Arbeitsrecht

III ZR 27/20

Aktenzeichen  III ZR 27/20

Datum:
11.3.2021
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
BGH
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:BGH:2021:110321UIIIZR27.20.0
Normen:
§ 839 Abs 1 BGB
§ 14 SGB 1
§ 262 SGB 6
Spruchkörper:
3. Zivilsenat

Leitsatz

Zu den Anforderungen an die Beratungspflicht des Trägers der gesetzlichen Rentenversicherung gemäß § 14 SGB I hinsichtlich der Anrechnung von Mindestentgeltpunkten bei geringem Arbeitsentgelt nach § 262 SGB VI (Fortführung des Senatsurteils vom 2. August 2018 – III ZR 466/16, VersR 2019, 28).

Verfahrensgang

vorgehend OLG Koblenz, 6. Februar 2020, Az: 1 U 1274/19vorgehend LG Koblenz, 4. Juli 2019, Az: 1 O 292/18

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des 1. Zivilsenats des Oberlandesgerichts Koblenz vom 6. Februar 2020 aufgehoben.
Die Sache wird zur neuen Verhandlung und Entscheidung, auch über die Kosten des Revisionsrechtszugs, an das Berufungsgericht zurückverwiesen.
Von Rechts wegen

Tatbestand

1
Die am 13. Dezember 1950 geborene Klägerin, die schwerbehindert ist, nimmt die Beklagte als Trägerin der gesetzlichen Rentenversicherung unter dem Gesichtspunkt der Amtshaftung (§ 839 Abs. 1 Satz 1 BGB i.V.m. Art. 34 Satz 1 GG) wegen fehlerhafter Beratung auf Schadensersatz in Anspruch.
2
Mit Rentenauskunft vom 23. Januar 2014, in der Pflichtbeiträge der Klägerin bis einschließlich 31. Dezember 2013 Berücksichtigung fanden, wurden zu ihren Gunsten bei Berechnung der voraussichtlichen Regelaltersrente 30,8691 Entgeltpunkte für 482 Monate Beitragszeiten ermittelt, wobei auf alle vollwertigen Pflichtbeitragszeiten 26,3299 Entgeltpunkte für 437 Monate entfielen. Da mindestens 35 Jahre mit rentenrechtlichen Zeiten vorhanden waren und sich aus den Kalendermonaten mit vollwertigen Pflichtbeiträgen ein Durchschnittswert von weniger als 0,0625 Entgeltpunkten ergab (26,3299 : 437 = 0,0603), berücksichtigte die Beklagte gemäß § 262 SGB VI zusätzliche 3,5405 Entgeltpunkte (fiktive Mindestentgeltpunkte bei geringem Arbeitsentgelt). Im Gesamtergebnis legte die Beklagte 32,7946 persönliche Entgeltpunkte zugrunde (30,8691 Punkte für Beitragszeiten + 0,7074 Punkte für beitragsfreie Zeiten + 1,4721 zusätzliche Punkte für beitragsgeminderte Zeiten abzüglich 0,2540 Punkte Abschlag aus einem durchgeführten Versorgungsausgleich). Die ermittelte Regelaltersrente belief sich auf 922,84 €, “wenn der Berechnung ausschließlich die bisher gespeicherten rentenrechtlichen Zeiten sowie der bis zum 30.06.2014 maßgebende aktuelle Rentenwert zugrunde gelegt werden”. Des Weiteren enthielt die Rentenauskunft folgenden Hinweis:
“Sollten für Sie bis zum Erreichen der Regelaltersgrenze [12. April 2016] Beiträge wie im Durchschnitt der letzten fünf Kalenderjahre gezahlt werden, bekämen Sie ohne Berücksichtigung von Rentenanpassungen von uns eine monatliche Regelaltersrente von 985,45 EUR.”
3
Im Hinblick auf diese Rentenauskunft nahm die Klägerin am 30. April 2014 einen persönlichen Beratungstermin bei der Beklagten wahr. Deren Berater erstellte eine schriftliche “Unverbindliche Probeberechnung”, wobei er auf der Basis der Rentenauskunft vom 23. Januar 2014 unter Berücksichtigung eines Rentenbeginns am 1. Juli 2014 und weiterer Beschäftigungszeiten bis zum 30. Juni 2014 eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen in Höhe von 934,79 € errechnete. In der Probeberechnung wurde darauf hingewiesen, dass sie nicht verbindlich ist und Änderungen in der Mindestbewertung und/oder der Gesamtleistungsbewertung nicht berücksichtigt sind.
4
Auf den Antrag der Klägerin vom 15. Juli 2014 bewilligte die Beklagte ab dem 1. Dezember 2014 eine abschlagfreie Altersrente für schwerbehinderte Menschen in Höhe von monatlich 886,96 €. Hierbei legte die Beklagte nur noch 29,1085 Entgeltpunkte für Beitragszeiten bei insgesamt 31,0018 persönlichen Entgeltpunkten zugrunde. Zusätzliche (fiktive) Entgeltpunkte gemäß § 262 SGB VI wurden nicht (mehr) ermittelt, da die Kalendermonate mit vollwertigen Pflichtbeiträgen den Durchschnittswert von 0,0625 Entgeltpunkten erreichten (28,1869 Entgeltpunkte : 451 Monate). Die Klägerin legte hiergegen form- und fristgerecht Widerspruch ein. Mit Bescheid vom 13. Januar 2015 berechnete die Beklagte die Rentenhöhe neu und errechnete nach Wegfall eines bisherigen Abschlags für einen durchgeführten Versorgungsausgleich eine monatliche Rentenhöhe von 894,23 €. Den Widerspruch der Klägerin wies sie zurück. Die daraufhin von der Klägerin vor dem Sozialgericht mit dem Ziel, ab 1. Dezember 2014 eine höhere Altersrente für schwerbehinderte Menschen zu erhalten, erhobene Klage wurde rechtskräftig mit der Begründung abgewiesen, die gewährte Altersrente entspreche den tatsächlich erzielten Entgeltpunkten. Die Voraussetzungen für eine Anrechnung zusätzlicher (fiktiver) Entgeltpunkte nach § 262 SGB VI seien durch den weiteren Versorgungsausgleich, die Verdoppelung der anzurechnenden Kindererziehungszeiten auf 24 Kalendermonate zum 1. Juli 2014 (Gesetz über Leistungsverbesserungen in der gesetzlichen Rentenversicherung – RV-Leistungsverbesserungsgesetz, BGBl. I S. 787, sog. “Mütterrente”) und den zusätzlich erzielten Verdienst bis einschließlich 30. November 2014 entfallen.
5
Die Klägerin hat geltend gemacht, für die Beklagte habe ein konkreter Anlass bestanden, sie über die Besonderheiten bei der Mindestbewertung von Pflichtbeitragszeiten nach § 262 SGB VI aufzuklären. Die Beklagte hätte insbesondere darauf hinweisen müssen, dass ein Weiterarbeiten bis zum 30. November 2014 (um noch in den Genuss des Weihnachtsgeldes zu kommen) dazu führen könnte, dass die Privilegierung des § 262 SGB VI wegfalle. Bei Beantragung einer Rente zum 1. Juli 2014 hätte sie entsprechend der Auskunft vom 30. April 2014 eine Brutto-Rente von 934,79 € erhalten. Durch die Weiterarbeit und das Hinausschieben des Rentenbeginns auf den 1. Dezember 2014 habe sie einen Schaden durch Erhalt einer geringeren Rente erlitten. Sie verlangt deshalb unter anderem Zahlung von 2.008,40 € sowie von monatlich 45,41 € ab 1. November 2018 (insoweit nebst Feststellung der Anpassungsverpflichtung bei Änderung des maßgeblichen Rentenwertes).
6
Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin hat das Oberlandesgericht zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihre Klageanträge weiter.

Entscheidungsgründe

7
Die zulässige Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisung der Sache an die Vorinstanz.
I.
8
Das Oberlandesgericht hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt:
9
Der Klägerin stehe kein Anspruch aus Amtshaftung nach § 839 BGB in Verbindung mit Art. 34 GG auf Grund der behaupteten Pflichtverletzung im Rahmen der Beratung über ihre Rentenansprüche zu. Die Weiterarbeit der Klägerin bis zum Zeitpunkt des Renteneintritts am 1. Dezember 2014 habe (im Zusammenwirken mit dem weiteren Versorgungsausgleich und den zusätzlichen Entgeltpunkten durch die “Mütterrente”) dazu geführt, dass die Härtefallregelung des § 262 SGB VI nicht mehr zu ihren Gunsten anwendbar gewesen sei. Auf diesen Umstand habe die Beklagte jedoch nicht hinweisen müssen. In der vorliegenden Situation hätten sich im Rahmen des § 262 SGB VI zwei Beratungsmöglichkeiten für die Beklagte ergeben, die zu einem höheren Rentenanspruch der Klägerin hätten führen können. Dazu sei die Beklagte allerdings nicht verpflichtet gewesen. Die Beklagte hätte durch verschiedene Modellrechnungen versuchen können, den genauen Zeitpunkt für den kritischen Monatsdurchschnitt von 0,0625 Entgeltpunkten zu bestimmen. Dies sei ihr aber zum damaligen Zeitpunkt weder möglich noch zumutbar gewesen. Weder am 23. Januar noch am 30. April 2014 hätten der zu berücksichtigende Versorgungsausgleich, die weiteren Entgeltpunkte im Rahmen der noch gesetzlich einzuführenden “Mütterrente” und der genaue zusätzliche Verdienst der Klägerin bis zum 30. November 2014 festgestanden. Die Beklagte habe auch nicht auf eine Optimierungsproblematik hinsichtlich der Anwendung der Vorschrift des § 262 SGB VI hinweisen müssen. Zum einen habe die Klägerin die Möglichkeit gehabt, die Bedeutung dieser Vorschrift selbst zu erfassen. Die Rentenauskunft vom 23. Januar 2014 enthalte dazu ein eigenes Kapitel. Durch das Studium des darin enthaltenen Zahlenwerks hätte die Klägerin selbst erkennen können, dass sie mit den errechneten Zahlen für die jeweiligen Zeitpunkte knapp unter dem maßgeblichen Durchschnittswert liege und daher die Gefahr bestehe, bei weiteren höheren Verdiensten dieser Grenze immer näher zu kommen und sie zu überschreiten. Zum anderen hätte eine entsprechende Beratung über die Regelung des § 262 SGB VI dem Willen des Gesetzgebers widersprochen. Es bestehe keine Pflicht des Trägers der Rentenversicherung auf die Möglichkeiten einer vom Gesetz nicht gewollten Rechtsgestaltung hinzuweisen. Die Regelung gelte nicht für Personen, die im Laufe ihres Berufslebens den Durchschnittswert erreichen oder übersteigen. Es sollten besondere Härten ausgeglichen, nicht aber ein besonderes Gestaltungselement zur Erzielung eines möglichst hohen Rentenbetrags gewährt werden. Eine Beratung dahingehend, früher aus dem Erwerbsleben auszuscheiden, um dadurch – bei Anwendung der Mindestentgeltpunkteregelung bei dann noch geringerem Arbeitsentgelt – eine höhere Rente zu erhalten, würde dem Rechtsgedanken des § 262 SGB VI zuwiderlaufen und den Interessen der Versichertengemeinschaft widersprechen. Letztlich stehe der Klägerin auch kein Anspruch auf die geltend gemachten Rentenzahlungen aus den Berechnungen vom 23. Januar und 30. April 2014 zu. Ihr sei die Unverbindlichkeit der Rentenauskünfte bekannt gewesen. Sie habe auch nicht vorgetragen, dass die Mitarbeiter der Beklagten eine verbindliche Zusage erklärt hätten.
II.
10
Diese Ausführungen halten der rechtlichen Überprüfung nicht stand.
11
Entgegen der Auffassung der Vorinstanzen hat die Beklagte die ihr gemäß § 14 SGB I obliegende Pflicht zur Beratung und somit eine drittbezogene Amtspflicht im Sinne des § 839 Abs. 1 Satz 1 BGB verletzt. Sie hätte die Klägerin bei dem Beratungsgespräch am 30. April 2014, jedenfalls spätestens im Zusammenhang mit dem Rentenantrag vom 15. Juli 2014 darauf hinweisen müssen, dass in der zweiten Jahreshälfte 2014 erzieltes Arbeitseinkommen sich rentenschädlich auswirke, wenn dadurch der Durchschnittswert von 0,0625 Entgeltpunkten nach § 262 Abs. 1 Satz 1 SGB VI erreicht werde. In diesem Fall kam die Anrechnung der bislang berücksichtigten zusätzlichen 3,5405 Entgeltpunkte nicht mehr in Betracht, und die Rente fiel trotz Zahlung weiterer Beiträge geringer als nach den Berechnungen in der Rentenauskunft und der Probeberechnung aus. Bei ordnungsgemäßer Beratung hätte die Klägerin die Altersrente unter Verzicht auf den sich negativ auswirkenden Hinzuverdienst zu einem früheren Zeitpunkt beantragen können.
12
1. Eine umfassende Beratung des Versicherten ist die Grundlage für das Funktionieren des immer komplizierter werdenden sozialen Leistungssystems (Senatsurteil vom 2. August 2018 – III ZR 466/16, VersR 2019, 28 Rn. 15; BeckOGK/Dörr, BGB, § 839 Rn. 185 [Stand: 1. Februar 2021]; Öndül in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB I, 3. Aufl., § 14 Rn. 44.1 [Stand: 16. Dezember 2019]). Dadurch soll sichergestellt werden, dass die nach dem Sozialgesetzbuch bestehenden sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden (§ 2 Abs. 2 Halbsatz 2 SGB I). Dementsprechend gewährt § 14 Satz 1 SGB I jedem Bürger einen subjektiven Anspruch auf umfassende Beratung über die ihn betreffenden Fragen im Zusammenhang mit der Inanspruchnahme sozialer Rechte oder der Erfüllung sozialrechtlicher Pflichten (Öndül in jurisPK aaO Rn. 13, 15, 44). Nach § 17 Abs. 1 Nr. 1 SGB I hat der gemäß § 14 Satz 2 SGB I zuständige Leistungsträger darauf hinzuwirken, dass jeder Berechtigte die ihm zustehenden Sozialleistungen in zeitgemäßer Weise, umfassend und zügig erhält. Im Vordergrund steht dabei die aufmerksame Prüfung durch den Sachbearbeiter, ob über die Beantwortung konkreter Fragen oder abgegrenzter Bitten hinaus Anlass besteht, auf (naheliegende) Gestaltungsmöglichkeiten beziehungsweise Vor- oder Nachteile, die sich mit dem Anliegen verbinden, hinzuweisen (Senat aaO). Insbesondere muss vermieden werden, dass der einen Antrag stellende oder vorsprechende Bürger, der – wie im Sozialrecht häufig – seine Lage in tatsächlicher oder rechtlicher Hinsicht erkennbar nicht richtig zu beurteilen vermag, Schäden erleidet, die der Leistungsträger durch einen kurzen Hinweis, eine Belehrung mit wenigen Worten oder eine entsprechende Aufklärung über die Sach- und Rechtslage ohne weiteres zu vermeiden in der Lage ist (Senat aaO Rn. 14; siehe auch Senatsurteile vom 7. Dezember 1995 – III ZR 141/94, NVwZ 1996, 512, 514; vom 9. Oktober 2003 – III ZR 414/02, NVwZ 2004, 638, 639; vom 3. März 2005 – III ZR 186/04, NVwZ-RR 2006, 634 und vom 20. April 2017 – III ZR 470/16, NVwZ-RR 2017, 608 Rn. 42). Der Bürger muss befähigt werden, von ihm offenstehenden Entscheidungsspielräumen sachgerecht Gebrauch zu machen (vgl. Öndül in jurisPK aaO Rn. 16). Für die Frage, ob eine Auskunft oder Beratung den an sie zu stellenden Anforderungen genügt, kommt es entscheidend auf die Erkenntnismöglichkeit des Empfängers an. Maßgebend ist, wie sie von ihm aufgefasst wird und werden kann und welche Vorstellungen zu erwecken sie geeignet ist (BeckOGK/Dörr aaO Rn. 184).
13
2. Nach diesen Maßgaben hätte die Beklagte die Klägerin im Rahmen der persönlichen Beratung am 30. April 2014, jedenfalls spätestens im Zusammenhang mit dem Rentenantrag vom 15. Juli 2014 darauf hinweisen müssen, dass die der Rentenauskunft und der Probeberechnung zugrunde liegenden, die Altersrente erhöhenden (fiktiven) Mindestentgeltpunkte bei geringem Arbeitsentgelt (§ 262 SGB VI) durch die Erzielung von weiterem Arbeitseinkommen (auf dem bisherigen Niveau) in Wegfall geraten konnten, weil durch den Hinzuerwerb weiterer Entgeltpunkte die Höchstgrenze für die Anrechnung von Mindestentgeltpunkten überschritten zu werden drohte. Die Klägerin war insoweit auch aufklärungsbedürftig, weil sie auf der Grundlage der bisherigen Berechnungen davon ausgehen durfte, dass ein Hinzuverdienst (bis 30. November 2014) zu zusätzlichen Beitragszeiten und damit zu einer Rentensteigerung führen wird. Sie hätte daher über den geradezu paradoxen Effekt aufgeklärt werden müssen, dass weiteres Arbeitseinkommen insbesondere in der zweiten Jahreshälfte 2014 sich rentenschädlich auswirken konnte.
14
a) § 262 Abs. 1 Satz 1 SGB VI schreibt als Sondervorschrift zu § 70 SGB VI vor, dass eine (fiktive) Erhöhung der Entgeltpunkte erfolgt, wenn mindestens 35 Jahre mit rentenrechtlichen Zeiten vorhanden sind (was vorliegend unproblematisch ist) und sich aus den Kalendermonaten mit vollwertigen Pflichtbeiträgen ein Durchschnittswert von weniger als 0,0625 Entgeltpunkten ergibt. Sinn der Vorschrift ist es, die Minderung erzielter Arbeitsverdienste in der Erwerbs-biografie – insbesondere auf Grund von Teilzeitbeschäftigung, Beschäftigung in unteren Lohngruppen oder beruflicher Unterbrechungen wegen Kindererziehung – durch die “Anhebung” der Entgeltpunkte zu kompensieren (LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 27. März 2015 – L 14 R 122/15, juris Rn. 25; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 5. Dezember 2019 – L 17 R 662/16, juris Rn. 21; Dankelmann in Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VI, 2. Aufl., § 262 Rn. 15 [Stand: 13. Oktober 2020]). Die Gemeinschaft der Beitragszahler soll ausgleichend dafür einstehen, dass bei langjährig Versicherten eine hinreichende Rente auch dann entsteht, wenn eine sehr geringe Lohnhöhe dies an sich nicht ergeben würde (BayLSG, Urteil vom 13. Oktober 2016 – L 19 R 786/15, juris Rn. 23). Dabei entspricht der Wert von 0,0625 Entgeltpunkten 75 Prozent des Durchschnittseinkommens. Durch die Festlegung einer festen Grenze hat der Gesetzgeber seinen Willen zum Ausdruck gebracht, nur solche Renten zu privilegieren, die unter einem durchschnittlichen Wert von 0,0625 Entgeltpunkten liegen. Bei Überschreiten dieser Grenze bleibt insgesamt kein Raum für die Anwendung der Vorschrift. Mangels planwidriger Regelungslücke scheidet auch eine Analogie aus. Unerheblich ist, wann im Rahmen eines Erwerbslebens derart höhere Einkünfte erzielt werden. Maßgeblich ist allein, dass bei der notwendig anzustellenden Gesamtbetrachtung der Wert von 0,0625 Entgeltpunkten erreicht beziehungsweise überschritten wird (LSG Nordrhein-Westfallen aaO Rn. 25 f; LSG Berlin-Brandenburg aaO Rn. 21 f; siehe auch Begründung zum Entwurf eines Gesetzes zur Reform der gesetzlichen Rentenversicherung – Rentenreformgesetz 1992, BT-Drucks. 11/4124, S. 201). Es ist daher möglich, dass die Voraussetzungen einer die Altersrente erhöhenden Privilegierung nach § 262 SGB VI zwar im Zeitpunkt einer Rentenauskunft nach § 109 SGB VI erfüllt sind, aber durch spätere Einkünfte, die erst zum Ende eines Berufslebens erzielt werden, wieder entfallen mit der Folge, dass trotz Erwerbs zusätzlicher Entgeltpunkte durch die Entrichtung von Beiträgen die Altersrente rechnerisch geringer wird. Dies ist ein mit der Sonderregelung des § 262 SGB VI verbundener Effekt, den der durchschnittlich gebildete Versicherte, wenn er nicht darauf hingewiesen wird (z.B. in der Rentenauskunft oder bei einer persönlichen Beratung), regelmäßig nicht im Blick hat und deshalb entsprechende Dispositionen (z.B. einen früheren Rentenbeginn) unterlässt. So liegt der Fall hier. Demgegenüber muss dieser Effekt den in der Rentenberatung tätigen Bediensteten der Beklagten geläufig sein.
15
b) Im Zeitpunkt der Rentenauskunft vom 23. Januar 2014 betrug der Durchschnittswert aus allen vollwertigen Pflichtbeitragszeiten der Klägerin 0,0603 Entgeltpunkte und lag damit unterhalb der Höchstgrenze (“weniger als 0,0625 Entgeltpunkte”). Dies sowie die Berechnung der 3,5405 zusätzlichen Entgeltpunkte konnte die Klägerin der Anlage 3 der Rentenauskunft entnehmen. Es war für sie jedoch nicht erkennbar, dass zukünftiger Hinzuverdienst im Jahr 2014 sich rentenschädlich auswirken konnte. Durch den Hinweis in der Rentenauskunft, dass sich die Regelaltersrente durch die Zahlung von Beiträgen wie im Durchschnitt der letzten fünf Kalenderjahre von 922,84 € auf 985,46 € erhöhen würde, wurde der Klägerin vielmehr der Eindruck vermittelt, dass die zusätzlichen Entgeltpunkte nach § 262 SGB VI auch zukünftig der Rentenberechnung zugrunde zu legen sind und von einem stetigen Ansteigen der Rente auszugehen ist. Dies hat das Berufungsgericht verkannt, wenn es meint, die Klägerin hätte den möglichen Verlust der Privilegierung nach § 262 SGB VI durch bloßes Studium der in der Rentenauskunft enthaltenen Berechnungen selbst erkennen können.
16
c) Es kommt hinzu, dass der persönliche Beratungstermin am 30. April 2014 nicht nur dazu diente, eine weitere Rentenberechnung durchzuführen, sondern auch abklären sollte, wie sich ein Hinzuverdienst im Jahr 2014 auf die Rentenhöhe auswirkte, wobei die Klägerin, wie ihr im Nachgang zu der Beratung gestellter Rentenantrag vom 15. Juli 2014 zeigte, bis zum 30. November 2014 weiterarbeiten wollte, um noch in den Genuss des Weihnachtsgeldes zu kommen. Der von der Beklagten in diesem Zusammenhang erstellten Probeberechnung (zum 1. Juli 2014) lagen die Berechnungen der Rentenauskunft vom 23. Januar 2014, also auch die Privilegierung nach § 262 SGB VI, zugrunde. Die Beklagte kam dabei unter Annahme einer Weiterbeschäftigung bis zum 30. Juni 2014 zu einer Rentensteigerung auf 934,79 €, ohne dass die Klägerin auf die aus Sicht eines Rentenberaters naheliegende Gefahr hingewiesen wurde, dass bei einem (noch) späteren Rentenbeginn (z.B. zum 1. Dezember 2014) die durch Hinzuverdienst erworbenen Entgeltpunkte (ggf. in Verbindung mit der Verdoppelung der anzurechnenden Kindererziehungszeiten auf 24 Kalendermonate durch das RV-Leistungsverbesserungsgesetz vom 23. Juni 2014) dazu führen konnten, dass die Anspruchsvoraussetzungen für die Berücksichtigung zusätzlicher Entgeltpunkte nach § 262 SGB VI zum Zeitpunkt des Rentenbeginns – anders als in der Rentenauskunft – nicht mehr gegeben waren. Entgegen der Auffassung des Berufungsgerichts musste die Beklagte für die Erteilung eines solchen Warnhinweises keine umfangreichen Vergleichsberechnungen auf unsicherer Grundlage anstellen.
17
Ein entsprechender Hinweis hätte jedenfalls spätestens gegeben werden müssen, als die Klägerin unter dem 15. Juli 2014 eine Altersrente für schwerbehinderte Menschen zum 1. Dezember 2014 beantragte und feststand, dass rentenversicherungspflichtiges Arbeitseinkommen und damit weitere, die Privilegierung nach § 262 SGB VI gefährdende Entgeltpunkte bis zum 30. November 2014 zu berücksichtigen waren. Vor dieser Entwicklung durfte die zu einer umfassenden Beratung verpflichtete Beklagte die Augen nicht verschließen. Ein Amtsträger darf nicht “sehenden Auges” zulassen, dass der einen Antrag stellende Bürger möglicherweise Schäden erleidet, die – wie im vorliegenden Fall – durch einen rechtzeitigen Hinweis auf die Sach- und Rechtslage ohne weiteres hätten vermieden werden können (vgl. Senatsurteil vom 2. August 2018 – III ZR 466/16, VersR 2019, 28 Rn. 14 mwN).
18
Entgegen der Ansicht des Berufungsgerichts hätte ein solcher Hinweis nicht dem Zweck des Gesetzes widersprochen. Das Gegenteil ist der Fall. Die komplizierte Beurteilung der Voraussetzungen für die Mindestentgeltpunkte bei geringem Arbeitsentgelt und der (möglicherweise) paradoxen rentenschädlichen Auswirkungen eines späteren Hinzuerwerbs von weiteren Entgeltpunkten auf Grund von künftigen Beitragszahlungen kann, wie ausgeführt, von einem durchschnittlichen Versicherten ohne diesbezügliche Hinweise des Trägers der Rentensicherung – sei es in der Rentenauskunft oder aus Anlass einer persönlichen Beratung – nicht sachgerecht erfasst werden. Ohne eine entsprechende Beratung kann der Versicherte die ihm zur Verfügung stehenden Entscheidungsspielräume (insbesondere Rentenbeginn) nicht sachgerecht wahrnehmen und keine Entscheidung treffen, die seiner individuellen Lebens-, Bedarfs- und Anspruchssituation am besten gerecht wird. Eben dies zu ermöglichen, ist aber Zweck von § 14 Satz 1 und § 17 Abs. 1 Nr. 1 SGB I (vgl. Öndül in jurisPK aaO § 14 Rn. 16). Die Inanspruchnahme von § 262 SGB VI stellt in der vorliegenden Fallgestaltung, dass der Durchschnittswert von 0,0625 Entgeltpunkten durch Fortsetzung der sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit über den früher möglichen Rentenbeginn hinaus noch erzielbar war, keinen Rechtsmissbrauch dar. Zwar kann dies, wie im vorliegenden Fall, zum Nachteil der Versichertengemeinschaft dazu führen, dass eine höhere Rente zu leisten ist, obgleich der Berechtigte weniger Beiträge entrichtet hat. Dies ist jedoch im Gesetz selbst angelegt (vgl. LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 27. März 2015 aaO Rn. 25; BayLSG, Urteil vom 13. Oktober 2016 aaO Rn. 23; LSG Berlin-Brandenburg, Urteil vom 5. Dezember 2019 aaO Rn. 21), so dass es dem Versicherten nicht anzulasten ist, wenn er seine Entscheidung über den Zeitpunkt seines Rentenbeginns an dieser Gestaltungsmöglichkeit ausrichtet.
19
3. Ein Verschulden der Mitarbeiter der Beklagten im Sinne des § 839 Abs. 1 Satz 1 BGB ist nicht deshalb ausgeschlossen, weil sowohl das Landgericht als auch das Oberlandesgericht jeweils als Kollegialgericht eine Amtspflichtverletzung verneint haben.
20
a) Nach der Rechtsprechung des Senats trifft den Amtsträger zwar in der Regel kein Verschulden, wenn ein mit mehreren Berufsrichtern besetztes Kollegialgericht die Amtstätigkeit als objektiv rechtmäßig angesehen hat. Diese sogenannte Kollegialgerichts-Richtlinie beruht auf der Erwägung, dass von einem Beamten eine bessere Rechtseinsicht als von einem mit mehreren Rechtskundigen besetzten Kollegialgericht regelmäßig nicht erwartet und verlangt werden kann (z.B. Senatsurteile vom 2. August 2018 – III ZR 466/16, VersR 2019, 28 Rn. 24 und vom 9. Juli 2020 – III ZR 245/18, VersR 2020, 1185 Rn. 17; jeweils mwN). Eine Verneinung des Verschuldens ist allerdings nur in denjenigen Fällen gerechtfertigt, in denen das Kollegialgericht die Rechtmäßigkeit der Amtstätigkeit nach sorgfältiger Prüfung bejaht hat. Die Richtlinie greift daher nicht ein, wenn die Annahme des Kollegialgerichts, die Amtshandlung sei rechtmäßig gewesen, auf einer unzureichenden tatsächlichen oder rechtlichen Beurteilungsgrundlage beruht. Das ist etwa dann der Fall, wenn das Gericht infolge unzureichender Tatsachenfeststellung von einem anderen Sachverhalt als dem, vor den der Beamte gestellt war, ausgegangen ist, wenn es den festgestellten Sachverhalt nicht sorgfältig und erschöpfend gewürdigt hat, etwa für die Beurteilung des Falles wesentliche Gesichtspunkte unberücksichtigt gelassen hat, wenn es sich bereits in seinem Ausgangspunkt von einer rechtlich oder sachlich verfehlten Betrachtungsweise nicht hat freimachen können oder eine gesetzliche Bestimmung “handgreiflich falsch” ausgelegt hat (Senat aaO).
21
b) Im vorliegenden Fall haben die Vorinstanzen den Inhalt der Rentenauskunft vom 23. Januar 2014 nur unvollständig erfasst, indem sie übersehen haben, dass der dort enthaltene Hinweis auf eine Steigerung der Regelaltersrente von 922,84 € auf 985,46 € bei Zahlung von Beiträgen wie im Durchschnitt der letzten fünf Kalenderjahre ohne nähere Erläuterungen geeignet war, die Klägerin hinsichtlich der Anrechnung von Mindestentgeltpunkten bei geringem Arbeitsentgelt nach § 262 SGB VI in die Irre zu führen. Dieser Effekt wurde noch dadurch verstärkt, dass das Zahlenwerk und die Berechnungen aus der Rentenauskunft auch der Probeberechnung vom 30. April 2014 unverändert zugrunde gelegt wurden, ohne dass der Rentenberater auf die Regelung zu den Mindestentgeltpunkten einging.
22
Die Vorinstanzen haben darüber hinaus die im Sozialrecht bestehenden besonderen Beratungs- und Belehrungspflichten nur unzureichend erfasst, indem sie unzutreffend davon ausgegangen sind, dass der Zweck der Privilegierung gemäß § 262 SGB VI der Annahme eines Beratungsfehlers entgegenstehe (siehe oben Nr. 2 c a.E.).
23
4. Das Berufungsgericht hat – von seinem Rechtsstandpunkt aus folgerichtig – keine Feststellungen zur Höhe des ab 1. Dezember 2014 geltend gemachten Rentenschadens getroffen, so dass im Revisionsverfahren zugunsten der Klägerin davon auszugehen ist, dass der Amtshaftungsanspruch daran nicht scheitert. Entgegen der Auffassung der Beklagten hat die Klägerin den behaupteten Schaden schlüssig dargetan, indem sie die am 30. April 2014 im Rahmen des Beratungstermins ermittelte monatliche Rentenhöhe von 934,79 € ab dem 1. Juli 2014 ihrer Schadensberechnung als Mindestbetrag zugrunde gelegt hat. Anders als die Beklagte meint, wäre bei einem Rentenbeginn am 1. Juli 2014 die Höchstgrenze des § 262 Abs. 1 Satz 1 SGB VI noch nicht erreicht worden. Dem Rentenbescheid vom 1. Dezember 2014 lässt sich nämlich entnehmen, dass sich erst bei Berücksichtigung der Pflichtbeitragszeiten bis einschließlich 30. November 2014 ein Durchschnitt von 0,0625 Entgeltpunkten ergibt.
24
Allerdings wird bei einer etwaigen Schadensberechnung zu berücksichtigen sein, dass die Klägerin durch den späteren Rentenbeginn (1. Dezember 2014 statt 1. Juli 2014) weiteres Arbeitseinkommen (einschließlich Weihnachtsgeld) erzielt hat, das gegebenenfalls, soweit es die zum 1. Juli 2014 zu berechnende Altersrente übersteigt, im Wege der Vorteilsausgleichung anzurechnen sein kann.
III.
25
Das angefochtene Urteil ist demnach aufzuheben (§ 562 Abs. 1 ZPO) und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, weil sie noch nicht zur Endentscheidung reif ist (§ 563 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 3 ZPO).
Herrmann     
        
Remmert     
        
Reiter
        
Kessen      
        
Herr      
        


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