Arbeitsrecht

Entschädigungsanspruch wegen überlanger Verfahrensdauer: Voraussetzungen für die Unbilligkeit des normierten Pauschalsatzes; Erhöhung des gesetzlichen Pauschalsatzes bei erheblicher Verzögerung eines Verfahrens zu Fragen des Sorge- und Umgangsrechts

Aktenzeichen  III ZR 72/20

Datum:
6.5.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
BGH
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BGH:2021:060521UIIIZR72.20.0
Normen:
§ 198 Abs 2 S 3 GVG
§ 198 Abs 2 S 4 GVG
Art 6 Abs 2 GG
§ 1684 Abs 1 BGB
Art 8 Abs 1 MRK
§ 155 Abs 1 FamFG
§ 155b FamFG
§ 155c FamFG
Spruchkörper:
3. Zivilsenat

Leitsatz

1. Im Hinblick auf den eine Verfahrensvereinfachung anstrebenden Gesetzeszweck ist der Tatrichter nur bei Vorliegen besonderer Umstände gehalten, von dem normierten Pauschalsatz (§ 198 Abs. 2 Satz 3 GVG) aus Billigkeitsgründen gemäß § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG abzuweichen. Erforderlich ist, dass sich das zu beurteilende Verfahren durch eine oder mehrere entschädigungsrelevante Besonderheiten in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht von anderen Verfahren dieser Art abhebt, so dass die konkreten Auswirkungen der überlangen Verfahrensdauer die Pauschalhöhe als unbillig erscheinen lassen (Bestätigung und Fortführung der Senatsurteile vom 14. November 2013 – III ZR 376/12, BGHZ 199, 87 und vom 13. März 2014 – III ZR 91/13, NJW 2014, 1816).
2. In Verfahren, die Fragen des Sorge- und Umgangsrechts insbesondere gegenüber Kleinkindern zum Gegenstand haben, kommt bei einer dem Gericht zuzurechnenden erheblichen Verfahrensverzögerung (hier: 37 Monate) eine schwerwiegende Beeinträchtigung des betroffenen Elternteils in seinem Recht auf Umgang mit seinem Kind (Art. 6 Abs. 2 GG, § 1684 Abs. 1 BGB) und seinem Recht auf Achtung seines Privat- und Familienlebens (Art. 8 Abs. 1 EMRK) in Betracht, die nach § 198 Abs. 2 Satz 4 GVG die Erhöhung des gesetzliches Pauschalsatzes rechtfertigen kann.

Verfahrensgang

vorgehend BGH, 15. April 2021, Az: III ZR 72/20, Beschlussvorgehend BGH, 17. Dezember 2020, Az: III ZR 72/20, Beschlussvorgehend BGH, 29. Oktober 2020, Az: III ZR 72/20, Beschlussvorgehend OLG Koblenz, 17. Oktober 2019, Az: 1 EK 1/19

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Koblenz vom 17. Oktober 2019 im Kostenpunkt und insoweit aufgehoben, als die Klage hinsichtlich der Entschädigung für immaterielle Nachteile (Klageantrag zu 1) bei einer festgestellten Verfahrensverzögerung von insgesamt 37 Monaten in Höhe eines 3.700 € übersteigenden Betrags abgewiesen worden ist.
Im Umfang der Aufhebung wird die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsrechtszugs, an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen

Tatbestand

1
Die Klägerin nimmt das beklagte Land auf Entschädigung wegen überlanger Dauer familiengerichtlicher Verfahren in Anspruch.
2
Die Klägerin und ihr damaliger Lebensgefährte trennten sich im November 2011. Aus der Beziehung gingen die Kinder W.  , geboren am 10. Januar 2010, und N.   , geboren am 18. Juli 2012, hervor. Letztere wurde bereits am Tage nach ihrer Geburt aus dem Haushalt der Klägerin herausgenommen. Nach einem zeitweiligen Aufenthalt in einer Pflegefamilie leben beide Kinder seit Ende Mai 2013 im Haushalt ihres Vaters, der auch das alleinige Sorgerecht innehat.
3
Im Februar 2014 gestellte Anträge der Klägerin auf Erlass einer einstweiligen Anordnung zur Regelung des Umgangsrechts wies das Amtsgericht M.   – Familiengericht – mit Beschlüssen vom 28. April und 2. Mai 2014 rechtskräftig zurück. Daraufhin beantragte die Klägerin mit Schriftsatz vom 21. Mai 2014, das Umgangs- und Sorgerecht für die beiden Kinder im Hauptsacheverfahren zu regeln. In beiden Verfahren verhandelte das Familiengericht erstmals am 29. September 2014 mündlich zur Sache. Auf Grund einer Zwischenvereinbarung der Kindeseltern zum Umgangsrecht ruhten die Verfahren bis zu ihrer Wiederaufnahme am 23. Januar 2015. Nach Durchführung eines weiteren Anhörungstermins am 22. Juni 2015 ordnete das Familiengericht mit Beschluss vom 13. Juli 2015 die Einholung eines Sachverständigengutachtens zur Frage der Ausgestaltung des Umgangsrechts an. In der Folgezeit wurden die zunächst vorgesehene Sachverständige auf Antrag der Klägerin ausgewechselt und sowohl die zweite Sachverständige als auch die zuständige Richterin von der Klägerin wegen Besorgnis der Befangenheit erfolgreich abgelehnt. Mit Beschluss vom 23. November 2016 bestellte die nunmehr zuständige Familienrichterin die Diplompsychologin S.   zur Sachverständigen, die mit Schreiben vom 30. November 2016 mitteilte, dass sie auf Grund ihrer Arbeitslage erst im Mai 2017 mit der Erstellung des Gutachtens beginnen könne und dieses voraussichtlich im September 2017 abschließen werde. Entgegen der Bitte der Klägerin beließ es das Familiengericht bei der Bestellung der Sachverständigen. Diese legte ihr Gutachten am 5. Februar 2018 vor.
4
Mit Schriftsatz vom 12. September 2017 rügte die Klägerin sowohl im Umgangs- als auch im Sorgerechtsverfahren gegenüber dem Familiengericht gemäß § 155b FamFG die Nichtbeachtung des Vorrang- und Beschleunigungsgebots nach § 155 FamFG. Mit Beschlüssen vom 9. Oktober 2017 wies das Familiengericht die Beschleunigungsrügen zurück. Dagegen legte die Klägerin mit Schriftsatz vom 26. Oktober 2017 jeweils Beschleunigungsbeschwerde nach § 155c FamFG ein. Mit Beschlüssen vom 24. November 2017 stellte das Oberlandesgericht Koblenz fest, dass die bisherige Verfahrensführung nicht ausreichend dem Vorrang- und Beschleunigungsgebot des § 155 Abs. 1 FamFG entspreche.
5
Ebenfalls unter dem 12. September 2017 beantragte die Klägerin beim Familiengericht den Erlass einer einstweiligen Anordnung zur vorläufigen Regelung des Umgangsrechts, da eine im Februar 2017 getroffene einstweilige Regelung, die acht begleitete Umgangskontakte mit den Kindern von jeweils einer Stunde zum Gegenstand hatte, im September 2017 endete. Auf die Beschleunigungsbeschwerde der Klägerin stellte das Oberlandesgericht Koblenz mit Beschluss vom 22. Mai 2018 die unzureichende Beachtung des Vorrang- und Beschleunigungsgebots nach § 155 Abs. 1 FamFG fest, woraufhin das Familiengericht den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Verfügung mit Beschluss vom 29. Mai 2018 zurückwies.
6
Nach Anhörung der Kinder am 25. Juni 2018 entschied das Familiengericht mit Beschlüssen vom 11. und 12. Juli 2018 abschließend über das Umgangs- und Sorgerecht (u.a. zweiwöchige begleitete Umgänge der Klägerin mit ihren Kindern). Dagegen legte die Klägerin jeweils Beschwerde ein. Das Oberlandesgericht Koblenz weitete daraufhin durch einstweilige Anordnung das Umgangsrecht der Klägerin ab dem 29. Januar 2019 zeitlich aus und gestattete ihr darüber hinaus einen monatlichen unbegleiteten Umgang zunächst mit ihrem Sohn und später probeweise mit ihrer Tochter.
7
Die Klägerin hat geltend gemacht, bei angemessener Beschleunigung hätten das Umgangs- und Sorgerechtsverfahren binnen eines halben Jahres abgeschlossen werden können. Tatsächlich habe das amtsgerichtliche Verfahren jedoch fast viereinhalb Jahre (von Februar 2014 bis Juli 2018) gedauert. Unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (Hinweis auf EGMR, NJW 2015, 1433 – Kuppinger II/Deutschland) und des verfassungsrechtlich verankerten Justizgewährungsanspruchs sei hinsichtlich des immateriellen Schadens ein Entschädigungsbetrag von mindestens 15.000 € gerechtfertigt (Klageantrag zu 1). Darüber hinaus hat sie Freistellung von Rechtsanwaltskosten sowie die Feststellung begehrt, dass sämtliche ihr seit 2014 auferlegten Gerichtskosten von dem Beklagten zu tragen seien (Klageanträge zu 2 und 3).
8
Das beklagte Land hat unter Zugrundelegung des gesetzlichen Regelsatzes (§ 198 Abs. 2 Satz 3 GVG) eine Entschädigung für immaterielle Nachteile in Höhe von 3.700 € bei Annahme einer Verzögerung von insgesamt 37 Monaten in den beiden Hauptsacheverfahren zum Umgangs- und Sorgerecht sowie in dem Verfahren der einstweiligen Anordnung anerkannt.
9
Das Oberlandesgericht hat das beklagte Land dem Anerkenntnis gemäß durch Teilanerkenntnisurteil zur Zahlung einer Entschädigung für immaterielle Nachteile von 3.700 € nebst Zinsen verurteilt. Im Übrigen hat es die Klage abgewiesen. Auf die Beschwerde der Klägerin gegen die Nichtzulassung der Revision hat der Senat unter Zurückweisung der weitergehenden Beschwerde die Revision zugelassen, soweit der Klageantrag zu 1 bei einer festgestellten Verfahrensverzögerung von insgesamt 37 Monaten in Höhe einer den Regelbetrag (§ 198 Abs. 2 Satz 3 GVG) übersteigenden Entschädigung für immaterielle Nachteile abgewiesen worden ist. Mit ihrer Revision verfolgt die Klägerin den auf Zahlung einer angemessenen Entschädigung für immaterielle Nachteile von mindestens 15.000 € gerichteten Klageantrag zu 1 weiter.


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