Arbeitsrecht

2 C 18/20

Aktenzeichen  2 C 18/20

Datum:
29.4.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BVerwG:2021:290421U2C18.20.0
Spruchkörper:
2. Senat

Leitsatz

1. Arbeitszeit i.S.v. § 88 Satz 2 BBG (in der Form von Bereitschaftsdienst gemäß § 2 Nr. 12 AZV) setzt voraus, dass sich der Beamte an einem nicht “privat” frei wählbaren und wechselbaren Ort bereitzuhalten hat und dass die in Rede stehenden Zeiten von einem “Sich-Bereit-Halten” für einen jederzeit möglichen Einsatz geprägt sind. Dies kann insbesondere wegen der Festlegung des Aufenthaltsorts, Einschränkungen in der Bewegungsfreiheit und der Verpflichtung zum Tragen von Ausrüstung und Bewaffnung gegeben sein.
2. Bei der Prüfung, ob Bereitschaftsdienst in diesem Sinne vorliegt, ist unabhängig davon, ob eine Arbeitszeitregelung in den Anwendungsbereich der RL 2003/88/EG fällt, die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union für die Abgrenzung von Arbeitszeit und Ruhezeit i.S.v. Art. 2 Nr. 1 und 2 der Richtlinie zu beachten, weil der deutsche Gesetzgeber einen einheitlichen Begriff des Bereitschaftsdienstes vorgesehen hat.
3. Der Dienstherr kann sein Ermessen bei der Anordnung von Mehrarbeit gemäß § 88 BBG auch für eine Mehrzahl von Beamten in einer sie alle umfassenden Weisung (hier: in einem Einsatzbefehl) ausüben.
4. Die RL 2003/88/EG verlangt nicht, dass ein rein mitgliedstaatlicher Ausgleichsanspruch für die Überschreitung der mitgliedstaatlich geregelten regelmäßigen Arbeitszeit eine bestimmte Höhe hat.
5. Der Anspruch auf einheitlichen Freizeitausgleich gemäß § 11 BPolBG tritt nur dann an die Stelle einer Dienstbefreiung gemäß § 88 Satz 2 BBG, wenn sich der Dienstherr für eine pauschale Abrechnung entscheidet. Diese Pauschalierungsbefugnis des Dienstherrn setzt nach ihrem Sinn und Zweck voraus, dass es in dem Einsatzzeitraum auch Stunden gibt, die tatsächlich Ruhezeit, d.h. keine Arbeitszeit, sind.

Verfahrensgang

vorgehend Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, 13. Februar 2020, Az: 1 A 1671/18, Urteilvorgehend VG Köln, 8. März 2018, Az: 15 K 4640/16, Urteil

Tenor

– für den Kläger zu 1:
Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 13. Februar 2020 wird aufgehoben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 8. März 2018 wird zurückgewiesen, soweit das Oberverwaltungsgericht die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 14. Oktober 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. April 2016 verurteilt hat, dem Kläger für die im Zeitraum vom 27. Mai bis 9. Juni 2015 geleisteten Einsatzstunden weiteren Freizeitausgleich in Höhe von mehr als 150,1 Stunden zu gewähren.
Im Übrigen wird die Revision der Beklagten zurückgewiesen.
Die Kosten des erstinstanzlichen Verfahrens und des Revisionsverfahrens tragen der Kläger zu 10 % und die Beklagte zu 90 %. Die Kosten des Berufungsverfahrens tragen der Kläger zu 25 % und die Beklagte zu 75 %.
– für den Kläger zu 2:
Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 13. Februar 2020 wird aufgehoben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 8. März 2018 wird zurückgewiesen, soweit das Oberverwaltungsgericht die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 14. Oktober 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. April 2016 verurteilt hat, dem Kläger für die im Zeitraum vom 27. Mai bis 9. Juni 2015 geleisteten Einsatzstunden weiteren Freizeitausgleich in Höhe von mehr als 150,1 Stunden zu gewähren.
Im Übrigen wird die Revision der Beklagten zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens trägt die Beklagte.
– für den Kläger zu 3:
Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 13. Februar 2020 wird aufgehoben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 8. März 2018 wird zurückgewiesen, soweit das Oberverwaltungsgericht die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 14. Oktober 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. April 2016 verurteilt hat, dem Kläger für die im Zeitraum vom 27. Mai bis 9. Juni 2015 geleisteten Einsatzstunden weiteren Freizeitausgleich in Höhe von mehr als 150,1 Stunden zu gewähren.
Im Übrigen wird die Revision der Beklagten zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens trägt die Beklagte.
– für den Kläger zu 4:
Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 13. Februar 2020 wird aufgehoben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 8. März 2018 wird zurückgewiesen, soweit das Oberverwaltungsgericht die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 14. Oktober 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. April 2016 verurteilt hat, dem Kläger für die im Zeitraum vom 27. Mai bis 9. Juni 2015 geleisteten Einsatzstunden weiteren Freizeitausgleich in Höhe von mehr als 150,1 Stunden zu gewähren.
Im Übrigen wird die Revision der Beklagten zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens trägt die Beklagte.
– für den Kläger zu 5:
Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 13. Februar 2020 wird aufgehoben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 8. März 2018 wird zurückgewiesen, soweit das Oberverwaltungsgericht die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 14. Oktober 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. April 2016 verurteilt hat, dem Kläger für die im Zeitraum vom 27. Mai bis 9. Juni 2015 geleisteten Einsatzstunden weiteren Freizeitausgleich in Höhe von mehr als 150,1 Stunden zu gewähren.
Im Übrigen wird die Revision der Beklagten zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens trägt die Beklagte.
– für den Kläger zu 6:
Das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 13. Februar 2020 wird aufgehoben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 8. März 2018 wird zurückgewiesen, soweit das Oberverwaltungsgericht die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 14. Oktober 2015 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 20. April 2016 verurteilt hat, dem Kläger für die im Zeitraum vom 2. bis 9. Juni 2015 geleisteten Einsatzstunden weiteren Freizeitausgleich in Höhe von mehr als 87,6 Stunden zu gewähren.
Im Übrigen wird die Revision der Beklagten zurückgewiesen.
Die Kosten des Verfahrens in allen Rechtszügen tragen der Kläger zu 15 % und die Beklagte zu 85 %.

Tatbestand

1
Die Kläger sind Polizeibeamte im Dienste der Beklagten, zur Zeit des Streitfalls in unterschiedlichen Ämtern vom Polizeimeister (Besoldungsgruppe A 7 BBesO) bis zum Polizeihauptkommissar (Besoldungsgruppe A 12 BBesO). Sie erstreben (über die ihnen bereits gewährte Dienstbefreiung hinaus) weiteren Freizeitausgleich für ihren Einsatz anlässlich des sog. G7-Gipfels in Elmau im Jahr 2015. Die Kläger zu 2 bis 6 beanspruchen zudem weiteren Freizeitausgleich für ihren anschließenden Einsatz anlässlich der sog. Bilderberg-Konferenz in Österreich; der dort ebenfalls eingesetzte Kläger zu 1 hat seine insoweit erhobene Klage in der Berufungsinstanz zurückgenommen.
2
Der Einsatz anlässlich des G7-Gipfels stand unter der Gesamteinsatzleitung des Präsidenten der Bundespolizeidirektion M. In dem Einsatzbefehl Nr. 2 der Direktion vom 20. Mai 2015 heißt es unter Ziff. 6.2.2:
“Die erforderliche Mehrarbeit wird hiermit auf Grundlage des § 88 BBG angeordnet. Bei Vorliegen der Voraussetzungen sollen die Regelungen des § 11 BPolBG in Verbindung mit der hierzu gültigen Erlass-/Verfügungslage Anwendung finden. Die Entscheidung über die Höhe des Freizeitausgleichs trifft in diesem Fall der Polizeiführer nach dem Einsatz. Eine vorherige Anordnung/Festlegung ist unzulässig.”
3
Für die Dauer des Einsatzes waren die Kläger mit ihrer Hundertschaft in einem Hotel untergebracht. Sie waren auch während der so bezeichneten “Ruhezeiten” angewiesen, keinen Alkohol zu sich zu nehmen, jederzeit erreichbar zu sein und ihre persönliche Ausrüstung einschließlich der Waffen ständig bei sich zu führen. Das Hotel durften sie allenfalls zu bestimmten Anlässen und nur nach vorheriger Genehmigung, nicht jedoch nach eigenem Belieben verlassen.
4
Nach Beendigung des Einsatzes wurden die Kläger mit ihrer Einheit unmittelbar anschließend bei der Bilderberg-Konferenz eingesetzt und während dieses Einsatzes mit gleicher Weisungslage ebenfalls in einem Hotel untergebracht.
5
Für den Einsatz anlässlich des G7-Gipfels errechnete die Beklagte im Wege einer sog. “spitzen Abrechnung” für die Kläger zu 1 bis 5 einen Anspruch auf Freizeitausgleich in Höhe von jeweils 90,75 Stunden und für den erst später angereisten und eingesetzten Kläger zu 6 in Höhe von 47 Stunden. Zusätzlich genehmigte sie den Klägern jeweils einen besonderen Zeitausgleich in Höhe von zwei Tagen. Die “Ruhezeiten” der Kläger im Hotel berücksichtigte sie in ihrer Berechnung des Freizeitausgleichs nicht.
6
Für den Einsatz bei der Bilderberg-Konferenz gewährte die Beklagte den Klägern jeweils einen einheitlichen Freizeitausgleich gemäß § 11 BPolBG in Höhe von 50 Stunden.
7
Im August 2015 beantragten die Kläger, die “Ruhezeiten” im Rahmen der “spitzen Abrechnung” als Bereitschaftsdienst zu berücksichtigen. Die Beklagte lehnte dies ab, die Widersprüche der Kläger blieben erfolglos.
8
Das Verwaltungsgericht hat die Beklagte jeweils verurteilt, den Klägern zu 1 bis 5 für ihren Einsatz anlässlich des G7-Gipfels in Elmau weiteren Freizeitausgleich in Höhe von insgesamt 5 Stunden zu gewähren; im Übrigen hat es die Klagen abgewiesen. Die Klage des Klägers zu 6 wurde vollumfänglich abgewiesen.
9
Auf die jeweils eingelegte Berufung der Kläger hat das Berufungsgericht die Urteile des Verwaltungsgerichts jeweils teilweise abgeändert und die Beklagte verpflichtet, den Klägern zu 1 bis 5 für den Einsatz anlässlich des G7-Gipfels in Elmau weiteren Freizeitausgleich in Höhe von jeweils 166,5 Stunden und dem Kläger zu 6 weiteren Freizeitausgleich in Höhe von 104 Stunden zu gewähren. Hinsichtlich des Einsatzes anlässlich der Bilderberg-Konferenz hat das Berufungsgericht die Beklagte verpflichtet, den Klägern zu 2 und zu 4 weiteren Freizeitausgleich in Höhe von jeweils 30,5 Stunden und den Klägern zu 3, 5 und 6 weiteren Freizeitausgleich in Höhe von jeweils sechs Stunden zu gewähren. Das Verfahren des Klägers zu 1 hat das Berufungsgericht eingestellt, soweit dieser seine Klage hinsichtlich des Einsatzes anlässlich der Bilderberg-Konferenz zurückgenommen hat (vgl. DÖD 2020, 181 und NWVBl 2020, 327 ).
10
Mit ihrer Revision beantragt die Beklagte hinsichtlich des Klägers zu 1,
das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 13. Februar 2020 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 8. März 2018 zurückzuweisen, soweit das Oberverwaltungsgericht das Verfahren nicht wegen teilweiser Rücknahme der Klage in der Berufungsinstanz eingestellt hat,
und hinsichtlich der Kläger zu 2 bis 6 jeweils,
das Urteil des Oberverwaltungsgerichts für das Land Nordrhein-Westfalen vom 13. Februar 2020 aufzuheben und die Berufung des Klägers gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Köln vom 8. März 2018 zurückzuweisen.
11
Die Kläger beantragen jeweils,
die Revision zurückzuweisen.
12
Der Vertreter des Bundesinteresses unterstützt die Anträge der Beklagten.
13
Der Senat hat die sechs Verfahren in der mündlichen Verhandlung zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.


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