Arbeitsrecht

Keine direkte oder analoge Anwendung von § 9 BUrlG, wenn eine behördliche Quarantäneanordnung, aber keine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorliegt.(Anschluss an ArbG Halle, Urt. v. 23.6.2021, 4 Ca 285/21)

Aktenzeichen  2 Ca 338/22

Datum:
2.6.2022
Rechtsgebiet:
Gerichtsart:
ArbG Gera 2. Kammer
Dokumenttyp:
Urteil
ECLI:
ECLI:DE:ARBGERA:2022:0602.2CA338.22.00
Spruchkörper:
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Tenor

1. Die Klage wird abgewiesen.
2. Die Kosten des Rechtsstreits trägt die Klägerin.
3. Der Wert des Streitgegenstands wird auf 321,38 € festgesetzt.
4. Die Berufung wird zugelassen.

Tatbestand

Die Parteien streiten darum, ob der Klägerin innerhalb des bestehenden Arbeitsverhältnisses noch zwei Urlaubstage aus dem Jahr 2021 zustehen.
Die Klägerin ist bei der Beklagten seit dem 01. August 2017 als Mitarbeiterin Fertigung/Optik in der Vergütungsgruppe E6 mit einem Bruttoarbeitsentgelt von monatlich 3481,68 € beschäftigt. Auf das Arbeitsverhältnis finden die Tarifverträge der Elektro- und Metallindustrie in Thüringen unmittelbar Anwendung.
Die Klägerin war im Zeitraum vom 07.12.2021 bis zum 17.12.2021 arbeitsunfähig erkrankt, offensichtlich an COVID-19. Insoweit wurde durch ihren Hausarzt eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausgestellt. Am 10.12.2021 wurde gegenüber der Klägerin durch das Gesundheitsamt eine häusliche Quarantäne vom 07.12.2021 bis einschließlich 21.12.2021 angeordnet. Am 17.12.2021 konsultierte die Klägerin erneut ihren Hausarzt, der ihr keine weitere Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ausstellte, sondern mitteilte, eine solche sei vor dem Hintergrund der Quarantäneanordnung nicht nötig. Die Beklagte hatte der Klägerin bereits zuvor für die Tage 20.12.2021 und 21.12.2021 Urlaub bewilligt.
Die Klägerin meint, die Quarantäneanordnung mit Bescheid vom 10.12.2021 stelle eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung im Sinne des Gesetzes dar. Arbeitsunfähigkeit liege nach der Definition des SGB V auch dann vor, wenn aufgrund eines bestimmten Krankheitszustands der für sich allein noch keine Arbeitsunfähigkeit verursache, absehbar sei, dass aus der Ausübung der Tätigkeit für die Gesundheit oder Gesundung negative Folgen erwüchsen, die eine Arbeitsunfähigkeit unmittelbar hervorriefen. Jedenfalls habe sie aber ihren bewilligten Urlaub aufgrund der Quarantäneanordnung tatsächlich nicht antreten können.
Die Klägerin beantragt,
die Beklagte zu verurteilen, zwei Urlaubstage für 2021 auf das Urlaubsjahr 2022 zu übertragen und zu gewähren,
hilfsweise,
die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin zwei Tage Freistellung unter Fortzahlung der Vergütung nach dem Bundesurlaubsgesetz als Schadensersatz zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Beide Parteien haben in der Güteverhandlung vom 12.05.2022 vor Eintritt in die streitige Verhandlung übereinstimmend eine Alleinentscheidung durch den Vorsitzenden beantragt.
Wegen des Sachverhalts im Übrigen wird auf die Gerichtsakte und das Protokoll der Verhandlung vom 12.05.2022 ergänzend Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Entscheidung erfolgt gemäß § 55 Abs. 3 ArbGG auf übereinstimmenden Antrag beider Parteien hin durch den Vorsitzenden allein.
Die zulässige Klage ist nicht begründet.
Die Klägerin hat weder einen Anspruch auf Übertragung und Gewährung zweier Urlaubstage aus dem Jahr 2021 noch einen entsprechenden Anspruch auf Freistellung als Schadensersatz.
Die Beklagte hat der Klägerin für den 20.12.2021 und 21.12.2021 antragsgemäß bezahlten Erholungsurlaub gewährt. Damit hat die Beklagte den Urlaubsgewährungsanspruch auch im Hinblick auf diese Tage erfüllt, für die das zuständige Gesundheitsamt (später) eine häusliche Quarantäne der Klägerin angeordnet hat. Eine analoge Anwendung von § 9 BUrlG ist nicht möglich.
Erkrankt ein Arbeitnehmer während des Urlaubs, so werden ihm gemäß § 9 BUrlG die durch ärztliches Zeugnis nachgewiesenen Tage der Arbeitsunfähigkeit auf den Jahresurlaub nicht angerechnet. Im Ergebnis behält er also grundsätzlich seinen Urlaubsanspruch. Ohne diese gesetzliche Regelung würde der Arbeitnehmer seinen Urlaubsanspruch ersatzlos verlieren. Mit der Festlegung des Urlaubszeitraums und der vorbehaltlosen Gewährung des Urlaubs (einschließlich der Zusage der Zahlung des Urlaubsentgelts) wird der Arbeitgeber als Schuldner des Urlaubsanspruchs frei, weil er alles nach § 7 Abs. 1 BUrlG Erforderliche getan hat (§ 243 Abs. 2 BGB). Über diese Erfüllungshandlung hinaus schuldet der Arbeitgeber dem Arbeitnehmer keinen „Urlaubserfolg“. Alle danach eintretenden urlaubsstörenden Ereignisse fallen entsprechend § 275 Abs. 1 BGB als Teil des persönlichen Lebensrisikos in den Risikobereich des betreffenden Arbeitnehmers. Nur soweit der Gesetzgeber oder die Tarifvertragsparteien besondere Regelungen zur Nichtanrechnung von Urlaub treffen, findet eine Umverteilung dieses Risikos zugunsten des Arbeitnehmers statt (BAG, Urteil vom 25.08.2020 – 9 AZR 612/19 – juris, Rz. 29).
Im Streitfall kann die Klägerin ihren Anspruch nicht auf § 9 BUrlG stützen. Die Regelung ist nicht einschlägig, da bei der Klägerin während der Zeit des gewährten Urlaubs unstreitig keine Arbeitsunfähigkeit ärztlich festgestellt war, was § 9 BurlG ausdrücklich voraussetzt. Anders als die Klägerin meint, beinhaltet die behördliche Quarantäneanordnung eine solche Feststellung gerade nicht. Sie ergeht weder unmittelbar durch einen Arzt noch nimmt sie primär Bezug auf eine vorliegende, die Klägerin in ihrer Arbeitsfähigkeit beeinträchtigende Erkrankung. Vielmehr ist der Fokus dieser Anordnung die Verhinderung des Kontakts mit dritten Personen, die sich bei der Klägerin anstecken könnten – unabhängig davon, inwieweit die Klägerin selbst noch krankheitswertig beeinträchtigt ist.
Auch kommt eine analoge Anwendung der Regelung des § 9 BUrlG auf den vorliegenden Fall einer behördlich angeordneten Absonderung (häusliche Quarantäne) nicht in Betracht. Bei der Regelung des § 9 BUrlG handelt es sich um eine nicht verallgemeinerungsfähige Ausnahmevorschrift; eine entsprechende Anwendung auf andere urlaubsstörende Ereignisse oder Tatbestände, aus denen sich eine Beseitigung der Arbeitspflicht des Arbeitnehmers ergibt, kommt grundsätzlich nicht in Betracht (BAG, Urteil vom 09.08.1994 – 9 AZR 384/92 – juris, Rz. 33; BAG, Urteil vom 25.08.2020 – 9 AZR 612/19 – juris, Rz. 29; ErfK – Gallner, 21. Aufl., § 9 BUrlG Rz. 2; HWK – Schinz, 8. Aufl., § 9 BUrlG Rz. 9). Eine Analogie scheitert schon am Nichtvorliegen einer planwidrigen Regelungslücke. Der Gesetzgeber hat seit vielen Jahren in Kenntnis einiger vergleichbarer Sachverhalte (und in Kenntnis der dazu ergangenen Rechtsprechung) bewusst auf eine Änderung bzw. Erweiterung von § 9 BUrlG verzichtet. Gerade auch in jüngster Zeit wurden etliche Gesetze an die neue „Coronasituation“ angepasst, § 9 BUrlG wurde hingegen unverändert gelassen. Es ist insoweit von einer bewussten Entscheidung des Gesetzgebers gegen eine Ausweitung des § 9 BUrlG auszugehen (vgl. zur Frage der fehlenden planwidrigen Regelungslücke: Hein/Tophof, „Folgen einer Quarantäneanordnung während bewilligten Urlaubs“, NZA 2021, 601, 603; siehe auch ArbG Halle Urt. v. 23.6.2021 – 4 Ca 285/21, BeckRS 2021, 20254).
Die Kostenentscheidung folgt aus § 91 Abs. 1 ZPO in Verbindung mit § 46 Abs. 2 ArbGG. Die unterliegende Partei hat die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Die Streitwertfestsetzung beruht auf den §§ 61 Abs. 1 ArbGG, 3 ZPO.
Obwohl der Wert des Beschwerdegegenstandes somit die Summe von 600,00 € nicht übersteigt, war die Berufung gemäß § 64 Abs. 3 Ziffer 1 ArbGG für die Klägerin zuzulassen, weil die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat. Die betreffende Rechtsfrage ist höchstrichterlich bisher nicht entschieden.


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