Arbeitsrecht

Keine Bedarfsgemeinschaft trotz späterer Aufnahme einer Partnerschaft

Aktenzeichen  S 8 AS 2502/19

Datum:
18.5.2021
Rechtsgebiet:
Fundstelle:
BeckRS – 2021, 15773
Gerichtsart:
SG
Gerichtsort:
München
Rechtsweg:
Sozialgerichtsbarkeit
Normen:
SGB II § 7 Abs. 3 Nr. 3c

 

Leitsatz

1. Für die Annahme einer Bedarfsgemeinschaft muss neben den beiden objektiven Komponenten des Bestehens einer Partnerschaft und des Zusammenlebens in einem gemeinsamen Haushalt, deren Vorhandensein von Amts wegen festzustellen ist, auch der subjektive wechselseitige Einstehens- und Verantwortungswille vorhanden sein.  (Rn. 23 – 25) (redaktioneller Leitsatz)
2. Nur die subjektive Komponente ist Gegenstand der widerleglichen Vermutung in § 7 Abs. 3a SGB II. (Rn. 25) (redaktioneller Leitsatz)
3. Es existiert keine Vermutungsregelung, aus einem Zusammenleben oder aus einem zu einem bestimmten Zeitpunkt bestehenden objektiven Partnerschaft auf einen früheren Partnerschaftsbeginn zu schließen. (Rn. 27) (redaktioneller Leitsatz)
4. Spricht das Gesamtbild für das Bestehen einer Einstands- und Verantwortungsgemeinschaft, liegt es am Hilfebedürftigen, diese Annahme zu widerlegen.  (Rn. 31) (redaktioneller Leitsatz)

Tenor

I. Der Ablehnungsbescheid vom 01.08.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 11.11.2019 wird aufgehoben, und der Beklagte wird verurteilt, der Klägerin SGB II-Leistungen in gesetzlicher Höhe für die Zeit vom 01.07.2019 bis 29.02.2020 ohne Zugrundelegung einer Bedarfsgemeinschaft mit Frau C. zu gewähren.
II. Der Beklagte trägt die notwendigen außergerichtlichen Kosten.

Gründe

Die Klage ist zulässig und begründet.
Das Urteil konnte als Grundurteil ergehen, da vorliegend allein die Frage, ob und wenn ja ab wann die Klägerin und die Zeugin eine Bedarfsgemeinschaft im Sinne des § 7 Abs. 3 SGB II bildeten, streitig ist.
Streitgegenstand ist der Anspruch der Klägerin auf SGB II-Leistungen im Zeitraum 01.07.2019 bis 29.02.2020 (Ablehnungsbescheid vom 01.08.2019 in Gestalt des Widerspruchsbescheids vom 11.11.2019). Für die Zeit ab dem 01.03.2020 erging nach erneutem Weiterbewilligungsantrag ein neuer Ablehnungsbescheid (Gegenstand des Verfahrens S 8 AS 1338/20), sodass der Streitzeitraum im vorliegenden Verfahren S 8 AS 2502/19 auf den Zeitraum bis einschließlich 29.02.2020 begrenzt ist. Ansprüche der Töchter der Klägerin (die beide im Verfahren S 8 AS 2502/19 nicht geklagt haben und deren Bedarf auch aus Unterhalt(svorschuss) und Kindergeld gedeckt ist) sind ebensowenig Gegenstand des vorliegenden Verfahrens S 8 AS 2502/19 wie Ansprüche der Zeugin oder deren Tochter.
Die Klage ist form- und fristgerecht erhoben und auch im Übrigen zulässig.
Die Klage ist auch begründet, da die Klägerin und die Zeugin im streitgegenständlichen Zeitraum 01.07.2019 bis 29.02.2020 zwar (seit Mitte Juni 2019) ein Paar waren, jedoch keine Bedarfsgemeinschaft im Sinne des § 7 Abs. 3 Nr. 3c) SGB II bildeten.
Zur Bedarfsgemeinschaft gehört nach § 7 Abs. 3 Nr. 3c) SGB II als Partnerin oder Partner der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten eine Person, die mit der erwerbsfähigen leistungsberechtigten Person in einem gemeinsamen Haushalt so zusammenlebt, dass nach verständiger Würdigung der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen. Nach § 7 Abs. 3a SGB II wird ein wechselseitiger Wille, Verantwortung füreinander zu tragen und füreinander einzustehen, vermutet, wenn Partner
1.länger als ein Jahr zusammenleben,
2.mit einem gemeinsamen Kind zusammenleben,
3.Kinder oder Angehörige im Haushalt versorgen oder
4.befugt sind, über Einkommen oder Vermögen des anderen zu verfügen.
Das Bundessozialgericht (BSG v. 23.08.2012 – B 4 AS 34/12 R – BSGE 111, 250; BSG v. 12.10.2016 – B 4 AS 60/15 R – juris Rn. 24 f. – SozR 4-4200 § 7 Nr. 51; vgl. auch BSG v. 27.02.2008 – B 14 AS 23/07 R – juris Rn. 15 f.) hat dabei hat drei Komponenten hervorgehoben, ohne deren kumulatives Vorliegen nicht von einer Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft ausgegangen werden könne. Dies sind:
– Bestehen einer Partnerschaft,
– Zusammenleben in einem gemeinsamen Haushalt,
– Wechselseitiger Einstehens- und Verantwortungswille.
Bei den ersten beiden Komponenten handelt es sich um objektive Kriterien, bei der dritten um ein subjektives, da sie auf den inneren Willen der vermuteten Partner abhebt.
Die objektiven Komponenten sind von Amts wegen festzustellen. Die subjektive Komponente – und nur sie – ist Gegenstand der widerleglichen Vermutung in § 7 Abs. 3a SGB II (JurisPK, Stand Mai 2020 (Werksfassung), § 7 SGB II, Rz. 221).
Erste objektive Voraussetzung ist das Bestehen einer Partnerschaft. Eine Partnerschaft zwischen der Klägerin und der Zeugin bestand nach der eingehenden getrennten Einvernahme sowohl der Klägerin als auch der Zeugin in der mündlichen Verhandlung am 18.05.2021 erst seit Mitte Juni 2019 und damit erst ca. 1 Jahr nach dem Einzug der Klägerin bei der Zeugin. Die Klägerin und die Zeugin haben glaubhaft und in nicht gleicher Erzählstruktur sowie mit unterschiedlicher narrativer Schwerpunktsetzung geschildert, wie aus einer zunächst freundschaftlichen Beziehung erst nach ca. einem Jahr des Zusammenlebens eine partnerschaftliche Beziehung geworden sei. Der Zusammenzug im Juni 2018 wurde glaubhaft vor dem Hintergrund der Scheidung der Zeugin, der über den Kontakt im Kindergarten entstandenen Freundschaft und dem Auszug des erwachsenen Sohnes als Win-win-Situation zweier Frauen mit Kindern zur (freundschaftlichen) gemeinsamen Gründung einer Wohngemeinschaft geschildert. Die angegebenen Gründe für das Gründen einer Wohngemeinschaft sind mehr als plausibel: Die Zeugin hatte eine zu große Wohnung, die jedoch nur über ein Bad und eine Küche verfügte und damit den Einzug einer sympathischen bzw. befreundeten Person als eine sehr viel sinnvollere Variante als den Einzug einer unbekannten Person zur Untermieter*in erscheinen ließ. Und die Klägerin konnte Hilfe erlangen durch eine befreundete Mutter mit Kind (mit zusätzlich auch noch beruflichem Hintergrund in der Kindererziehung) für das Angehen einer Ausbildung, die sie ohne entsprechende in einer Wohngemeinschaft oft auch einfach mitlaufende und nicht immer extra zu organisierende Kinder„betreuung“ kaum hätte realisieren können. Die Zeugin und die Klägerin haben in der mündlichen Verhandlung jeweils glaubhaft und unter jeweils verschiedenem Blickwinkeln geschildert, wie im Laufe des Frühjahrs 2019 eine emotionale Annäherung stattgefunden habe, die jedoch zunächst von keiner der beiden angesprochen worden sei. Denn die Klägerin sei sich unsicher gewesen, ob die Zeugin überhaupt eine Beziehung mit einer Frau eingehen wollen würde, da die Zeugin ja 20 Jahre mit einem Mann verheiratet gewesen sei. Die Zeugin wiederum hat glaubhaft geschildert, dass sie sich sehr unsicher gewesen sei, ob sie eine Beziehung zu einer Frau eingehen wolle. Dass ihr dies vor dem Hintergrund ihrer Arbeit in einem katholischen Kindergarten besondere Sorgen bereitete und erst Mitte Juni 2019 zu einem Zulassen der Beziehung führte, ist angesichts der Handhabung gleichgeschlechtlicher Beziehungen durch katholische konfessionsgebundene Arbeitgeber mehr als glaubhaft. Auch haben die Klägerin und die Zeugin unabhängig voneinander die zunächst nach Einzug der Klägerin bestehende Wohnungsaufteilung (1 Zimmer für die Klägerin, 1 Zimmer gemeinsam für deren beide Kinder, 1 Zimmer für die Tochter der Zeugin, 1 Zimmer für Bett der Zeugin, davon abgetrennt Sofaecke und Fernseher) geschildert und ebenso die ab Juni 2019 bestehende Aufteilung (Auszug der Klägerin aus dem zuvor ihr zustehenden Zimmer und gemeinsame Nutzung des Schlafbereichs der Zeugin, jeweils 1 Zimmer für jede ihrer Töchter). Insbesondere hat die Klägerin auf Nachfragen der Vorsitzenden, was mit ihrem Bett nach dem Umräumen passiert sei, angegeben, sie habe in ihrem Zimmer gar kein Bett gehabt, sondern auf Paletten mit Matratzen darauf geschlafen. Auf Nachfrage der Vorsitzenden, wo die Klägerin bis zum Umräumen geschlafen habe, hat die Zeugin erklärt: „Die Klägerin hat bis dahin in dem kleinen Zimmer geschlafen.“ Auf Nachfrage der Vorsitzenden, was die Klägerin für ein Bett gehabt habe, hat die Zeugin erklärt: „Sie hatte ein Palettenbett.“ Es steht aufgrund der Aussagen der Klägerin und der Zeugin zur Überzeugung der Kammer fest, dass die Partnerschaft erst ab Mitte Juni 2019 und nicht bereits bei Einzug am 01.08.2018 bestand.
Entgegen den Ausführungen des Beklagten kann auch weder aus dem Nichtangeben der Partnerschaft im Weiterbewilligungsantrag vom 04.07.2019 noch aus einer (hinsichtlich des objektiven Kriteriums „Partnerschaft gar nicht bestehenden) Vermutungsregel geschlossen werden, dass eine Partnerschaft bereits vor Mitte Juni 2019 oder gar bereits bei Einzug bestand. Dass die Partnerschaft im Weiterbewilligungsantrag vom 04.07.2019 nicht angegeben wurde, ist eine falsche Angabe, die nicht hätte erfolgen dürfen. Dass eine tatsächlich erst Mitte Juni 2019 entstandene Partnerschaft wahrheitswidrig Anfang Juli 2019 nicht angegeben wird, führt jedoch nicht dazu, dass diese bereits seit Juni 2018 besteht. Eine Partnerschaft ist eine objektive conditio sine qua non (notwendige Bedingung) für eine Bedarfsgemeinschaft (s.o.). Ihr Vorliegen muss objektiv festgestellt werden. Dies ist durch das Gericht mit Beginn ab Juni 2019 geschehen. Es bestehen keine objektiven Anhaltspunkte für eine zuvor bestehende Partnerschaft. Selbst wenn man entgegen der Überzeugung des Gerichts von einer Unsicherheit bezüglich des Bestehens einer Partnerschaft vor Juni 2019 ausgehen würde, so ginge eine solche Unsicherheit nach objektiven Beweislastregeln zulasten des Beklagten. Eine wie auch immer geartete gesetzliche Vermutungsregelung, dass aus einem Zusammenleben oder einer zu einem bestimmten Zeitpunkt objektiv bestehenden Partnerschaft auf einen früheren Partnerschaftsbeginn geschlossen werden müsste oder dürfte, besteht hinsichtlich des objektiven Merkmals „Partnerschaft“ gerade nicht. Insbesondere die Vermutungsregelung in § 7 Abs. 3a SGB II betrifft allein das subjektive Tatbestandsmerkmal eines gegenseitigen Einstandswillens bei (objektiv gesichert vorliegender) Partnerschaft.
Die erste (objektive) Voraussetzung einer Bedarfsgemeinschaft – eine Partnerschaft – ist also erfüllt, jedoch erst für die Zeit ab Mitte Juni 2019.
Ob die Klägerin und die Zeugin im streitgegenständlichen Zeitraum 01.07.2019 bis 29.02.2020 in einem gemeinsamen Haushalt im Sinne des § 7 Abs. 3 Nr. 3c) SGB II zusammenlebten (2. objektives Kriterium einer Bedarfsgemeinschaft) kann letztlich dahinstehen. Der gemeinsame Haushalt im Sinne dieser Vorschrift setzt nicht nur (in der Regel) das Wohnen in einer gemeinsamen Wohnung voraus, sondern auch eine Wirtschaftsgemeinschaft (jurisPK, Stand Mai 2021 (Werksfassung), § 7 SGB II Rz. 223). Die Klägerin und die Zeugin wohnten zwar in einer gemeinsamen Wohnung. Eine Wirtschaftsgemeinschaft zwischen der Klägerin und der Zeugin dürfte (bis auf die allein aus der Ablehnung der SGB II-Leistungen resultierende zwangsläufige, von der Zeugin aber ausdrücklich und von Beginn an nicht gewollte Mitversorgung der Klägerin und ihrer Töchter, die bei der Beurteilung der Wirtschaftsgemeinschaft außer Betracht bleiben muss) nach Auffassung der Kammer eher nicht anzunehmen sein: Die Klägerin und die Zeugin haben in getrennten Vernehmungen geschildert, dass sie die wesentlichen Anteile der Einkäufe (bis auf die auch in Wohngemeinschaften üblicherweise oder doch oft gemeinsam angeschafften Grundlebensmittel, dazu Schumacher in: Oestreicher/Decker, SGB II/XII, SGB II, § 7 SGB II Rn. 18e; vgl. BSG v. 27.01.2009 – B 14 AS 6/08 R – SozR 4-4200 § 9 Nr. 6.) jeweils selbst besorgt und bezahlt haben. Zwar haben sie angegeben, auch gemeinsam gegessen zu haben. Dies ist jedoch auch in Wohngemeinschaften üblich und erst recht, wenn eine frische Partnerschaft vorliegt, auch wenn noch kein gegenseitiger Einstandswille vorliegt. Dies führt also noch nicht zum Annehmen einer Wirtschaftsgemeinschaft im Sinne eines „Wirtschaftens aus einem Topf“. Eine Vermutungsregel, wie sie für den subjektiven Einstandswillen in § 7 Abs. 3a SGB II gibt, greift für das objektive Merkmal des gemeinsamen Haushalts (inklusive eines „Wirtschaftens aus einem Topf“) gerade nicht. Letztlich kann dies jedoch dahinstehen.
Denn es fehlt für die Bejahung einer Bedarfsgemeinschaft im streitgegenständlichen Zeitraum 01.07.2019 bis 29.02.2020 ohnehin jedenfalls am dritten (subjektiven) Kriterium für eine Bedarfsgemeinschaft: dass nach verständiger Würdigung der Art des Zusammenlebens der wechselseitige Wille anzunehmen ist, Verantwortung zu tragen und füreinander einzustehen. Die Partner müssen sich so sehr füreinander verantwortlich fühlen, dass sie zunächst den gemeinsamen Lebensunterhalt sicherstellen, bevor sie ihr persönliches Einkommen zur Befriedigung eigener Bedürfnisse verwenden. Nicht damit gemeint ist lediglich die Bereitschaft, den Partner mit Lebensnotwendigem vorrangig vor der Inanspruchnahme steuerfinanzierter Sozialleistungen zu unterstützen. Unerheblich ist, ob tatsächlich die Möglichkeit besteht, für den anderen zu sorgen und in den Not- und Wechselfällen des Lebens tatsächlich Verantwortung zu übernehmen. Es reicht nach dem Gesetz die begründete Annahme, dass ein solcher Wille vorliegt. Da die Lebensweisen vielfältig sind, lassen sich abstrakte Kriterien für die Feststellung einer Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft nur schwer in Gesetzesform gießen. Die im Einzelfall maßgeblichen Umstände sind daher unter Zuhilfenahme von Hinweistatsachen festzustellen. Dessen bedarf es vielfach, da die Partner*innen einer Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft das Bestehen einer solchen oder eines ihrer Elemente häufig nicht von sich aus einräumen. In der Rechtspraxis hat sich eine Vielzahl von Indizien herauskristallisiert, denen bei der Prüfung des § 7 Abs. 3 Nr. 3c) SGB II Gewicht zuzumessen ist. Häufig wird es sich um Umstände handeln, die auch Gegenstand der gesetzlichen Vermutung in § 7 Abs. 3a SGB II sind. Das Vorliegen der dort genannten Umstände ist aber weder zwingend noch ausreichend für die Annahme einer Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft (jurisPK, Stand Mai 2021 (Werksfassung), § 7 SGB II, Rz. 225-226).
Indiztatsachen, aus denen auf den subjektiven Einstandswillen geschlossen werden kann, brauchen nicht sämtlich und auch nicht kumulativ vorzuliegen. Entscheidend ist vielmehr das Gesamtbild (BVerfG v. 05.05.2009 – 1 BvR 255/09 – juris Rn. 4 f. – NZS 2010, 29; Schumacher in: Oestreicher/Decker, SGB II/XII, SGB II, § 7 SGB II Rn. 20; Peters in: Estelmann, SGB II, § 7 SGB II Rn. 57; Jüttner in: Adolph, SGB II/XII/AsylbLG, SGB II, § 7 SGB II Rn. 80; Loose in: Hohm, SGB II, § 7 SGB II Rn. 108.1.). Leitbild bleibt – trotz der in der heutigen Gesellschaft sehr verschiedenartigen Lebensentwürfe von Paaren – das der nicht dauernd getrennten Ehegatten. Dabei wird davon ausgegangen, dass in einer (funktionierenden) Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft zunächst der Bedarf der Lebensgemeinschaft gedeckt wird und die Partner erst anschließend ihren eigenen Bedürfnissen nachkommen. Eine schematische Feststellung und Bewertung der Hinweistatsachen wird kaum zu realitätsgerechten Ergebnissen führen. Dies verlangt, die festgestellten Indizien sorgfältig für sich selbst und im Verhältnis zu allen anderen zu gewichten. (jurisPK, Stand Mai 2021 (Werksfassung), § 7 SGB II, Rz. 234). Spricht das Gesamtbild für das Bestehen einer Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft, so liegt es am Hilfebedürftigen, diese Annahme zu widerlegen. Dies stellt keine Beweislastumkehr dar, denn eine solche sieht das Gesetz nicht vor. Für die Widerlegung bedarf es aber eines substantiierten Vortrags. Bloßen entgegenstehenden Erklärungen, nicht füreinander einstehen zu wollen, obwohl dies objektiv so erkennbar ist, kommt keine maßgebliche Bedeutung zu (jurisPK, Stand Mai 2021 (Werksfassung), § 7 SGB II, Rz. 235).
§ 7 Abs. 3a SGB II stellt vier Kriterien auf, mithilfe derer die subjektive Komponente einer Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft, d.h. das Vorliegen eines Einstandswillens – nicht: einer Partnerschaft oder eines gemeinsamen Haushalts – vermutet wird:
Wenn die Partner seit mindestens einem Jahr zusammenleben (Nr. 1), über Einkommen und Vermögen des anderen Partners verfügen können (Nr. 4), gemeinsame Kinder haben (Nr. 2) oder gemeinsam Kinder bzw. Angehörige einer Person der Zusammenlebenden versorgen (Nr. 3).
Ein darüber hinausgehender Regelungsgehalt ist § 7 Abs. 3a SGB II nicht zuzumessen. Insbesondere handelt es sich nicht um eine Legaldefinition der Einstehens- und Verantwortungsgemeinschaft (jurisPK, Stand Mai 2021 (Werksfassung), § 7 SGB II, Rz. 239).
Die Vermutungsregelung entbindet Behörden und Gerichte nicht, entsprechend dem Untersuchungsgrundsatz zunächst das Vorliegen der Umstände, welche die deskriptiven Tatbestandsmerkmale des § 7 Abs. 3a SGB II ausfüllen, von Amts wegen zu ermitteln. Dabei bestimmt die Behörde bzw. das Gericht Art und Umfang der Ermittlungen, ohne an das Vorbringen oder die Beweisanträge der Beteiligten gebunden zu sein. Dabei sind auch die für die Beteiligten günstigen Umstände zu berücksichtigen (vgl. § 20 Abs. 2 SGB X). In Bezug auf § 7 Abs. 3a SGB II muss der Leistungsträger zunächst das Vorliegen mindestens eines der aufgeführten Kriterien nachweisen (jurisPK, Stand Mai 2021 (Werksfassung), § 7 SGB II, Rz. 240).
Vorliegend ist von den vier in § 7 Abs. 3a SGB II normierten Indiztatsachen, bei deren Vorliegen ein Einstandswillen (widerleglich) vermutet wird, keine erfüllt. Auch liegen vorliegend keine anderen Indizumstände vor, aus denen ein gegenseitiger Einstandswille gefolgert werden könnte. Der subjektive gegenseitige Einstandswille der Klägerin und der Zeugin im Zeitraum 01.07.2019 bis 29.02.2020 kam nach Überzeugung der Kammer keinesfalls dem Leitbild dessen gleich, wie dieser bei einem nicht dauernd getrennt lebenden Ehepaar gegeben ist, die erst im Juni 2019 eingegangene Beziehung dafür unter keinem Gesichtspunkt gefestigt genug war.
Der Vermutungstatbestand Nr. 1 in § 7 Abs. 3a SGB II (Zusammenleben von mehr als einem Jahr) ist vorliegend nicht erfüllt. § 7 Abs. 3a SGB II setzt schon nach seinem Wortlaut voraus, dass „Partner“ länger als ein Jahr zusammenleben. Es ist der Zeitraum, den das Gesetz Partnern zubilligt, um herauszufinden, ob man füreinander einstehen und Verantwortung übernehmen will, bevor dies (widerleglich) unterstellt wird (jurisPK, Stand Mai 2021 (Werksfassung), § 7 SGB II, Rz. 242). Bei Partnern, die kürzer als ein Jahr zusammenwohnen, können nur gewichtige Umstände die Annahme einer Verantwortungs- und Einstandsgemeinschaft begründen (LSG Niedersachsen-Bremen v. 08.07.2009 – L 7 AS 606/09 B ER – FEVS 61, 523; LSG Nordrhein-Westfalen v. 16.02.2009 – L 19 AS 70/08; LSG Nordrhein-Westfalen v. 04.07.2007 – L 19 B 56/07 AS ER – FEVS 59, 128; LSG Berlin-Brandenburg v. 18.01.2006 – L 5 B 1362/05 AS ER). Die Klägerin und die Zeugin sind erst im Juni 2019 als Paar zusammengekommen. Die Dauer von einem Jahr des Zusammenwohnens als Paar, ab der der (widerlegliche) Vermutungstatbestand in § 7 Abs. 3a SGB II für einen gegenseitigen Einstandswillen greifen würde, läuft also erst im Juni 2020 ab. Dass die Klägerin und die Zeugin bereits vor Beginn der Beziehung ein Jahr lang in der Form einer Wohngemeinschaft miteinander lebten, ändert nichts daran, dass der Vermutungstatbestand erst dann greift, wenn die Beteiligten sich ein Jahr lang als (zusammenlebendes) Paar haben ausprobieren können. Diese Frist war im streitgegenständlichen Zeitraum noch nicht abgelaufen. Der Vermutungstatbestand in § 7 Abs. 3a Nr. 1 SGB II für einen gegenseitigen Einstandswillen greift nicht.
Auch der (widerlegliche) Vermutungstatbestand für einen gegenseitigen Einstandswillen in § 7 Abs. 3a Nr. 2 SGB II (Zusammenleben mit einem gemeinsamen Kind) ist vorliegend ebenfalls nicht erfüllt.
Nach Überzeugung der Kammer ist auch der (widerlegliche) Vermutungstatbestand in § 7 Abs. 3a Nr. 3 (Versorgung von Kindern oder Angehörigen im Haushalt) nicht erfüllt. Gemeint ist damit nicht die Versorgung gemeinsamer Kinder, denn dies fällt unter § 7 Abs. 3a Nr. 2 SGB II. Vielmehr bezieht sich die Regelung auf Kinder der Partnerin. Die verwandtschaftliche Beziehung nur einer der Partnerinnen zu den versorgten Personen reicht somit aus (jurisPK, Stand Mai 2021 (Werksfassung) § 7 SGB II, Rz. 244). Bei der Auslegung des Tatbestandsmerkmals „Versorgung“ ist Augenmaß gefordert. Notwendig ist grundsätzlich, dass durch entsprechende Handlungen das Vertrauen und der wechselseitige Verantwortungswille zum Ausdruck kommen. Nach den getrennt vorgenommenen Vernehmungen der Klägerin und der Zeugin haben sie zwar – wie häufig auch in Wohngemeinschaften mit Kindern üblich – gemeinsam mit den Kindern gegessen, und sogar nur selten (wegen der Versorgung der Kinder mittags in Hort und Kindergarten) gemeinsam gekocht. Die Einkäufe wurden (bis zur Ablehnung der SGB II-Leistungen) bis auf das auch in Wohngemeinschaften übliche Maß getrennt, auch getrennt für die Kinder vorgenommen. Arztbesuche und andere Termine der Kinder wurden immer nur von der jeweiligen Mutter durchgeführt. Dass die Zeugin häufiger auch auf die Kinder der Klägerin ein Auge hatte, damit die Klägerin lernen konnte, war nicht Ausdruck eines gegenseitigen partnerschaftlichen Einstandswillens durch Versorgung der Kinder der jeweils anderen Partnerin, sondern bereits Gegenstand der freundschaftlichen Absprache beim Zusammenziehen. Nicht jede Form der solidarischen, aus freundschaftlicher Verbundenheit geplanter und organisierter Hilfsbereitschaft bei der Kinderbetreuung, um Arbeit und Ausbildung zu ermöglichen (die gerade unter alleinerziehenden Menschen vollkommen unabhängig von Partnerschaften und Wohnformen nicht nur absolut üblich, sondern geradezu conditio sine qua non für die Ausübung eines Berufes bzw. einer Ausbildung ist) bedeutet auch, dass daraus eine gegenseitige „Versorgung“ von Kindern im Sinne des § 7 Abs. 3a Nr. 3 SGB II zu folgern wäre.
Auch der 4. Vermutungstatbestand in § 7 Abs. 3a SGB II (gegenseitige Einkommens-/Vermögensverfügungsbefugnis) ist vorliegend nicht erfüllt. Die Klägerin und die Zeugin hatten keinerlei gegenseitige Kontovollmachten, einander begünstigende Lebensversicherungen o.ä. abgeschlossen. Dass die Klägerin im Rahmen des Weiterbewilligungsantrags vom Juli 2019 auch Kontounterlagen und Unterlagen zum Kfz der Zeugin vorlegte, bedeutet nicht, dass sie über diese Dinge hätte verfügen können, sondern nur, dass zwei Frauen vor dem Hintergrund entsprechender Anforderungen nicht „gemauert“, sondern offen und ehrlich dem Beklagten die von diesem ausdrücklich angeforderten Unterlagen vorgelegt haben. Dass die Zeugin der Klägerin die vom Beklagten geforderten Angaben und Unterlagen allein zum Zweck zur Verfügung gestellt hat, dass der SGB II-Antrag der Klägerin entschieden werden kann, bedeutet keinesfalls, dass die Klägerin selbst auch nur über die Unterlagen geschweige denn über das Konto oder das Eigentum am Auto oder sonstige Vermögenswerte hätte verfügen können.
Von den Vermutungstatbeständen in § 7 Abs. 3a SGB II ist damit keiner erfüllt. Weitere Hinweistatsachen, aus denen sich ein gegenseitiger Einstandswille ableiten ließe, sind nicht erkennbar. Im Gegenteil, die Beziehung war zu Beginn des hier streitigen Bewilligungszeitraums gerade erst wenige Wochen alt und befand sich – wie in der Regel bei sehr frischen Beziehungen und zusätzlich auch vor dem Hintergrund, dass es eine für die Zeugin neue Art der Partnerschaft war – nach den überzeugenden Ausführungen der Klägerin und der Zeugin zu den beidseitigen Unsicherheiten noch nicht in einem gesicherten Zustand. Auch wenn eine Ex-Post-Betrachtung nicht im engen rechtlichen Sinne zulässig ist, sei auch darauf hingewiesen, dass die Beziehung nach etwas mehr als einem Jahr auch tatsächlich scheiterte, u.a. auch gerade deshalb, weil eine eheähnliche Lebensgemeinschaft – seitens der Zeugin glaubhaft und überzeugend geschildert – nach einer 20jährigen Ehe gerade nicht gewollt war und die durch die Ablehnung der SGB II-Leistungen für die Klägerin durch den Beklagten erzwungene finanzielle Mitunterstützung der Klägerin und ihrer beiden Kindern sowie auch sonstige volle Verantwortungsübernahme für eine neuen Familie unter allen Aspekten durch die Zeugin in einer erst seit wenigen Wochen bestehenden Beziehung der Art der von der Klägerin und der Zeugin intendierten Beziehung gerade in keiner Weise entsprach.
Der Klägerin sind daher SGB II-Leistungen in gesetzlicher Höhe ohne Zugrundelegung einer Bedarfsgemeinschaft mit der Zeugin für die Zeit vom 01.07.2019 bis zum 29.02.2020 zu gewähren.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG und folgt der Entscheidung in der Sache.
Gegen dieses Urteil kann Berufung eingelegt werden; zu den Einzelheiten s. die Rechtsmittelbelehrung unten.


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