Arbeitsrecht

Kein Anspruch auf eine Altersrente für besonders langjährig Versicherte

Aktenzeichen  L 19 R 696/15

Datum:
15.3.2017
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
LSG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB VI SGB VI § 34 Abs. 4 Nr. 3, § 51 Abs. 3a S. 1 Nr. 3a
GG GG Art. 3 Abs. 1, Art. 14

 

Leitsatz

1 § 51 Abs. 3a SGB VI ist verfassungskonform; im Rahmen einer verfassungskonformen Auslegung sind die Rückausnahmegründe nicht zu erweitern.  (redaktioneller Leitsatz)
2 Durch die Nichtberücksichtigung der Zeiten des Bezuges von Entgeltersatzleistungen der Arbeitsförderung in den letzten zwei Jahren vor Rentenbeginn sollen Fehlanreize zu einer dem Renteneintritt vorgeschalteten Arbeitslosigkeit bzw. eine verkappte Frühverrentung vermieden werden.  (redaktioneller Leitsatz)

Verfahrensgang

S 4 R 80/15 2015-07-24 Urt SGNUERNBERG SG Nürnberg

Tenor

I.
Die Berufung der Klägerin gegen das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 24.07.2015 wird zurückgewiesen.
II.
Außergerichtliche Kosten sind nicht zu erstatten.
III.
Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

Die form- und fristgerecht eingelegte Berufung (§§ 143, 144, 151 SGG) ist zulässig, aber nicht begründet. Das Sozialgericht Nürnberg hat zu Recht entschieden, dass die Klägerin keinen Anspruch auf eine Altersrente für besonders langjährig Versicherte hat.
In der erstinstanzlichen Entscheidung nicht problematisiert worden ist, dass die Klägerin seit Oktober 2014 eine Altersrente für Frauen erhält. Insofern hätte ein Ausschlussgrund nach § 34 Abs. 4 Nr. 3 SGB VI vorliegen können, wonach ein Wechsel in eine andere Rente wegen Alters nach bindender Bewilligung einer Rente wegen Alters oder für Zeiten des Bezugs einer solchen Rente ausgeschlossen ist. Dadurch dass hier die Bewilligung der einen Altersrente (für Frauen) und das Versagen der anderen (für besonders langjährig Versicherte) in einem gemeinsamen Bescheid erfolgt ist und dieser angefochten und Gegenstand des hier anhängigen Berufungsrechtsstreits ist, liegt eine bindende Bewilligung bisher eindeutig (noch) nicht vor.
Zwar würde auch bereits die Erfüllung der zweiten Alternative als Ausschlussgrund genügen und der Bezug einer Altersrente für Frauen besteht seit Oktober 2014. Dies ist im Übrigen auch unabhängig von der Frage einer tatsächlichen Zahlung (Text und Erläuterungen zum SGB VI, Hrsg. DRV Bund, 17. Aufl. 2013, § 34, 4.1). Ebenso kommt es nicht darauf an, ob eine Rente Abschläge hat und die andere nicht. Eine denkbare Lesart der Norm dahingehend, dass nur eine Abänderung für die Vergangenheit ausgeschlossen wäre, ab dem Zeitpunkt der Beendigung des Bezugs d.h. für die Zukunft, der Wechsel aber offen wäre, würde klar dem Gesetzeszweck zuwiderlaufen. Dagegen ist es im vorliegenden Fall bedeutsam, dass ein solcher Wechsel dann nicht ausgeschlossen ist, wenn die andere Rente vor oder zumindest zum gleichen Zeitpunkt wie die gewährte beginnen würde (Gürtner in: Kasseler Kommentar, Stand 12/2016, § 34 SGB VI, Rn 52; Text und Erläuterungen a.a.O.). Der Senat sieht wegen des im vorliegenden Fall möglichen gleichzeitigen Beginns den Wechsel nicht als ausgeschlossen an.
Die Klägerin hat unstreitig ab Rentenbeginn die Voraussetzungen für eine Altersrente für Frauen erfüllt und diese Rente ist auch zutreffend – unter Berücksichtigung von Abschlägen für einen vorzeitigen Beginn – der Höhe nach berechnet worden. Eine abschlagsfreie Rentenzahlung ab Oktober 2014 ist im Fall der Klägerin – d.h. unter den dort bestehenden Faktoren – nicht möglich.
Eine Rentenzahlung ohne Abschläge wäre zwar bei einer Altersrente für besonders langjährig Versicherte möglich, jedoch erfüllt die Klägerin nach dem eindeutigen Wortlaut der gesetzlichen Regelungen die Voraussetzungen hierfür nicht.
Nach § 236 b SGB VI, der ab 01.07.2014 in Kraft getreten ist und damit auf den von der Klägerin gewünschten Rentenbeginn anzuwenden ist, haben Versicherte, die vor dem 01. Januar 1964 geboren sind, Anspruch auf Altersrente für besonders langjährig Versicherte, wenn sie
1. das 63. Lebensjahr vollendet und
2. die Wartezeit von 45 Jahren erfüllt haben.
Die Klägerin hat zum 27.07.2014 und damit vor dem beantragten Rentenbeginn das 63. Lebensjahr vollendet und ist auch deutlich vor dem 01.01.1964 geboren.
Die Beklagte ist jedoch zutreffend zum Ergebnis gekommen, dass die Klägerin die Wartezeit von 45 Jahren nach der insoweit klaren gesetzlichen Regelung nicht erfüllt hat.
Auf die Wartezeit von 45 Jahren werden nach § 51 Abs. 3a SGB VI Kalendermonate angerechnet
– mit Pflichtbeiträgen für eine versicherte Beschäftigung oder Tätigkeit,
– mit Berücksichtigungszeiten,
– mit Zeiten des Bezugs von Leistungen bei Krankheit und von Übergangsgeld.
Unter besonderen Einschränkungen werden weiter
– Zeiten des Bezugs von Entgeltersatzleistungen der Arbeitsförderung (§ 51 Abs. 3 a Satz 1 Nr. 3 a SGB VI) und
– Kalendermonate mit freiwilligen Beiträgen angerechnet. Dabei werden gemäß § 51 Abs. 3a Satz 1 Nr. 3 2. Halbs. SGB VI Zeiten nach Nr. 3 Buchst. a in den letzten zwei Jahren vor Rentenbeginn nicht berücksichtigt, es sei denn, der Bezug von Entgeltersatzleistungen der Arbeitsförderung ist durch eine Insolvenz oder vollständige Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers bedingt.
Die Beklagte hat zutreffend ermittelt, dass die Klägerin 525 Monate aufzuweisen hat, die von dieser Vorschrift erfasst sind. Die Klägerin hat in den letzten zwei Jahren vor Rentenbeginn Pflichtbeitragszeiten aufgrund von Leistungen der Agentur für Arbeit aufzuweisen gehabt. Die Arbeitslosigkeit der Klägerin war dabei weder auf eine Insolvenz, noch eine vollständige Geschäftsaufgabe des Arbeitgebers zurückzuführen gewesen. Deshalb bleiben nach der gesetzlichen Bestimmung die Pflichtbeiträge für die Zeit vom 01.10.2012 bis 30.09.2014 für die Berechnung der Wartezeit von 45 Jahren unberücksichtigt.
Der Senat ist auch nicht zum Ergebnis gekommen, dass die gesetzliche Regelung des § 51 Abs. 3a SGB VI insgesamt verfassungswidrig ist oder im Rahmen einer verfassungskonformen Auslegung zumindest die Rückausnahmegründe erweitert werden müssten. Der Senat schließt sich insofern der Argumentation des LSG Baden-Württemberg in seinem Urteil vom 21.06.2016 (Az. L 9 R 695/16 – nach juris) an.
Ein Verstoß gegen Art. 14 GG ist nicht gegeben: Die Klägerin erhält aus den im Rahmen des Bezuges von Entgeltersatzleistungen abgeführten Beiträgen eine Gegenleistung, weil diese Zeiten bei der Berechnung der Rentenhöhe ohne Einschränkung berücksichtigt werden.
Der Senat sieht auch nicht auf Grund von Art. 3 GG ein anderes Ergebnis als geboten an. Nach dem allgemeinen Gleichheitssatz ist wesentlich Gleiches gleich und wesentlich Ungleiches ungleich zu behandeln. Dabei werden nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes Unterschiede von solcher Art und solchem Gewicht verlangt, dass sie die ungleiche Behandlung rechtfertigen.
Der Fall der Klägerin mit einem von ihr veranlassten – wenn auch aus ihrer Sicht begründeten und schuldlos herbeigeführten – Verlust des Arbeitsplatzes und dem damit ausgelösten Eintritt von Leistungen wegen Arbeitslosigkeit ist nicht weitgehend vergleichbar mit einem unabänderlichen generellen Wegfall des Arbeitsplatzes. Insofern stellt sich die Frage einer erweiternden verfassungskonformen Auslegung des § 51 Abs. 3a SGB VI allenfalls für zwar nicht explizit genannte Fälle neben Insolvenz und vollständiger Geschäftsaufgabe, die ebenfalls den generellen Wegfall des Arbeitsplatzes ohne jede – auch nur theoretische – Umsetzungsmöglichkeit betreffen (vgl. insoweit die im anhängigen Revisionsverfahren BSG B 5 R 8/16 R, zuvor LSG Niedersachsen, L 2 R 517/15, thematisierte Problematik der Kündigung zur Abwendung einer Insolvenz). Die beiden Ausnahmetatbestände betreffen Fälle, in denen der Ausscheidungsgrund vom Arbeitnehmer nicht beeinflusst werden kann, und stellen objektiv zwingende Umstände dar, bei denen keinerlei Handlungsspielraum seitens des Arbeitgebers und des Arbeitnehmers besteht, da sämtliche Arbeitsverhältnisse aufgelöst werden. Ein derartiger Fall liegt hier klar nicht vor. Im Fall der Klägerin wäre etwa durch Maßnahmen einer zeitweisen Verkürzung des Arbeitsweges – etwa durch Zweitwohnung oder Dienstwohnung – jederzeit eine Fortsetzung der Erwerbstätigkeit denkbar gewesen. Eine verfassungsrechtliche Ungleichbehandlung gegenüber der Personengruppe, die das Ausscheiden aus dem Arbeitsverhältnis nicht beeinflussen kann, kann somit nicht erkannt werden.
Art. 3 GG ist daneben aber auch im Hinblick auf die Frage des zeitlichen Rahmens für die Anwendung der Ausnahmeregelung von Bedeutung. Der Senat folgt nicht der Auffassung der Klägerseite, dass es ohne Belang zu bleiben hat, wann im Erwerbsleben Zeiten der Arbeitslosigkeit auftreten, d.h. dass entweder generell die Beiträge aus Leistungen für Arbeitslosigkeit bei der Berechnung der Wartezeit zu berücksichtigen sind oder eben generell nicht, wenn man sie als nachrangig gegenüber Pflichtbeiträgen aus Beschäftigung einordnet. Der Gesetzgeber durfte aus Sicht des Senates eine Zeit vor dem zu erwartenden und tatsächlich erfolgten Rentenbeginn festlegen, in denen dieser bevorstehende Rentenbeginn bei der Frage des Umgangs mit der weiteren Gestaltung des Erwerbslebens eine besondere Bedeutung gewinnt.
Zutreffend hat bereits das Sozialgericht darauf hingewiesen, dass durch die Nichtberücksichtigung der Zeiten des Bezuges von Entgeltersatzleistungen der Arbeitsförderung in den letzten zwei Jahren vor Rentenbeginn Fehlanreize zu einer dem Renteneintritt vorgeschalteten Arbeitslosigkeit bzw. eine verkappte Frühverrentung vermieden werden sollen (BT-Drs. 18/1489 S. 26). Die getroffene gesetzliche Regelung ist dafür geeignet und angemessen. Der betroffene Arbeitnehmer wird dazu angehalten, alles von seiner Seite Mögliche zu tun, dass kein Ausscheiden aus dem Erwerbsleben vor dem vorgesehenen Rentenbeginn erfolgt.
Zwar ist die Annahme eines Zeitraums von zwei Jahren nicht zwingend: Es hätte durchaus auch ein etwas kürzerer oder geringfügig längerer Zeitraum gewählt werden können. Der Zeitraum ist hinsichtlich der Länge jedoch durchaus stimmig: ein deutlich längerer hätte zu viele Unwägbarkeiten bis zu Renteneintritt offen gelassen, ein deutlich kürzerer wäre von seinem Wirkzweck – dem Verhindern von missbräuchlicher Herbeiführung von Arbeitslosigkeit – zu schwach. Insofern wohnt der jetzt getroffenen Festlegung nur soviel Willkürlichkeit inne, wie sie mit jeder Festlegung eines Stichtages zwangsläufig verbunden ist.
Hinzu kommt, dass die Schaffung einer Altersrente für besonders langjährige Versicherte, die einen abschlagsfreien Altersrentenbezug schon zu einem früheren Zeitpunkt als nach der bisherigen Gesetzeslage ermöglicht, eine Besserstellung einführt, für die ein weiter gesetzgeberischer Gestaltungsspielraum gilt (vgl. z.B. BVerfG, Nichtannahmebeschl. v. 09.11.2011, Az. 1 BvR 1853/11 – nach juris). Dieser ist gerichtlich nicht überprüfbar, solange es sich um eine vertretbare und nachvollziehbare Regelung handelt. Verfassungsrechtlich nicht geboten ist die Schaffung der besten Regelung oder der Regelung mit der höchsten Einzelfallgerechtigkeit.
Entgegen der Ansicht der Klägerin setzt die hier geschaffene Regelung auch nicht unmittelbar an der Feststellung eines Rechtsmissbrauchs oder einer inakzeptablen Motivation an, weil dies im Zuge einer Massenverwaltung gar nicht mit der notwendigen Klarheit feststellbar wäre. Auch dies ist eine bei der Schaffung einer gesetzlichen Regelung zulässige Überlegung des Gesetzgebers.
Nach alledem sieht der Senat keinen Anlass dafür, dass die Regelung des § 236 b SGB VI im Fall der Klägerin unter Anwendung eines vom klaren Gesetzeswortlaut abweichenden Inhalts des § 51 Abs. 3a Satz 1 Nr. 3 2. Halbs. SGB VI zur Anwendung zu kommen hätte. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf die beantragte abschlagsfreie Altersrente.
Dementsprechend sind die angefochtenen Bescheide der Beklagten und das Urteil des Sozialgerichts Nürnberg vom 24.07.2015 nicht zu beanstanden und die Berufung war zurückzuweisen.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.
Gründe, die Revision gemäß § 160 Abs. 2 Nrn. 1 u. 2 SGG zuzulassen, liegen nicht vor.


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