nur die Möglichkeit, sondern ohne Weiteres die aktuelle Gefahr eigener Betroffenheit entsteht (vgl. BVerfG, B.v. 23.1.1991 – 2 BvR 902/85, 2 BvR 515/89, 2 BvR 1827/89 – BVerfGE 83, 216, juris Rn. 43; BVerwG, B.v. 24.2.2015 – 1 B 31/14 – juris Rn. 4).
Das Gericht geht aufgrund der vorliegenden und ins Verfahren eingeführten Erkenntnismittel davon aus, dass etwaige asylrelevante Übergriffe auf türkische Staatsangehörige kurdischer Volkszugehörigkeit jedenfalls nicht die von der Rechtsprechung verlangte Verfolgungsdichte aufweisen, die zu einer Gruppenverfolgung und damit dazu führt, dass jedes Mitglied dieser Gruppe als verfolgt gilt (vgl. VG Aachen, U.v. 5.3.2018 – 6 K 3554.17.A – juris Rn. 51 m.w.N.). Das Gericht schließt sich diesbezüglich der oberverwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung an (vgl. BayVGH, B.v. 10.2.2020 – 24 ZB 20.30271 – juris Rn. 6 m.w.N.; SächsOVG, B.v. 7.1.2021 – 3 A 927/20.A – juris Rn. 12; OVG Saarl, B.v. 18.11.2020 – 2 A 321/20 – juris Rn. 16).
Bei einer Gesamtbevölkerung von ca. 82 Mio. Einwohner leben etwa 13 Mio. bis 15 Mio. kurdische Volkszugehörige in der Türkei. Die Kurden stellen noch vor den Kaukasiern und den Roma die größte ethnische Minderheit in der in der Türkei dar (vgl. S. 12 des Berichts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei des Auswärtigen Amts vom 24. August 2020). Sie unterliegen allein aufgrund ihrer Abstammung auch nach dem aktuellen Lagebericht des Auswärtigen Amtes keinen staatlichen Repressionen, zumal aus den Ausweispapieren in der Regel – sofern keine spezifisch kurdischen Vornamen geführt werden – nicht hervorgeht, ob ein türkischer Staatsbürger kurdischer Abstammung ist (vgl. S. 12 des Berichts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei des Auswärtigen Amts vom 24. August 2020). Der private Gebrauch der in der Türkei gesprochenen kurdischen Sprachen Kurmandschi und des weniger verbreiteten Zaza in Wort und Schrift ist keinen Restriktionen ausgesetzt, der amtliche Gebrauch ist allerdings eingeschränkt. Das am 2. März 2014 vom türkischen Parlament verabschiedete „Demokratisierungspaket“ hat u.a. Möglichkeiten zur Unterrichtung kurdischer Sprachen und zum Gebrauch kurdischer Ortsnamen geschaffen. Die verfassungsrechtliche Festschreibung von Türkisch als einziger Nationalsprache bleibt jedoch erhalten und erschwert die Inanspruchnahme öffentlicher Dienstleistungen durch Kurden und Angehörige anderer Minderheiten, für die Türkisch nicht Muttersprache ist (vgl. S. 12 f. des Berichts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei des Auswärtigen Amts vom 24. August 2020). Auch wenn seit dem Putschversuch in der Türkei eine Reihe von kurdischen Print- und Bildmedien geschlossen wurden (vgl. S. 6 des Berichts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei des Auswärtigen Amts vom 24. August 2020) und der Druck auf kurdische Medien und die Berichterstattung über kurdische Themen aufgrund von Gerichtsverfahren und Verhaftungen von Journalisten anhält (vgl. S. 69 des Länderinformationsblatts der Staatendokumentation für die Türkei des österreichischen Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 29. November 2019), ist nicht von einer solchen Verfolgungsdichte auszugehen, die die Annahme einer Gruppenverfolgung der Kurden in der Türkei rechtfertigt.
Zudem steht Kurden in der Westtürkei trotz der auch dort problematischen Sicherheitslage und der schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen eine inländische Fluchtalternative gem. § 3e Abs. 1 AsylG offen (vgl. BayVGH, B.v. 10.2.2020 – 24 ZB 20.30271 – juris Rn. 7; B.v. 3.6.2016 – 9 ZB 12.30404 – juris Rn. 6; SächsOVG, U.v. 7.4.2016 – 3 A 557.13.A – juris, Rn. 31; VG Augsburg, U.v. 9.12.2020 – Au 4 K 19.31715 – BeckRS 2020, 42300, Rn. 19). Sie können den Wohnort innerhalb des Landes wechseln und so insbesondere in Ballungsräumen in der Westtürkei eine in der Südosttürkei auf Grund der gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen türkischen Sicherheitskräften und PKK etwa höhere Gefährdung verringern.
Den Klägern ist es nach § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG wirtschaftlich zuzumuten, dass sie sich in der Westtürkei niederlassen. Im Rahmen der notwendigen hypothetischen Rückkehrprognose ist davon auszugehen, dass die Kläger zusammen mit ihren beiden Kindern in die Türkei zurückkehren, weil sie im maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung in familiäre Lebensgemeinschaft leben. Denn bei der Prognose, welche Gefahren dem Asylbewerber im Falle einer Rückkehr in sein Herkunftsland drohen, ist von einer möglichst realitätsnahen Beurteilung – wenngleich notwendigen hypothetischen – Rückkehrsituation auszugehen. Im Regelfall ist davon auszugehen, dass bei bestehender tatsächlicher Lebensgemeinschaft der Kernfamilie diese entweder insgesamt nicht oder nur im gemeinsamen Familienverband zurückkehrt. Dies gilt auch dann, wenn einzelne Mitglieder der Kernfamilie bereits bestandskräftig ein Schutzstatus zuerkannt oder für diesen ein nationales Abschiebungsverbot festgestellt worden ist (vgl. BVerwG, U.v. 4.7.2019 – 1 C 45/18 – BVerwGE 166, 113, juris Rn. 16 ff.).
Die Niederlassung in einen sicheren Landesteil ist zumutbar i.S.v. § 3e Abs. 1 Nr. 2 AsylG, wenn bei umfassender Würdigung aller Umstände ein die Gewährleistungen des Art. 3 EMRK bzw. Art. 4 EU-Grundrechtecharta wahrendes Existenzminimum gesichert ist und auch keine anderweitige schwerwiegende Verletzung grundlegender Grund- oder Menschenrechte oder eine sonst unerträgliche Härte droht (vgl. OVG NRW, B.v. 25.2.2021 – 19 A 1417/20.A – juris Rn. 19; VGH BW, U.v. 29.11.2019 – A 11 S 2376/19 – juris Ls.; VG Würzburg, U.v. 24.2.2021 – W 8 K 20.30328 – juris Rn. 40).
Dabei sind schlechte humanitäre Bedingungen im Zielstaat, die nicht auf eine direkte oder indirekte Handlung oder Unterlassung staatlicher oder nicht staatlicher Akteure zurückzuführen sind, nur in ganz besonderen Ausnahmefällen im Rahmen des Art. 3 EMRK zu berücksichtigen. Die Annahme einer unmenschlichen Behandlung allein durch die humanitäre Lage und die allgemeinen Lebensbedingungen setzt ein sehr hohes Gefährdungsniveau voraus (vgl. BVerwG, B.v. 13.2.2019 – 1 B 2/19 – juris Rn. 10). Nach der neueren Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (EuGH, U.v. 19.3.2019 – C-297/17, C-318/17, C-319/17, C-438/17 – juris Rn. 90) kommt es darauf an, ob sich die betroffene Person unabhängig von ihrem Willen und ihren persönlichen Entscheidungen in einer Situation extremer materieller Not befindet, die es ihr nicht erlaubt, ihre elementarsten Grundbedürfnisse zu befriedigen, insbesondere sich zu ernähren, sich zu waschen und eine Unterkunft zu finden, und ihre physische und psychische Gesundheit beeinträchtigt oder sie in einen Zustand der Verelendung versetzt, der mit der Menschenwürde unvereinbar wäre.
Den Klägern ist vorliegend ein Leben in der Westtürkei wirtschaftlich zuzumuten. Die wirtschaftliche Lage der Kläger war nach eigenen Angaben bis zu ihrer Ausreise aus der Türkei gut. Der Kläger zu 1 hat mit Tieren gehandelt und damit neben den allgemeinen Lebenshaltungskosten auch Ersparnisse angehäuft, mit denen er die Ausreisekosten i.H.v. EUR 12.000,- finanzieren konnte. Ferner verfügen die Kläger über eine Vielzahl von Verwandten, haben für acht bzw. zehn Jahre die Schule besucht und können türkisch sprechen. Der Kläger zu 1 hat des Weiteren angegeben, dass er aufgrund eines Arbeitsunfalls von einem ehemaligen türkischen Arbeitgeber eine monatliche Rente erhält. Unter Berücksichtigung dieser Umstände ist das Gericht der Überzeugung, dass die Kläger auch bei einer Rückkehr in die Türkei mit ihren Kindern in der Lage sein werden, ihr wirtschaftliches Existenzminimum – wie vor der Ausreise – ohne Verstoß gegen Art. 3 EMRK zu sichern bzw. ihnen dies jedenfalls unter Zuhilfenahme familiärer Unterstützung möglich ist.
1.1.2. Die Kläger haben mit ihrem individuellen Vortrag nicht glaubhaft machen können, dass ihnen in der Türkei eine flüchtlingsrelevante Handlung droht.
Hierbei ist zunächst festzuhalten, dass die Klägerin zu 2 nach eigenen Angaben selbst keine Probleme in der Türkei hatte und nur wegen ihrem Mann nach Deutschland ausgereist ist. Die Schilderungen der Kläger führen jedoch auch hinsichtlich des Klägers zu 1 nicht dazu, dass das Gericht davon überzeugt ist, dass diesem mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine gegenwärtige Verfolgung durch den türkischen Staat droht.
1.1.2.1. Der Kläger zu 1 hat nach Auffassung des Gerichts nicht bereits deshalb eine Verfolgung zu befürchten, weil er Mitglied in der Partei HDP ist.
Seit spätestens Sommer 2015 fährt die türkische Regierung unter Staatspräsident Erdogan politisch einen verstärkt nationalen Kurs, dessen Kernelement das bedingungslose Vorgehen im Kurdenkonflikt gegen die PKK und vermeintliche Unterstützer ist (vgl. S. 6 des Berichts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei des Auswärtigen Amts vom 24. August 2020). Der Kurdenkonflikt ließ auch die politische Vertretung der kurdischen Minderheit zum Ziel staatlicher Repressalien werden. So wurden beispielsweise im Zuge der temporären Verfassungsänderung am 8. Juni 2016 138 Abgeordnete (darunter 57 von 59 Abgeordnete der prokurdischen HDP) die parlamentarische Immunität entzogen. Stand März 2019 befanden sich 10 ehemalige Abgeordnete der HDP und ein ehemaliger Abgeordneter der CHP in Haft (vgl. S. 6 des Berichts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei des Auswärtigen Amts vom 14. Juni 2019). Trotz der Einschränkungen ihres Wahlkampfs u.a. durch die Inhaftierung ihres Spitzenkandidaten Demirtas, der auch aktuell noch im Gefängnis sitzt, überwand die HDP bei der letzten Präsidentschaftswahl am 24. Juni 2018 die Zehnprozenthürde und zog mit 11,70% erneut ins türkische Parlament ein. Die türkische Regierung versucht zudem auch auf lokaler Ebene den Einfluss der HDP zu verringern. So wurden beispielsweise 45 von 65 HDP-Bürgermeistern abgesetzt und 21 von ihnen im Zusammenhang mit strafrechtlichen Ermittlungen in Untersuchungshaft genommen (Stand Mai 2020). Der Führung der linkskurdischen HDP wird regierungsseitig vorgeworfen, enge Verbindungen zur PKK sowie zu derer politischer Dachorganisation KCK zu pflegen. Strafverfolgungen gegen die PKK und die KCK betreffen insoweit nicht selten auch Mitglieder der HDP. Nach aktuellen Schätzungen (März 2020) befinden sich ca. 5.000 Parteifunktionäre und -mitglieder der HDP gegenwärtig in Haft (vgl. S. 6 und 10 des Berichts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei des Auswärtigen Amts vom 24. August 2020). So führt auch die Schweizerische Flüchtlingshilfe aus, dass oppositionspolitisches Engagement zu Gefährdung führen kann. Betroffene werden in der Regel in wiederholt verlängerte Untersuchungshaft gesetzt und können Gewaltandrohungen und Strafverfolgung ausgesetzt sein. Laut der International Crisis Group sind seit Juli 2015 mehr als 10.000 Politiker und Unterstützer der HDP verhaftet worden (vgl. Schnellrecherche der Schweizerischen Flüchtlingshilfe v. 7.7.2017 zur Türkei: Gefährdung bei Rückkehr von kurdischstämmigen Personen mit oppositionspolitischem Engagement und möglichen Verbindungen zur PKK).
Der Kläger zu 1 ist nach dem im Behördenverfahren vorgelegten Schreiben seit
15. August 2014 offizielles Mitglied der HDP. Nach eigenen Angaben hat er keine besondere Position in der Partei innegehabt und kein offizielles Amt in der HDP bekleidet. Vielmehr ist er einige Zeit für die örtliche Jugendabteilung verantwortlich gewesen und hat für die Partei Stimmen im Wahlkampf gesammelt. In seiner Anhörung beim Bundesamt hat er selbst davon gesprochen, dass er nur ein einfaches Mitglied der Partei ist. Unter Berücksichtigung dieser Umstände kommt das Gericht zu der Einschätzung, dass der Kläger zu 1 keine herausragende oder exponierte Stellung innerhalb der HDP aufweist. Der Kläger zu 1 konnte ferner weder im Behörden- noch im Gerichtsverfahren Dokumente vorlegen, die nachweisen würden, dass gegen ihn ein Ermittlungs- oder Strafverfahren eingeleitet wurde. Auch in der mündlichen Verhandlung hat der Kläger zu 1 angegeben, dass es in letzter Zeit keine polizeilichen Nachfragen zu seiner Person bei seiner Familie gegeben hat. Soweit die Kläger dem Gericht in der mündlichen Verhandlung Fotos von uniformierten Polizisten vor ihrem Haus gezeigt haben, scheint es sich um Fotos aus dem Jahr 2016 zu handeln, weil die Kläger nach Angabe der Klägerin zu 2 nach diesem Vorfall entschieden haben, aus der Türkei auszureisen. Da es sich bei dem Kläger zu 1 um ein einfaches Mitglied der HDP handelt und die staatlichen Behörden seit der Ausreise im Jahr 2016 kein nachweisliches Interesse an diesem bekundet haben, ist das Gericht der Überzeugung, dass dem Kläger zu 1 allein wegen seiner Mitgliedschaft in der HDP nicht mit hinreichender Wahrscheinlichkeit eine gegenwärtige staatliche Verfolgung droht.
1.1.2.2. Die sonstigen Schilderungen in den Jahren 2014 bis 2016 können nach Auffassung des Gerichts ebenfalls keine hinreichende Wahrscheinlichkeit für eine Verfolgung in der Türkei belegen, weil der individuelle Vortrag der Kläger insoweit in wesentlichen Punkten widersprüchlich und daher nicht glaubhaft ist.
So erschließt sich dem Gericht beispielsweise nicht, wieso nach Angabe des Klägers zu 1 der Staat der HDP zugetragen haben soll, dass er den Kläger zu 1 und andere Mitglieder verfolgt, obwohl die HDP selbst unter regierungsseitigem Druck steht (vgl. unter 1.1.2.1.). Aus dem Vortrag des Klägers zu 1 ergibt sich ferner nicht, ob es sich um konkrete Warnungen hinsichtlich seiner Person gehandelt hat. Seine Ausführungen legen vielmehr nahe, dass lediglich allgemeine Warnungen gegenüber allen Parteimitgliedern ausgesprochen wurden (vgl. S. 9 der Anhörung des Klägers zu 1 vor dem Bundesamt). Auch wurde von den Klägern regelmäßig nicht benannt, von wem der Kläger zu 1 verfolgt wird, sodass bereits unklar ist, ob die Gefahr im konkreten Fall von Privaten, die den Kläger zu 1 nach eigenen Angaben ebenfalls verfolgen, oder von staatlicher Seite ausgeht. Ferner hat der Kläger zu 1 bei der Anhörung vor dem Bundesamt an zwei Stellen (S. 6 und 9 der Anhörung des Klägers zu 1 vor dem Bundesamt) davon gesprochen, dass er Ende 2015 bzw. nach Mai oder Juni 2015 nochmal für zehn Tage in Untersuchungshaft gekommen ist. Im gerichtlichen Verfahren hat er diese Aussage sodann wegen des Widerspruchs zu den Aussagen der Klägerin zu 2 bei deren Anhörung gegenüber dem Bundesamt korrigiert und vorgetragen, dass er ab dem 20. Juni 2015 nicht mehr festgenommen wurde und er sich hinsichtlich seiner Angaben vor dem Bundesamt schlicht geirrt hat. Da der Kläger seine Angabe jedoch in der laufenden Anhörung vor dem Bundesamt nochmals bekräftigt hat und ihm die Niederschrift auch rückübersetzt wurde, spricht überwiegendes dafür, dass es sich nicht bloß um einen Versprecher oder eine falsche Übersetzung gehandelt hat. Widersprüchlich ist zudem, dass der Kläger zu 1 bei seiner Anhörung zunächst ausgesagt hat, dass sein Kollege namens A. Ö. von Unbekannten mit dreißig Schüssen bei einer Fahrt mit dem Wahlkampfbus der HDP getötet wurde, er später jedoch behauptet hat, dass er definitiv vom Staat umgebracht worden ist. Die Ausführungen in der mündlichen Verhandlung zeigen wiederum, dass er dies gerade nicht mit Sicherheit weiß, weil er dort ausgeführt hat, dass er der Überzeugung ist, dass der Staat seinen Freund namens A. Ö. getötet hat. Hinsichtlich seiner letzten Festnahme hat der Kläger zu 1 bei der Anhörung vor dem Bundesamt ebenfalls anfänglich mitgeteilt, dass er wegen politischen Aktivitäten in Untersuchungshaft gekommen ist. Auf Nachfrage, wie es zu der Festnahme gekommen ist, hat er sodann vorgetragen, dass man ihn der Tötung von drei Personen verdächtigt hat, er wegen dieses Vorwurfs jedoch wieder freigelassen wurde. Anlass der Festnahme scheinen somit nicht seine politischen Aktivitäten, sondern die Ahndung allgemeinen kriminellen Unrechts gewesen zu sein. Nicht nachvollziehbar ist für das Gericht zudem, dass der Kläger zu 1 nach eigenen Angaben mehrfach in Untersuchungshaft war, er jedoch keinen Haftbefehl oder andere gerichtliche Dokumente hierfür vorlegen konnte. Dies spricht zusammen mit der jeweils behaupteten kurzen Verweildauer im Gefängnis gerade nicht dafür, dass es sich nicht um eine Untersuchungshaft gehandelt hat. Des Weiteren hat der Kläger zu 1 bei der Anhörung vor dem Bundesamt behauptet, dass sie auch in Istanbul verfolgt worden sind. Auf Nachfrage des Bundesamts konnte er jedoch keine konkreten Verfolgungsmaßnahmen benennen. Auch in der mündlichen Verhandlung hat der Kläger zu 1 in Widerspruch zur ursprünglichen Aussage auf Nachfrage des Gerichts angegeben, dass er in Istanbul keinen Kontakt zur Polizei oder einer anderen staatlichen Behörde gehabt hat.
Nicht nachvollziehbar ist für das Gericht ferner, dass die Kläger sich in maßgeblichen Punkten der Schilderung zu den Ereignissen vor der Ausreise widersprochen haben bzw. diese von dem einen, nicht aber von dem anderen vorgetragen wurden. So hat etwa die Klägerin zu 2 bei der Anhörung vor dem Bundesamt vorgetragen, dass der Kläger zu 1 nach ihrer Heirat am 20. Juni 2015 nicht mehr von der Polizei festgenommen wurde, wohingegen der Kläger zu 1 in der Anhörung von einer Untersuchungshaft Ende 2015 gesprochen hat. Auch hat die Klägerin zu 2 ausgeführt, dass der Kläger zu 1 einmal für ein bis zwei Monate im Gefängnis gewesen ist, während der Kläger zu 1 laut eigenen Angaben maximal zehn Tage im Gefängnis war. Der Vortrag der Klägerin zu 2, dass sich der Kläger zu 1 über mehrere Monate in den Bergen versteckt hat und die Polizei deren Haus mehrfach durchsucht hat, wurde vom Kläger zu 1 bei seiner Anhörung ebenfalls nicht erwähnt. Wieso ein so wesentlicher Teil der Verfolgungsgeschichte vom Kläger zu 1 ausgespart wurde, erschließt sich dem Gericht nicht. Die Klägerin zu 2 hat in der mündlichen Verhandlung wiederum nicht davon gesprochen, dass sich der Kläger zu 1 in den Bergen aufgehalten hat, sondern nun ausgeführt, dass der Kläger zu 1 vor der Ausreise nach Istanbul abwechselnd bei Verwandten übernachtet hat. Für das Gericht ist des Weiteren nicht nachvollziehbar, warum die Klägerin zu 2 davon gesprochen hat, dass mit A. Ö, C. T. und A. B. die drei besten Freunde des Klägers zu 1 und wie er Mitglieder der Partei HDP umgebracht worden sind, der Kläger zu 1 aber nur A. Ö. als seinen Freund und Parteikollegen erwähnt hat. Im Hinblick auf die Person namens C. T. hat der Kläger zu 1 bei der Anhörung vor dem Bundesamt lediglich mitgeteilt, dass er wegen dem Tod seines Verwandten namens C. T., der Mitglied der Hüda Partei gewesen ist, von der Polizei verdächtigt wurde. Dass es sich bei diesem um seinen Freund gehandelt hat und er vom Staat getötet wurde, hat der Kläger zu 1 somit nicht vorgetragen.
Äußerungen zu seinem Parteikollegen A. B. finden sich zudem überhaupt nicht in der Anhörung des Klägers zu 1 beim Bundesamt.
Das Gericht teilt daher die Einschätzung des Bundesamts im streitgegenständlichen Bescheid, wonach die Kläger ihre begründete Furcht vor Verfolgung nicht hinreichend glaubhaft gemacht haben und die fluchtauslösenden Ereignisse detailarm und widersprüchlich geschildert wurden.
1.1.3. Im Hinblick auf den Vortrag des Klägers zu 1, dass er sich von Angehörigen der getöteten Personen bedroht fühlt, weist das Gericht ergänzend darauf hin, dass es sich hierbei bereits deshalb nicht um eine diskriminierende Verfolgung handelt, weil sie nicht von einem Akteur i.S.d. § 3c AsylG ausgeht.
Nach § 3c Nr. 3 AsylG kann zwar von nichtstaatlichen Akteuren eine Verfolgung ausgehen, sofern die in Nummer 1 und 2 genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. Da der türkische Staat gegenüber Straftaten gegen die körperliche Unversehrtheit jedoch nicht schutzunwillig ist und der Kläger zu 1 ferner nicht dargelegt hat, dass er sich diesbezüglich um staatlichen Schutz bemüht hat, handelt es sich bei den Privatpersonen nicht um einen Akteur i.S.v. § 3 c AsylG, von denen eine Verfolgung nach § 3 Abs. 1 AsylG ausgehen kann.
1.2. Die Kläger haben keinen Anspruch auf subsidiären Schutz nach § 4 Abs. 1 AsylG.
Nach § 4 Abs. 1 Satz 1 AsylG ist ein Ausländer subsidiärer Schutzberechtigter, wenn er stichhaltige Gründe für die Annahme vorgebracht hat, dass ihm in seinem Herkunftsland ein ernsthafter Schaden droht. Als ernsthafter Schaden gilt dabei die Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG), Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG) oder eine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit einer Zivilperson infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AsylG). Für die Zuerkennung subsidiären Schutzes im Sinne des § 4 Abs. 1 AsylG gelten nach § 4 Abs. 3 Satz 1 AsylG die §§ 3c bis 3e AsylG entsprechend. Damit werden die dortigen Bestimmungen über den Vorverfolgungsmaßstab, Nachfluchtgründe, Verfolgungs- und Schutzakteure und internen Schutz als für die Zuerkennung subsidiären Schutzes anwendbar erklärt. Auch bei der Zuerkennung subsidiären Schutzes greift die Beweiserleichterung nach Art. 4 Abs. 4 RL 2011/95/EU (vgl. BVerwG, U.v. 27.4.2010 – 10 C 5/09 – juris Rn. 20).
1.2.1. Die Gefahr der Verhängung oder Vollstreckung der Todesstrafe i.S.v. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 AsylG wurde von den Klägern weder geltend gemacht, noch liegen hierfür Anhaltspunkte vor.
Die Todesstrafe ist in der Türkei abgeschafft (vgl. S. 22 des Berichts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei des Auswärtigen Amts vom 24. August 2020). Auch für extralegale Hinrichtungen liegen keine Anhaltspunkte vor. Etwaige Tötungen durch Private stellen keine „Todesstrafe“ hierzu berechtigter Institutionen dar und stehen auch in der Türkei als Kapitaldelikt unter Strafe.
1.2.2. Auch die Voraussetzungen des § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG sind nicht erfüllt.
Wann eine „unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung“ vorliegt, hängt vom Einzelfall ab. Eine derartige Behandlung muss jedenfalls ein Mindestmaß an Schwere erreichen. Darunter sind Maßnahmen zu verstehen, bei denen einem Betroffenen unter Missachtung der Menschenwürde absichtlich schwere psychische oder physische Leiden zugefügt werden, die nach Art und Ausmaß besonders schwer und krass gegen Menschenrechte verstoßen (vgl. Bergmann in Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 13. Auflage 2020, § 4 AsylG, Rn. 10). Hierfür bedarf es, wie Art. 6 der RL 2011/95/EU zu entnehmen ist, der dem subsidiären Schutz zugrunde liegt, grundsätzlich eines Akteurs (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – BVerwGE 146, 12, juris Rn. 29). Dies gilt gemäß § 4 Abs. 3 i.V.m. § 3c AsylG auch dann, wenn die Gefahr von nichtstaatlichen Akteuren ausgeht. Es müssen konkrete Anhaltspunkte oder stichhaltige Gründe dafür glaubhaft gemacht werden, dass der Ausländer im Fall seiner Abschiebung einem echten Risiko oder einer ernsthaften Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wäre.
Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe droht den Klägern nach Auffassung des Gerichts keine Folter oder unmenschliche oder erniedrigende Behandlung oder Bestrafung i.S.d. § 4 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AsylG. Die Kläger haben keine konkreten Anhaltspunkte oder stichhaltige Gründe dafür glaubhaft gemacht, dass sie im Fall ihrer Abschiebung einem echten Risiko oder einer ernsthaften Gefahr einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt wären. Insbesondere droht den Klägern eine solche Behandlung nicht wegen der Mitgliedschaft des Klägers zu 1 bei der HDP sowie den geschilderten Vorfällen in den Jahren 2014 bis 2016 (vgl. hierzu die Ausführungen unter 1.1.2.1. und 1.1.2.2.).
Die Abschiebung nach einer Asylantragsstellung in Deutschland führt in der Türkei ebenfalls nicht zu einer unmenschlichen oder erniedrigenden Behandlung oder Strafe. Dem Auswärtigen Amt und türkischen Menschenrechtsorganisationen, zu denen die Deutsche Botschaft engen Kontakt unterhält, ist in den letzten Jahren kein Fall bekannt geworden, in dem ein aus Deutschland in die Türkei zurückgekehrter Asylbewerber im Zusammenhang mit früheren Aktivitäten – dies gilt auch für exponierte Mitglieder und führende Persönlichkeiten terroristischer Organisationen – gefoltert oder misshandelt worden ist (vgl. S. 26 des Berichts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei des Auswärtigen Amts vom 24. August 2020).
1.2.3. Es besteht keine ernsthafte individuelle Bedrohung des Lebens oder der Unversehrtheit der Kläger infolge willkürlicher Gewalt im Rahmen eines internationalen oder innerstaatlichen bewaffneten Konflikts (§ 4 Abs. 1 Nr. 3 AsylG).
Die allgemeine Gefahr, die von einem bewaffneten Konflikt für eine Vielzahl von Zivilpersonen ausgeht, kann sich individuell so verdichten, dass sie eine ernsthafte individuelle Bedrohung darstellt. Voraussetzung hierfür ist eine außergewöhnliche Situation, die durch einen so hohen Gefährdungsgrad gekennzeichnet ist, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer solchen Bedrohung ausgesetzt ist. Besteht ein bewaffneter Konflikt mit einem solchen Gefahrengrad nicht landesweit, ist bezüglich der Gefahrendichte auf die jeweilige Herkunftsregion abzustellen, in die ein Ausländer typischerweise zurückkehren wird (vgl. BVerwG, U.v. 14.7.2009 – 10 C 9.08 – juris Ls.).
In der Türkei liegt gegenwärtig kein innerstaatlicher bewaffneter Konflikt vor. Zwar wird in den aktuellen Erkenntnismitteln ausgeführt, dass trotz erhöhter Sicherheitsmaßnahmen das Risiko von Terroranschlägen im ganzen Land besteht und die bewaffneten Konflikte in den Nachbarländern Syrien und Irak Auswirkungen auf die Sicherheitslage in der Türkei haben (vgl. S.11 des Länderinformationsblatts der Staatendokumentation für die Türkei des österreichischen Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl vom 29. November 2019). Der Konflikt mit der PKK, der im Juli 2015 wieder aufflammte, hat jedoch in seiner Intensität innerhalb des türkischen Staatsgebiets seit Sommer 2016 nachgelassen (vgl. S. 5 f. des Berichts über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Türkei des Auswärtigen Amts vom 14. Juni 2019). Nach den ausgewerteten Erkenntnismitteln geht die Türkei zwar auf ihrem Staatsgebiet gegen Terrorismus vor und erfasst dabei auch der Terrorunterstützung etc. verdächtige Personen, insbesondere soweit sie der PKK zugerechnet werden. Dies stellt allerdings nach Art, Intensität und Umfang keinen so hoher Gefährdungsgrad dar, dass praktisch jede Zivilperson allein aufgrund ihrer Anwesenheit in dem betroffenen Gebiet einer solchen Bedrohung ausgesetzt ist.
1.3. Es liegen keine zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 oder § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG vor.
1.3.1. Die Kläger können nicht mit Erfolg ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 5 AsylG geltend machen.
Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG i.V.m. Art. 3 EMRK darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Insoweit sind die Verhältnisse im Abschiebungszielstaat landesweit in den Blick zu nehmen (vgl. BVerwG, U.v. 31.1.2013 – 10 C 15/12 – juris Rn. 26) und die vorhersehbaren Folgen einer Rückkehr unter Berücksichtigung sowohl der allgemeinen Lage im Zielstaat als auch der persönlichen Umstände des Ausländers zu prüfen (vgl. EGMR, U.v. 20.7.2010 – 23505/09, N./Schweden – HUDOC Rn. 54; vom 28.6.2011 – 8319.07 und 11449.07, Sufi und Elmi/Großbritannien – HUDOC Rn. 216; v. 29.1.2013 – 60367.10, S.H.K/Großbritannien – HUDOC Rn. 72; v. 6.6.2013 – 2283.12, Mohammed/Österreich – HUDOC Rn. 95; v. 5.9.2013 – 61204.09, 1./Schweden – HUDOC Rn. 56).
Wie bereits zuvor ausgeführt, liegen im Hinblick auf die Kläger keine ernsthaften und stichhaltigen Gründe dafür vor, dass sie tatsächlich Gefahr laufen, in der Türkei einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Die allgemeine Versorgungslage in der Türkei stellt weder für sich genommen noch unter Berücksichtigung der individuellen Umstände der Kläger eine unmenschliche oder erniedrigende Behandlung i.S.d. Art. 3 EMRK dar. Insbesondere ist davon auszugehen, dass die Kläger ihr Existenzminimum in der Türkei sichern können (vgl. hierzu die Ausführungen unter 1.1.1.).
1.3.2. Ein Abschiebungsverbot nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG liegt nicht vor.
Nach § 60 Abs. 7 Satz 1 und 3 AufenthG soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht. Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen liegt nur vor bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden. Gemäß § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG wird vermutet, dass der Abschiebung gesundheitliche Gründe nicht entgegenstehen. Nach § 60a Abs. 2c Satz 2 und 3 AufenthG, welche gemäß § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG entsprechend gelten, muss der Ausländer eine Erkrankung, die die Abschiebung beeinträchtigen kann, durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung glaubhaft machen. Diese ärztliche Bescheinigung soll insbesondere die tatsächlichen Umstände, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlichmedizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung, den lateinischen Namen oder die Klassifizierung der Erkrankung nach ICD 10 sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben, enthalten.
Vorliegend haben die Kläger keine Krankheiten geltend gemacht, die einer Abschiebung in die Türkei entgegenstehen würden. Es bleibt daher bei der unwiderlegten Vermutung des § 60a Abs. 2c Satz 1 AufenthG, wonach der Abschiebung keine gesundheitlichen Gründe entgegenstehen. Ferner begründet die Covid-19-Pandemie nach aktuellem Stand kein Abschiebungsverbot für die Türkei (vgl. Länderinformation Covid-19-Pandemie, Stand 06/2020, Informationszentrum Asyl und Migration, S. 14 ff.). Hierbei handelt es sich um eine allgemeine Gefahr, die aufgrund der Sperrwirkung des § 60 Abs. 7 Satz 6 AufenthG die Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG grundsätzlich nicht rechtfertigen kann. Die Kläger wären insoweit auch auf die medizinische Versorgung in der Türkei zu verweisen.
1.4. Die Abschiebungsandrohung gemäß § 34 Abs. 1 AsylG i.V.m. § 59 AufenthG ist in rechtmäßiger Weise erfolgt. Ebenso wenig zu beanstanden sind das Einreise- und Aufenthaltsverbot und dessen Befristung in Nr. 6 des streitgegenständlichen Bescheids. Die Befristungsentscheidung nach § 11 Abs. 2 Satz 3, Abs. 3 Satz 1, § 75 Nr. 12 AufenthG ist ermessensgerecht erfolgt.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Das Verfahren ist nach § 83b AsylG gerichtskostenfrei.
3. Der Ausspruch zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 Abs. 1 VwGO i.V.m. §§ 708 ff. ZPO.


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